• Noch einmal Aberglaube: „Der Dybbuk“ (1937) von Michal Waszynski. Das ist wiederum ein polnischer, vor allem aber ein jüdischer Film. Er gilt als herausragender Vertreter jüdischen Filmschaffens, und ich finde es bemerkenswert, daß er gerade mal zwei Jahre vor dem deutschen Einmarsch in Polen entstanden ist. Er zeigt also eine jüdische Welt, die bald darauf nicht mehr existiert hat. Gesprochen wird jiddisch; das ist zwar zur Hälfte deutsch, aber der Film mußte trotzdem deutsch untertitelt werden. Im ZDF gesendet wurde er damals zum 50. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Getto (19. April 1943).

    Der Film gibt wie „Yaaba“ Einblicke in eine völlig fremde Kultur. Nach meinem Empfinden ist diese jüdische Welt im ehemaligen Oberschlesien dadurch geprägt, daß strenger jüdischer Glaube und Aberglaube unentwirrbar miteinander verquickt sind. Bemerkenswert, daß dieser Film zur selben Zeit gedreht wurde, als gerade die klassische Universal-Gruselfilmwelle rollte. Es geht um einen besessenen Menschen, der exorziert wird. Im Gegensatz zu Hollywoodfilmen ist das Geschehen hier tief in der jüdischen Folkore verwurzelt, wobei mir unklar ist, ob es sich um Folklore im Sinne einer Idealisierung oder Romantisierung handelt oder ob Dinge gezeigt werden, das in jüdischen Kreisen wirklich vorkommen konnten.

    Die beiden engen Freunde Sender und Nissan (der heißt tatsächlich wie ein Auto) versprechen sich noch als Junggesellen, daß sie später einmal ihre Kinder miteinander verheiraten wollen, wenn der eine einen Sohn und der andere eine Tochter bekommt. Ein unsinniges Gelübde, wie es im Alten Testament auch mehrmals thematisiert wird. Dort wird davor gewarnt, sich ohne Not und unüberlegt zu etwas zu verpflichten. Kurz nach dem Versprechen verlieren sich die Freunde aus den Augen. Sender bekommt später die Tochter Lea, wobei die Mutter im Kindbett stirbt. Und Nissan bekommt einen Sohn namens Chonon; er selbst stirbt kurz nach der Geburt. Chonon wird später Talmud-Schüler und wird ausgerechnet bei Sender als Gast aufgenommen. Er und Lea verlieben sich ineinander, ohne zu wissen, daß sie einander schon vor ihrer Geburt versprochen worden waren.

    Aber Sender denkt nicht mehr an das Gelübde. Er ist durch Immobiliengeschäfte reich geworden und sieht sich nach einem adäquaten Ehemann für seine Tochter um. Den armen Talmud-Schüler, der täglich an seinem Tisch sitzt, bemerkt er kaum. Wie aus vielen Komödien bekannt, eröffnet er seiner Tochter eines Tages, er habe einen Ehekandidaten für sie ausgewählt, worauf sie in Ohnmacht fällt. Chonon muß hilflos zusehen, wie ihm seine erhoffte Braut weggenommen wird. Er ergibt sich dem Teufel und bittet ihn um Beistand. Die Eheanbahnung scheitert zunächst, weil der Vater des Bräutigams zu hohe Forderungen stellt, aber beim zweiten Versuch klappt es, und die Hochzeit wird vorbereitet. Als Chonon erneut den Teufel anruft, kommt er auf gräßliche Weise um. Bei der Trauung verweigert Lea ihrem Bräutigam zum Entsetzen ihrer Verwandten das Jawort und wirft sich verzweifelt auf Chonons Grab. Er, der wegen des gebrochenen Gelübdes nun als arme Seele ruhelos über die Erde wandern muß, ergreift Besitz von Leas Körper. Sie wird zum Dybbuk, in jüdischer Tradition der Körper eines Menschen, in den die Seele eines anderen eingedrungen ist.

    Sender erkennt nun, was geschehen ist, und ruft ein Thora-Gericht an, um von seinem Versprechen loszukommen. Aber der tote Nissan meldet sich aus dem Totenreich und nimmt dessen Urteil nicht an. Als letzten Ausweg wendet sich Sender an einen berühmten Rabbi, der die fremde Seele aus dem Leib seiner Tochter austreiben soll. Es gelingt nur mit größter Anstrengung und nach mehreren vergeblichen Versuchen. Dabei verliert aber auch Lea ihr Leben und ist nun in der anderen Welt auf ewig mit Chonon vereint. Während der gesamten Handlung taucht immer wieder plötzlich ein bizarrer „Sendbote“ auf, der den Beteiligten auf unheimliche Weise klarzumachen versucht, daß gerade ein unabwendbares Verhängnis abläuft.

    Die Schauspieler (der Vollständigkeit halber): Lili Liliana, Leon Liebgold, Mojzesz Lipman, Ajzyk Samberg, Abraham Morewski, Dina Halpern.

