Im Abspann sind zehn Schauspieler aufgeführt - sechs davon heißen Ouedraogo.

Filmklassiker
-
-
Noch einmal Aberglaube: „Der Dybbuk“ (1937) von Michal Waszynski. Das ist wiederum ein polnischer, vor allem aber ein jüdischer Film. Er gilt als herausragender Vertreter jüdischen Filmschaffens, und ich finde es bemerkenswert, daß er gerade mal zwei Jahre vor dem deutschen Einmarsch in Polen entstanden ist. Er zeigt also eine jüdische Welt, die bald darauf nicht mehr existiert hat. Gesprochen wird jiddisch; das ist zwar zur Hälfte deutsch, aber der Film mußte trotzdem deutsch untertitelt werden. Im ZDF gesendet wurde er damals zum 50. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Getto (19. April 1943).
Der Film gibt wie „Yaaba“ Einblicke in eine völlig fremde Kultur. Nach meinem Empfinden ist diese jüdische Welt im ehemaligen Oberschlesien dadurch geprägt, daß strenger jüdischer Glaube und Aberglaube unentwirrbar miteinander verquickt sind. Bemerkenswert, daß dieser Film zur selben Zeit gedreht wurde, als gerade die klassische Universal-Gruselfilmwelle rollte. Es geht um einen besessenen Menschen, der exorziert wird. Im Gegensatz zu Hollywoodfilmen ist das Geschehen hier tief in der jüdischen Folkore verwurzelt, wobei mir unklar ist, ob es sich um Folklore im Sinne einer Idealisierung oder Romantisierung handelt oder ob Dinge gezeigt werden, das in jüdischen Kreisen wirklich vorkommen konnten.
Die beiden engen Freunde Sender und Nissan (der heißt tatsächlich wie ein Auto) versprechen sich noch als Junggesellen, daß sie später einmal ihre Kinder miteinander verheiraten wollen, wenn der eine einen Sohn und der andere eine Tochter bekommt. Ein unsinniges Gelübde, wie es im Alten Testament auch mehrmals thematisiert wird. Dort wird davor gewarnt, sich ohne Not und unüberlegt zu etwas zu verpflichten. Kurz nach dem Versprechen verlieren sich die Freunde aus den Augen. Sender bekommt später die Tochter Lea, wobei die Mutter im Kindbett stirbt. Und Nissan bekommt einen Sohn namens Chonon; er selbst stirbt kurz nach der Geburt. Chonon wird später Talmud-Schüler und wird ausgerechnet bei Sender als Gast aufgenommen. Er und Lea verlieben sich ineinander, ohne zu wissen, daß sie einander schon vor ihrer Geburt versprochen worden waren.
Aber Sender denkt nicht mehr an das Gelübde. Er ist durch Immobiliengeschäfte reich geworden und sieht sich nach einem adäquaten Ehemann für seine Tochter um. Den armen Talmud-Schüler, der täglich an seinem Tisch sitzt, bemerkt er kaum. Wie aus vielen Komödien bekannt, eröffnet er seiner Tochter eines Tages, er habe einen Ehekandidaten für sie ausgewählt, worauf sie in Ohnmacht fällt. Chonon muß hilflos zusehen, wie ihm seine erhoffte Braut weggenommen wird. Er ergibt sich dem Teufel und bittet ihn um Beistand. Die Eheanbahnung scheitert zunächst, weil der Vater des Bräutigams zu hohe Forderungen stellt, aber beim zweiten Versuch klappt es, und die Hochzeit wird vorbereitet. Als Chonon erneut den Teufel anruft, kommt er auf gräßliche Weise um. Bei der Trauung verweigert Lea ihrem Bräutigam zum Entsetzen ihrer Verwandten das Jawort und wirft sich verzweifelt auf Chonons Grab. Er, der wegen des gebrochenen Gelübdes nun als arme Seele ruhelos über die Erde wandern muß, ergreift Besitz von Leas Körper. Sie wird zum Dybbuk, in jüdischer Tradition der Körper eines Menschen, in den die Seele eines anderen eingedrungen ist.
Sender erkennt nun, was geschehen ist, und ruft ein Thora-Gericht an, um von seinem Versprechen loszukommen. Aber der tote Nissan meldet sich aus dem Totenreich und nimmt dessen Urteil nicht an. Als letzten Ausweg wendet sich Sender an einen berühmten Rabbi, der die fremde Seele aus dem Leib seiner Tochter austreiben soll. Es gelingt nur mit größter Anstrengung und nach mehreren vergeblichen Versuchen. Dabei verliert aber auch Lea ihr Leben und ist nun in der anderen Welt auf ewig mit Chonon vereint. Während der gesamten Handlung taucht immer wieder plötzlich ein bizarrer „Sendbote“ auf, der den Beteiligten auf unheimliche Weise klarzumachen versucht, daß gerade ein unabwendbares Verhängnis abläuft.
Die Schauspieler (der Vollständigkeit halber): Lili Liliana, Leon Liebgold, Mojzesz Lipman, Ajzyk Samberg, Abraham Morewski, Dina Halpern.