    Als heutiger Betrachter wird man den Film wohl meist mit ironischer Distanz verfolgen, aber ich denke, das ist alles in gewissem Sinn bitter ernst gemeint. Die Geschichte stammt zwar von einem Bühnenstück von Salomon An-Ski, doch Waszynski bindet sie so stark in die damalige jüdische Lebenswelt ein, daß sie ganz authentisch wirkt. Der Regisseur zog zudem den jüdischen Historiker Professor Majer Balaban als Berater heran. Ich würde sagen, der Film hat sehr starke Momente. Technisch steht er den besten der Universal-Horrorfilme der 1930er und 40er Jahre nicht nach. Mit zwei Stunden Laufzeit ist er ungewöhnlich lang, und wenn sich Waszynski auf die Gruseleffekte konzentriert hätte, wäre er auch gut in eineinhalb Stunden unterzubringen gewesen. So dringt er sehr ausführlich in das Milieu strenggläubiger – zugleich aber abergläubischer – polnischer Juden ein, deren Verhalten, Riten und Redeweise sehr aufschlußreich präsentiert werden. Ich bin nur nicht sicher, ob das nicht vielleicht eine traditionelle Welt ist, die es auch 1937 bereits so nicht mehr gegeben hat. Aber jedem, der einmal einen ganz anderen Horrorfilm sehen möchte, kann ich den Film wärmstens empfehlen.

  • Irgendwann hab ich den auch mal gesehen, fällt ja sozusagen in meine Sparte, die Erinnerungen sind schwach daran. Ich hab gerade mal bei YT geschaut, ja ist verfügbar, wird also demnächst mal wieder geschaut.

  • Als Phantastischer Film, als Horrorfilm würde ich den nur bedingt einstufen. Ich bin aber allgemein auch interessiert an Filmen die das Leben zu ihrer Zeit zeigen.

  • Okay, so betrachtet hast du recht.
    Einer der Gründe warum ich mit der großen Schublade Phantastischer Film im allgemeinen lieber hantiere als immer krampfhaft zu schauen in welche der Unterschubladen er denn nun anhand welcher Merkmale besser passt.

  • „Der Dybbuk“ habe ich vor einer halben Ewigkeit auch mal im Fernsehen gesehen, kann damit aber nichts mehr verbinden. Geblieben ist mir letztlich nur ein grober Eindruck vom ashkenasischen Judentum und vor allem dem Jiddischen, der sich mit einigen anderen Filmen zu etwas Größerem verbindet, durch den ich gewisse Vorstellungen von dieser Region in dieser Epoche habe.
    Unwillkürlich kommt mir da die Assoziation zum Golem-Mythos in Prag und den drei Stummfilmen (1915, 1917 und 1920). Über das Musical „Fiddler on the Roof | Anatevka“ (1971) verbinde ich das mit der Klezmer-Musik, die in linken Kreisen ziemlich populär gewesen ist und heute wohl irgendwie dazugehört. Die modernste Variante der Ashkenazi durfte ich in Barbra Streisands „Yentl“ (1983) sehen.

  • Der nächste Film stammt zwar aus USA, ist aber doch etwas exotisch: „She’s gotta have it. A Spike Lee Joint“ (1986). Zum einen spielt er in Brooklyn, was bis dahin ein New Yorker Stadtteil mit ziemlich üblem Ruf war. Zum anderen präsentiert er eine mir fremde schwarze Community, hat also in gewissem Sinn durchaus Ähnlichkeit mit „Yaaba“ oder „Der Dybbuk“. Ich bin nicht ganz sicher, ob dies Lees erster Spielfilm war. Er hatte jedenfalls zu diesem Zeitpunkt schon seine eigene Produktionsfirma. Aber es ist ein Independent-Film, für gerade mal 180 000 Dollar realisiert. Lee verarbeitete in dem Film eigene Beziehungs-Erfahrungen und ließ ihn ein wenig dokumentarisch erscheinen. Es geht um eine junge Frau, die mehrere Beziehungen (darunter zu drei Männern und einer lesbischen Frau) gleichzeitig unterhält. Dabei schildern die drei Männer ihre jeweiligen Erfahrungen und Gefühle. Im deutschen Fernsehen hieß der Film wie seine Hauptfigur „Nola Darling“, aber er ist wohl unter seinem Kinotitel bekannter.

    Die Handlung – auch wenn sie aus Alltagserlebnissen besteht – wirkt etwas konstruiert und läßt bei mir einige Fragen offen. Aber wichtig ist, daß hier junge Schwarze im Mittelpunkt stehen; Weiße sind höchstens mal am Rande zu sehen. Brooklyn war damals (ich weiß nicht, wie das heute ist) von vielen Schwarzen bewohnt, die überwiegend eine bürgerliche Existenz hatten. Nola (Tracy Camilla Johns) arbeitet als Grafikerin bei einer Zeitschrift und malt nebenher. Sie hat drei feste Freunde: den grundsoliden, ein bißchen langweiligen Tommy Redmond Hicks, das sehr von sich eingenommene Fotomodell John Canada Terrell und den leicht verrückten, noch etwas unreif wirkenden Spike Lee. An jedem von ihnen liebt sie etwas anderes; jedenfalls sieht sie überhaupt keine Notwendigkeit, sich zwischen ihnen zu entscheiden. Sie erklärt zu Beginn des Films, sie wolle sich „reinwaschen“. Auf jeden Fall steht sie in der Nachbarschaft in dem Ruf, mit jedem ins Bett zu gehen; darauf gibt der Film aber keine Hinweise. Allerdings trifft sie sich gelegentlich auch noch mit der lesbischen Raye Dowell, der sie allerdings klarmacht, daß sie unbedingt auch Männer liebt.

    Offenbar hat sie ihre Männer darauf trainiert, auf ihre anderen Liebespartner Rücksicht zu nehmen. Sie versuchen, Johns unter Druck zu setzen, sich für sie zu entscheiden und den anderen den Laufpaß zu geben, aber damit haben sie keinen Erfolg, und wenn sie nicht dran sind, trollen sie sich ohne Widerworte. Daß es da nie zu ernsten Konfliken kommt, finde ich wenig glaubwürdig. Am Ende serviert sie dann Terrell und Lee doch ab und will eine richtige Beziehung mit Hicks beginnen. Der Film schließt jedoch mit einer Erklärung von Johns, sich habe nun doch keine Lust, sich auf einen der Männer festzulegen. Ich denke, Lees Absicht war, sie als unabhängige und selbstbewußte Frau zu porträtieren, und diese Absicht hätte er konterkariert, wenn er die Situation irgendwie aufgelöst hätte. Ein tragisches Ende (wie etwa in „Jules und Jim“) hätte zu diesem Film ebenfalls nicht gepaßt. Aber ich bin überzeugt, daß so ein „Viereck“ auf Dauer nicht bestehen kann, egal, wie tolerant und rücksichtsvoll die Beteiligten sind.

    Umstritten ist eine Szene, in der Hicks Johns mehr oder weniger vergewaltigt. Sie hat ihn aus einer Laune heraus und grundlos mitten in der Nacht zu sich gerufen, und er versucht darauf, sie zu demütigen, um ihr zu zeigen, daß er nicht mehr immer dann antanzen will, wenn es ihr gerade in den Sinn kommt. Lee hat die Szene später bedauert, weil sie die Vergewaltigung verharmlost und Johns sie anscheinend ganz gut verkraftet. In der englischen wikipedia ist freilich zu lesen, daß er sich bemüht hat, den Film so zu inszenieren, daß er ein R- und kein X-Rating („ab 18“) bekommt, weil er nach seiner Einschätzung andernfalls nicht erfolgreich geworden wäre. Mit lauter harmlosen Sex-Szenen spielte er in USA sieben Millionen Dollar ein. Mit der Mutmaßung, daß auch die Filmzensur rassistisch sein kann, wird ein Vergleich zum gleichzeitig herausgekommenen Softporno „Neuneinhalb Wochen“ gezogen, in dem es tatsächlich mit einem weißen Paar weitaus explizitere Szenen zu sehen gibt.

    Als Independent-Film finde ich „She’s gotta have it“ sehr gelungen. Er wirkt nicht wie ein Erstlingswerk, sondern ziemlich künstlerisch. Brooklyn wird hier in einer Art in Szene gesetzt, daß die Öffentlichkeit auf die Boheme-Atmosphäre in diesem Stadtteil aufmerksam wurde und es ab da sogar schick war, dort zu leben. Die Schauspieler stellen mutmaßlich mehr oder weniger sich selbst dar, und das durchaus überzeugend. Es fehlt dem Film nur an Konflikten. Johns kann sogar mit ihren drei Freunden Thanksgiving feiern. Sie schieben zwar beim Truthahnessen alle Frust, sind aber – ihr zuliebe – trotzdem ausgesprochen nett zueinander. Da der Film nur etwa 80 Minuten lang ist, langweilt er nicht. Wie wichtig der Film für das schwarze Selbstbewußtsein war (und ist – 2017 gab es eine gleichnamige, wieder von Spike Lee inszenierte Netflix-Serie), kann ich kaum beurteilen. Ebensowenig, ob das Leben in New York realistisch oder doch eher idealisiert inszeniert wird. Auffällig: Der Soundtrack des Films besteht aus Jazzmusik, wie es sie in den 1950er Jahren schon gab. Rap scheint sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht durchgesetzt zu haben.

  • Dass sein Spielfilmdebüt ausgereift wirkt, ist bei Spike Lee kein Zufall, und mit fast 30 wäre alles andere enttäuschend gewesen. Spike Lee stammt aus einer gebildeten Familie mit einer akademischen Tradition. In seinem Elternhaus durfte er nur selten fernsehen, Rockmusik wurde ihm und seinen Geschwistern verboten.
    Sein erster studentischer Kurzfilm "Last Hustle in Brooklyn" entstand 1979 am Morehouse College in Atlanta, wo er seinen Bachelor gemacht hat. Seinen Master of Fine Arte machte er dann 1983 mit dem Kurzfilm "Joe's Bed-Stuy Barbershop: We Cut Heads" (60 min) an der New York University Tisch School of the Arts, wo er sich mit seinen Kommilitonen Ang Lee und Ernest R. Dickerson anfreundete, die ihn bei seinen Projekten unterstützten. Weitere Erfahrungen konnte er mit Werbefilmen und Musikvideos machen.

    Wie alle Independent-Filmemacher hat Spike Lee auf seine Familie zurückgegriffen, beispielsweise seine fünf jüngeren Geschwister. Sein Vater William James Edwards Lee III (1928 - 2023) war im Jazz fest etabliert; er spielte Bass, komponierte und arbeitete unter anderem mit Aretha Franklin und Bob Dylan zusammen. Der Soundtrack zu „She’s gotta have it. A Spike Lee Joint“ stammt ebenfalls von ihm. Im Hause Lee hat Jazz Tradition; insofern hat Lee wohl Rap bewußt ignoriert.

    Allerdings ist mittlerweile umstritten, wie er schwarze Frauen darstellt, zum Beispiel hat ihn bell hooks kritisiert. Schauspielerin Rosie Perez hat sich nach dem Dreh beklagt, dass sie sich unwohl gefühlt hat; dafür hat Spike Lee um Entschuldigung gebeten.

  • Vielen Dank. Ich habe das so grob gelesen, aber Du kennst dich mit Spike Lee besser aus.

    Rosie Perez spielte in seinem späteren Film "Do the right Thing" mit, den habe ich nicht in meiner Sammlung.

  • Dieser Film ist möglicherweise falsch einsortiert. Es ist ein Film aus Finnland, was ein ziemlich exotischer Ort zu sein scheint. Aber letztlich ist es wohl einfach ein typischer Aki-Kaurismäki-Film: „Tatjana“ (1994). Ich habe bereits zwei Filme von ihm digitalisiert und besprochen, und dieser fehlte noch. Kaurismäki hat, wie ich vermute, nicht die Absicht, etwas über sein Land zu erzählen, sondern hat einen ausgeprägten eigenen Stil, den er zu reproduzieren versucht, aber hier vielleicht zu sehr auf die Spitze getrieben hat. Ich fand „Tatjana“ nicht mißglückt, aber an meinen Lieblingsfilm von ihm, „Ariel. Abgebrannt in Helsinki“, kommt er bei weitem nicht heran – auch wenn das die Absicht gewesen sein dürfte. „Tatjana“ ist erneut ein Independent-Film, nur etwa eine Stunde lang, ist aber mit ein paar Musiknummern künstlich gestreckt worden, was nicht eben für die Qualität des Drehbuchs spricht.

    Kaurismäki präsentiert, gewohnt lakonisch, eine Nicht-Handlung über eine Nicht-Liebesgeschichte im Gewand eines Road-Movie. Mato Valtonen, ein Heimnäher, hat seinen Wolga (ein offenbar sehr strapazierfähiges Auto) bei dem Mechaniker Matti Pellonpää in Generalreparatur gegeben. Er beklaut seine Mutter um ihr Erspartes und holt seinen Wagen ab. Seltsamerweise bezahlt er zuerst die Rechnung und macht sich dann mit Pellonpää auf eine ausgedehnte Probefahrt. Unterwegs treffen sie in einem Imbiß zwei Frauen, Kati Outinen (eine Estin) und Kirsi Tykkyläinen (eine Russin). Die Frauen halten die beiden für Dummköpfe; sie beschließen, sich von ihnen zu einer Fähre nach Tallinn mitnehmen zu lassen, was auch klappt. Die Probefahrt dehnt sich damit auf mehr als zwei Tage aus. Den Männern scheint es egal zu sein, wohin sie fahren – und ebenso egal sind ihnen die beiden Frauen.

    Pellonpää ist gewohnheitsmäßiger Wodkatrinker (irgendwie hat er einen Vorrat von etlichen Flaschen bei sich). Valtonen trinkt dagegen anscheinend nur Kaffee; zu diesem Zweck hat er sich sogar eine kleine Kaffeemaschine ins Auto eingebaut. Outinen fotografiert gern (heute wäre sie wohl Selfie-Macherin), und Tykkläinen redet immer mal wieder darüber, was finnische Männer von russischen Männern unterscheidet – ohne daß sich daraus ein Gespräch ergibt. Sonst wird nämlich bevorzugt geschwiegen. Die vier übernachten in einem Motel, doch selbst in ihren Zimmern zeigen die beiden Männer keinerlei Neigung, mit den Frauen irgendwie anzubandeln. Nach einer weitestgehend ereignislosen Fahrt (gelegentlich streut Kaurismäki einen Gag ein, der aber dann eher aufgesetzt wirkt) erreichen sie den Hafen und verabschieden sich formlos. Im letzten Moment entschließen sich Valtonen und Pellonpää jedoch, auf das Fährschiff mitzukommen. Die Russin verschwindet in Tallinn endgültig, doch Outinen bringen die Männer noch zu ihrer Wohnung. Dort verkündet Pellonpää, bei ihr bleiben zu wollen. Valtonen fährt allein nach Hause und setzt sich wortlos wieder an seine Nähmaschine. Es gibt auch keine Auseinandersetzung mit seiner Mutter – daß er ihr manchmal ihr Geld wegnimmt, ist sie wohl gewohnt.

    Die besondere Kaurismäki-Atmosphäre stellt sich wohl ein, diese Mischung aus Stoizismus und halb komischer Heimatlosigkeit. Aber die Geschichte ist doch arg dürftig. Da so wenig geschieht, erscheint der Film trotz seiner Kürze lang. Teilweise sehe ich die Kaurismäki-Figuren gern, und die musikalischen Einschübe finde ich auch nett – die Musik ist sorgfältig ausgewählt. Aber das Ganze geht mir doch zu weit. Da sehe ich mir lieber nochmal „Ariel“ an. (Digitalisiert und gespeichert habe ich „Tatjana“ allerdings trotzdem.)

  • Jetzt zwei Filme, in denen die Vielehe eine wichtige Rolle spielt. Beide Male geht es um einen Mann mit mehreren Ehefrauen – der umgekehrte Fall kommt natürlich auch vor. Ich habe einen eher komischen und einen eher tragischen Film; beginnen wir mit der Komödie: „Liebe, Sex und Ananas“ (1989) von Henri Duparc, ein Film von der Elfenbeinküste. In Afrika ist, soviel ich weiß, Polygamie weit verbreitet. Der Filmtitel ist dümmlich-daneben; vielleicht wollte sich der deutsche Verleih „Sex, Lügen und Video“ zum Vorbild nehmen. Im Original heißt der Film „Bal poussiere“, wohl richtig übersetzt im englischen Titel „Dancing in the Dust“.

    Die Elfenbeinküste gehört wie Burkina Faso (wo „Yaaba“ spielt – siehe oben) zum frankophonen Westafrika. Es ist aber ein Land, in dem sich relativ gut leben läßt und das schon weiter im Übergang vom traditionellen Afrika zur Moderne fortgeschritten ist. Der Norden ist eher ländlich geprägt und überwiegend muslimisch (Polygamie ist da erlaubt und üblich), im Süden befinden sich die meisten größeren Städte, darunter Abidjan mit 5,6 Millionen Einwohnern. Eine junge Frau ist dort zur Schule gegangen und kehrt jetzt besuchsweise in ihr Dorf im Norden zurück. Sie erregt die Aufmerksamkeit des reichsten Dorfbewohners, der von allen „Halbgott“ genannt wird (im Dorf kommt er direkt nach Gott). Er hat schon fünf Ehefrauen, aber beschließt, sie zu seiner sechsten Frau zu machen. Die bisherigen Gattinnen sind der Meinung, vier Frauen seien genug (eine für den Nachwuchs, eine, um das Haus in Ordnung zu halten, eine zum Vorzeigen und eine, die er wirklich liebt). Da er nun schon fünf Frauen hat und nach der sechsten Ausschau hält, befürchten sie, daß er damit nicht mehr aufhören wird. „Halbgott“ beruhigt sie mit dem Hinweis, jede könne immer noch mindestens einmal pro Woche in sein Bett kommen.

    Aber auch seine erhoffte neue Braut macht ihm Probleme. Sie möchte lieber die Schule abschließen, was er ihr auszureden versucht: „Besser Jungfrau als gebildet.“ Ihre Eltern sind hingegen mit einigen teuren Geschenken und dem hohen Brautpreis schnell überzeugt. Die Frau versucht, ihm schonend beizubringen, daß sie gar keine Jungfrau mehr ist, erzählt dann aber lieber etwas davon, daß das beim Sport passiert sei. „Halbgott“ bedingt sich allerdings aus, daß sie sofort verschwinden müsse, wenn er sie einmal beim Ehebruch ertappen sollte. Nach der Hochzeit gehen die Schwierigkeiten weiter. Die neue Ehefrau, die auf ein möglichst selbständiges Leben Wert legt, zieht die beiden jüngeren Frauen von „Halbgott“ auf ihre Seite, die anderen bleiben lieber bei ihren traditionellen Rollen. Das führt zu Konflikten. Der Mann merkt, daß es auf die Dauer ganz schön anstrengt, fast keine Nacht mehr vor seinen Frauen Ruhe zu haben. Schließlich taucht ein junger Musiker in dem Dorf auf, mit dem die neue Ehefrau in Abidjan eine Affäre hatte. Ihr Mann erwischt die beiden eng umschlungen. Wie angedroht, muß sie gehen. Sie möchte aber ohnehin lieber ihrem Geliebten folgen. Im Haushalt von „Halbgott“ kehrt nun wieder Ruhe ein, aber nur scheinbar. Schon hat er wieder ein Auge auf eine neue Frau geworfen.

    Auch im jüdisch-christlichen Glauben war die Mehrehe ursprünglich nicht verboten, jedenfalls nicht aus ethischen Gründen. Es sind mehr praktische Dinge, die dagegensprechen. So stellt das auch dieser Film dar. Eine Komödie im Sinne der westlichen Unterhaltungsindustrie ist das nicht, aber eine feine Ironie durchzieht den Film. Die Ivorer nehmen sich offenbar selbst nicht allzu ernst. Wie bei „Yaaba“ fällt auf, daß Konflikte meist nicht aggressiv gelöst werden. Es bleibt bei verbalem Streit oder hinterlistigen Streichen, die sich die Gegner gegenseitig spielen. Der große Unterschied zu „Yaaba“ ist, daß hier der Einbruch von Elementen des westlichen Lebensstils in die traditionelle Gesellschaft thematisiert wird. Soweit sie sich das leisten können, haben die Menschen Spaß am Konsum und nehmen die Annehmlichkeiten der Moderne gern in Anspruch. Aber die alten gesellschaftlichen Regeln sind ihnen im Zweifel doch lieber. Wobei dies Regeln des Islam sind, der nicht von Anfang an im Land war. Leider kann ich auch hier nicht einschätzen, inwieweit Verhalten und Bräuche für die Elfenbeinküste authentisch sind oder für die Filmhandlung verändert und übertrieben wurden. Die Regieführung wirkt manchmal etwas amateurhaft, was aber nicht stört. Der Film verwendet nur sehr wenige Gags, er ist – für den fremden Betrachter – nicht offen lustig, sondern die Komik ergibt sich aus der Sicht auf diese Gesellschaft generell. Trotzdem fand ich „Liebe, Sex und Ananas“ sehr interessant, und der Film hat mich insgesamt auch gut unterhalten. Es tut gut, die afrikanische Gelassenheit zu sehen und auch eine gewisse Naivität im Handeln. „Liebe, Sex und Ananas“ kam durch Filmfestivals zu uns und hat damals in Frankreich auch einige Preise gewonnen.

    Hier noch die Hauptdarstellerinnen: Hanni Tchelly, Naky Sy Savane, Therese Taba, Anne Kabou.

  • Noch nie von gehört, ich könnte zum Thema also nur soviel beitragen das wir jetzt über die Vor- und Nachteile von mehreren Ehefrauen, oder ob man überhaupt eine braucht, diskutieren. :D

  • Muß bei solchen Themen immer an die eine Stelle bei Vernes "Reise um die Welt in 80 Tagen" denken, als Passepartout den vor seiner Hochzeit geflüchteten Mormonen fragt, wieviele Ehefrauen er denn hatte und der ihm antwort: "Nur eine. Aber bei Gott, das hat gereicht!" :D

    Den Film kenne ich auch nicht. Ich denke auch nicht, daß ich ihn mir würde anschauen wollen. Den einzigen Film zu dieser Thematik , den ich kenne, ist "Rote Laterne", wo es ja weit weniger lustig zugeht.

    Jeder Idiot kann eine Krise meistern. Es ist der Alltag, der uns fertig macht.

  • Aus dem Alten Testament:

    Zitat

    Er (Salomo) hatte 700 fürstliche Frauen und 300 Nebenfrauen. Sie machten sein Herz abtrünnig. Als Salomo älter wurde, verführten ihn seine Frauen zur Verehrung anderer Götter, so daß er dem Herrn, seinem Gott, nicht mehr ungeteilt ergeben war wie sein Vater David. (1. Könige, 11, 3-4)

    Muß mal schauen, ob ich "Rote Laterne" irgendwo finde... :D

    Übrigens: Der Film von der Elfenbeinküste ist komplett in youtube, allerdings nur auf französisch. Mal ein paar Minuten reinschauen, kann nicht schaden.

  • Wie vermutet, komme ich jetzt zu „Rote Laterne“ (1991) von Zhang Yimou. Ein paar Motive des Films von Henri Duparc kehren wieder, aber nicht nur wegen seiner tragischen Färbung ist dies ein ganz anderer Film über Polygamie. Wir sind nun in China kurz nach der Revolution von 1911 (1920er Jahre), aber vorgeführt wird in sehr kühlem Inszenierungsstil eine in alten Ritualen erstarrte Welt, die sich fast ausschließlich in dem ausgedehnten Anwesen eines reichen Mannes erschöpft; der nimmt zu Beginn gerade eine vierte Ehefrau (Gong Li) ins Haus auf. Vom Alltagsleben in diesem China ist so gut wie nichts zu sehen. Alles konzentriert sich auf die Darstellung standardisierter Handlungen. Der Ehemann, der wie ein Autokrat über seine Familie und die Dienerschaft herrscht, ist immer nur aus der Ferne oder hinter Gazevorhängen zu sehen, was seine Macht unterstreicht. Die vier Frauen haben jeweils ihren eigenen Wohnbereich, treffen sich relativ selten und sind hauptsächlich damit beschäftigt, um die Gunst dieses Mannes zu buhlen. Also eine hermetische Welt, in der es keine Geborgenheit, ja nicht einmal ehrliche Freundschaft zu geben scheint. Und es stellt sich heraus, daß alles noch schlimmer ist, als es den Anschein hat.

    Gong Li hat ein halbes Jahr lang studiert (das wäre vor der chinesischen Revolution nicht möglich gewesen). Dann aber stirbt ihr Vater, was sie dazu zwingt, sich aus wirtschaftlichen Gründen mit 19 Jahren zu verheiraten. „Was kann man als Frau schon anderes machen“, sagt sie, bereits etwas resigniert, zu Beginn. Sie weiß aber nicht, was sie in ihrem neuen „Zuhause“ erwartet. Im Hof der Frau, mit der der Hausherr die Nacht verbringt, stellen die Diener mit einer umständlichen Prozedur stets große rote Lampions auf und zünden sie an. Gong Li sagt: „Ich bin nur ein Kleidungsstück des Herrn – er trägt es, wenn er will, und legt es ab, wenn er will.“ Die „vierte Herrin“ ist zu Beginn naturgemäß die Favoritin, aber die „dritte Herrin“, eine frühere Opernsängerin, meldet sich jeweils mitten in der Nacht mit einer vorgeschützten Erkrankung und bringt den Mann so dazu, zu ihr zu eilen. Gong Li glaubt, daß vor allem sie ihre Feindin ist, wogegen sich die „zweite Herrin“ um ihr Vertrauen bemüht. Die „erste Herrin“ ist schon alt und sozusagen nicht mehr im Rennen, aber hat das Sagen, wenn der Mann nicht im Hause ist. Diese Situation widert Gong Li an; deshalb zieht sie sich möglichst oft aus der Gemeinschaft der Frauen zurück.

    Schwierigkeiten hat Gong Li aber auch mit der ihr zugewiesenen Dienerin, die von Anfang an gegen sie aufbegehrt. Sie erwischt das Mädchen bei einem Seitensprung mit dem Herrn und entdeckt darauf, daß sie ihre Kammer mit zahlreichen roten Lampions ausstaffiert hat, was als Anmaßung aufgefaßt wird. Sie verdächtigt die Dienerin auch, ihr etwas gestohlen zu haben. Dabei findet sie unter ihren Sachen eine Voodoopuppe, die ihren Namen trägt und von unzähligen Nadeln durchbohrt ist. Die Dienerin kann nicht lesen und schreiben. Gong Li findet heraus, daß die „zweite Herrin“, ihre angebliche Freundin, ihren Namen auf die Puppe geschrieben hat. Dafür wird die Dienerin rituell bestraft, was aus Gründen, die unklar bleiben, zu ihrem Tod führt. Von der „dritten Herrin“, die sie jetzt als Verbündete erlebt, erfährt Gong Li, daß die „zweite Herrin“ einst ihre Schwangerschaft sabotieren wollte, was ihr aber nicht gelang. Sie operiere bevorzugt mit Falschheit. Gong Li wird nun klar, daß sie die Hochachtung des Herrn nur behält, wenn sie nach einiger Zeit einen Sohn zur Welt bringt.

    Kurz darauf verkündet sie, sie sei schwanger, wodurch sie in der Gunst des Herrn erheblich steigt. Es wird aber bekannt, daß sie nach wie vor Monatsblutungen hat. Der Herr holt einen Arzt (übrigens der heimliche Geliebte der „dritten Herrin“), der sie genau untersucht und bestätigt: keine Schwangerschaft. Wegen diesem Täuschungsmanöver entzieht der Hausherr ihr dauerhaft seine Gunst. Die roten Lampions vor ihren Räumen werden mit schwarzen Tüchern verhängt. Gong Li hat versucht, ein Verhältnis mit dem etwa gleichaltrigen Sohn der „ersten Herrin“ zu beginnen, muß aber erkennen, daß auch er ein Heuchler ist. Die Demütigung durch ihren Ehemann kann sie nicht ertragen. Unter dem Vorwand, sie habe Geburtstag, läßt sie sich Schnaps bringen und betrinkt sich heftig. In diesem unkontrollierten Zustand plaudert sie versehentlich das Verhältnis der „dritten Herrin“ mit dem Arzt aus. Dadurch lernt sie eine weitere Tradition kennen: Die „dritte Herrin“ wird, nachdem sie überführt worden ist, in einer „Totenkammer“ über dem Anwesen aufgehängt. Diese unmenschliche Bestrafung hat es offenbar schon mehrmals gegeben. Das verkraftet Gong Li nicht. Als im nächsten Jahr die fünfte Ehefrau ins Haus kommt, erlebt man sie nur noch verwirrt und geistesgestört.

    Ich sehe den Film als bemerkenswerte psychologische Studie. Wegen seiner Strenge dürfte er vor allem von Cineasten goutiert worden sein. Die Handlung hat mich an die oft gehörte Feststellung erinnert, im Berufsleben machten Frauen den Fehler, sich gegenseitig wegzubeißen, statt zusammenzuarbeiten, wie das Männer angeblich tun. Sollte das zutreffen, dann sieht man in „Rote Laterne“ freilich, daß Frauen in einer von Männern beherrschten Welt vielleicht gar nichts anderes übrigbleibt. Über die chinesische Gesellschaft erfährt man, wie erwähnt, relativ wenig – vielleicht würde sich an den vorgeführten Ritualen manches ablesen lassen, wenn man die chinesische Kultur gut kennen würde. „Rote Laterne“ läßt sich offenbar auch auf einer zweiten Ebene lesen, nämlich als Kritik am modernen China. Der Film war dort in den ersten Jahren verboten, während er in Europa gefeiert wurde. Das nicht zu Unrecht, würde ich sagen.

  • Zitat

    Wie vermutet, komme ich jetzt zu „Rote Laterne“ (1991) von Zhang Yimou.

    Ja, war irgendwie klar. :D

    Zu Deinem Text kann man nicht mehr viel hinzu fügen. Was ich nach den ca. 30 Jahren noch im Kopf habe, ist einmal, wie unscheinbar die "zweite Herrin" eigentlich wirkt und man sicher nicht darauf wetten würde, daß sie am Ende im "Hennenkampf" siegt. Außerdem ist noch hängen geblieben, daß die "Rote Laterne" sich für die erwählte auch in kleinen materiellen Dingen niederschlägt, z. B. der Auswahl des Essens. ("Gibt es heute keinen Toufu?")

    Jeder Idiot kann eine Krise meistern. Es ist der Alltag, der uns fertig macht.

  • Es ist vor allem die Fußmassage. Hier wird nicht nur darüber geredet, sondern die ausgewählte Ehefrau bekommt immer vorher von einer Spezialistin eine Fußmassage, und nach einiger Zeit glaubt Gong Li, ohne sie nicht mehr auszukommen. Ist sie nicht die Erwählte, dann zwingt sie ihre Dienerin, ihr die Füße zu massieren.

    Die Essensauswahl hat eher Konfliktpotenzial. Die ausgewählte Ehefrau darf auch bestimmen, was es zu essen gibt. Gong Li mag aber kein Fleisch, sondern Tofu mit Spinat. Darauf nehmen die anderen Frauen keine Rücksicht. Dieses Motiv wirkt aber etwas merkwürdig, denn wer ißt schon täglich Tofu mit Spinat?

  • Hab eben in youtube eine Interpretation des Films gesehen, die erklären könnte, warum "Rote Laterne" in China verboten wurde. Natürlich wirft der Film generell kein sehr gutes Licht auf China, aber hier wird der Film als symbolischer Ausdruck für die Ergebnisse der Revolution betrachtet.

    Die vierte Herrin (die Hauptperson) steht für das chinesische Volk.
    Die dritte Herrin, die Opernsängerin, steht für die chinesischen Künstler.
    Der Arzt, ihr Liebhaber, steht für die Intellektuellen.
    Die zweite Herrin steht für die Armee.
    Die erste Herrin steht für die Regierung.

    Die Dienerin der vierten Herrin steht für die Bauernschaft. Einen Aspekt habe ich oben vergessen herauszuheben: Bevor Gong Li kam, gab es eine andere Ehefrau, die aber von dem Herrn erhängt wurde. Die Dienerin hatte gehofft, daß sie die neue Herrin wird, aber vergeblich. Den chinesischen Bauern wurde von Mao Tsetung viel versprochen, aber sie hatten unter der Revolution am meisten zu leiden. Stattdessen kämpften andere gesellschaftliche Kräfte um die Früchte der Revolution. Die roten Laternen, die in der Buchvorlage keine große Bedeutung haben, versinnbildlichen hier die Partei. Die Künstler und Intellektuellen wurden bekämpft und viele von ihnen umgebracht.
    In der Interpretation wird auf zwei weitere Unterschiede von Buch und Film hingewiesen: Im Buch ist das Anwesen des Herrn mit reicher Flora bewachsen und geschmückt. Im Film ist es nur grau und trist. In einen solchen Ort hat die Revolution ganz China verwandelt. Und schließlich ertappt der Herr seine dritte Ehefrau im Buch selbst beim Ehebruch, im Film wird sie zuvor von der vierten Herrin, wenn auch unabsichtlich, verraten. Insgesamt heißt es aber, Zhang Yimou habe seine Kritik an China in dem Film gut versteckt.

    Ich kenne die chinesische Geschichte viel zu wenig, um sagen zu können, ob die Interpretation plausibel ist. Sie ist aber in sich stimmig, und es gibt Elemente, die auch in anderen Revolutionen - der russischen oder der französischen - von Bedeutung waren.

    Vielleicht kann ja jemand von Euch sagen, ob an der Interpretation etwas dran ist.

  • Reininterpretieren kann man natürlich immer. In der oben genannten Aufzählung fehlt dann aber erst mal auf jeden Fall die Partei. Die steht über allen! Und da die Bauern (zumindest damals) in China noch den überwiegenden Bevölkerungsanteil stellten, wäre dann also die Dienerin das Volk gewesen und die vierte Herrin (Studentin) die Intellektuellen. Tja und Rot spielt in "Rot-China" nun mal optisch eine überwältigende Rolle. Die Farbe der Kommunisten ist Rot, die Chinesische Flagge ist fast völlig rot, die Mao-Bibel war rot, während der Kulturrevolution gab es nicht umsonst die "Roten Garden" und eine Schlagwort der chinesischen Führung hieß glaube ich auch mal "Osten ist rot!". - Das ganze nun in ein Sexritual einzubetten, war vielleicht provokativ. Aber was genau der Grund war? Das wird Dir wahrscheinlich nur die damals zuständige Zensur-Behörde sagen können. Auch in der DDR sind Filme aus ganz nichtigen Gründen verboten wurden, während andere überraschend "erlaubt" wurden.

    Jeder Idiot kann eine Krise meistern. Es ist der Alltag, der uns fertig macht.

  • Die Partei wurde in den roten Laternen gesehen.

    OK, die Partei als Objekt in einer letztlich entwürdigenden leeren Zeremonie zu betrachten (Man denke an die formelhaften und streng durchorganisierten Aufmärsche in Diktaturen), hätte natürlich (aus Sicht der Zensur) ein Verbot verdient.

    Was er allerdings über die beiden älteren Frauen ("Armee" und "Regierung") sagt, überzeugt mich ehrlich gesagt gar nicht. Das mit den Intellektuellen (3. Herrin) trifft es schon eher und Gong Li als "Proletarian" kommt auch hin, denn das meint ja nicht das Volk als ganzes sondern die mittellosen städtischen Schichten, auf die sogar die Bauern (zumindest die, die nur einen Fetzen Land haben) herab sehen.

    Lustig finde ich allerdings, daß es jemand von Taiwan aus erklärt. Denn die dort bis fast in die Entstehungszeit diktatorisch herrschende Kuomintang (Kriegsrecht bis 1987!) verkörperte das im Film zumindest vordergründig angeprangerte "alte" China ja viel mehr als die Volksrepublik.

    Jeder Idiot kann eine Krise meistern. Es ist der Alltag, der uns fertig macht.

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