Als heutiger Betrachter wird man den Film wohl meist mit ironischer Distanz verfolgen, aber ich denke, das ist alles in gewissem Sinn bitter ernst gemeint. Die Geschichte stammt zwar von einem Bühnenstück von Salomon An-Ski, doch Waszynski bindet sie so stark in die damalige jüdische Lebenswelt ein, daß sie ganz authentisch wirkt. Der Regisseur zog zudem den jüdischen Historiker Professor Majer Balaban als Berater heran. Ich würde sagen, der Film hat sehr starke Momente. Technisch steht er den besten der Universal-Horrorfilme der 1930er und 40er Jahre nicht nach. Mit zwei Stunden Laufzeit ist er ungewöhnlich lang, und wenn sich Waszynski auf die Gruseleffekte konzentriert hätte, wäre er auch gut in eineinhalb Stunden unterzubringen gewesen. So dringt er sehr ausführlich in das Milieu strenggläubiger – zugleich aber abergläubischer – polnischer Juden ein, deren Verhalten, Riten und Redeweise sehr aufschlußreich präsentiert werden. Ich bin nur nicht sicher, ob das nicht vielleicht eine traditionelle Welt ist, die es auch 1937 bereits so nicht mehr gegeben hat. Aber jedem, der einmal einen ganz anderen Horrorfilm sehen möchte, kann ich den Film wärmstens empfehlen.
-
Irgendwann hab ich den auch mal gesehen, fällt ja sozusagen in meine Sparte, die Erinnerungen sind schwach daran. Ich hab gerade mal bei YT geschaut, ja ist verfügbar, wird also demnächst mal wieder geschaut.
-
Was heißt "fällt in meine Sparte"? Als Horrorfilm?
-
Als Phantastischer Film, als Horrorfilm würde ich den nur bedingt einstufen. Ich bin aber allgemein auch interessiert an Filmen die das Leben zu ihrer Zeit zeigen.
-
Es ist ein Horrorfilm ohne Genreregeln. Es ist auch nicht alles auf die Horroreffekte zugeschnitten. Aber er steht einem Film wie "Der Exorzist" meiner Ansicht nach nicht nach.
-
Okay, so betrachtet hast du recht.
Einer der Gründe warum ich mit der großen Schublade Phantastischer Film im allgemeinen lieber hantiere als immer krampfhaft zu schauen in welche der Unterschubladen er denn nun anhand welcher Merkmale besser passt. -
„Der Dybbuk“ habe ich vor einer halben Ewigkeit auch mal im Fernsehen gesehen, kann damit aber nichts mehr verbinden. Geblieben ist mir letztlich nur ein grober Eindruck vom ashkenasischen Judentum und vor allem dem Jiddischen, der sich mit einigen anderen Filmen zu etwas Größerem verbindet, durch den ich gewisse Vorstellungen von dieser Region in dieser Epoche habe.
Unwillkürlich kommt mir da die Assoziation zum Golem-Mythos in Prag und den drei Stummfilmen (1915, 1917 und 1920). Über das Musical „Fiddler on the Roof | Anatevka“ (1971) verbinde ich das mit der Klezmer-Musik, die in linken Kreisen ziemlich populär gewesen ist und heute wohl irgendwie dazugehört. Die modernste Variante der Ashkenazi durfte ich in Barbra Streisands „Yentl“ (1983) sehen. -
Die Assoziation des "Golem" hatte ich auch. Der Golem kommt mir allerdings doch etwas harmloser vor als ein Totengeist.
-
Der nächste Film stammt zwar aus USA, ist aber doch etwas exotisch: „She’s gotta have it. A Spike Lee Joint“ (1986). Zum einen spielt er in Brooklyn, was bis dahin ein New Yorker Stadtteil mit ziemlich üblem Ruf war. Zum anderen präsentiert er eine mir fremde schwarze Community, hat also in gewissem Sinn durchaus Ähnlichkeit mit „Yaaba“ oder „Der Dybbuk“. Ich bin nicht ganz sicher, ob dies Lees erster Spielfilm war. Er hatte jedenfalls zu diesem Zeitpunkt schon seine eigene Produktionsfirma. Aber es ist ein Independent-Film, für gerade mal 180 000 Dollar realisiert. Lee verarbeitete in dem Film eigene Beziehungs-Erfahrungen und ließ ihn ein wenig dokumentarisch erscheinen. Es geht um eine junge Frau, die mehrere Beziehungen (darunter zu drei Männern und einer lesbischen Frau) gleichzeitig unterhält. Dabei schildern die drei Männer ihre jeweiligen Erfahrungen und Gefühle. Im deutschen Fernsehen hieß der Film wie seine Hauptfigur „Nola Darling“, aber er ist wohl unter seinem Kinotitel bekannter.
Die Handlung – auch wenn sie aus Alltagserlebnissen besteht – wirkt etwas konstruiert und läßt bei mir einige Fragen offen. Aber wichtig ist, daß hier junge Schwarze im Mittelpunkt stehen; Weiße sind höchstens mal am Rande zu sehen. Brooklyn war damals (ich weiß nicht, wie das heute ist) von vielen Schwarzen bewohnt, die überwiegend eine bürgerliche Existenz hatten. Nola (Tracy Camilla Johns) arbeitet als Grafikerin bei einer Zeitschrift und malt nebenher. Sie hat drei feste Freunde: den grundsoliden, ein bißchen langweiligen Tommy Redmond Hicks, das sehr von sich eingenommene Fotomodell John Canada Terrell und den leicht verrückten, noch etwas unreif wirkenden Spike Lee. An jedem von ihnen liebt sie etwas anderes; jedenfalls sieht sie überhaupt keine Notwendigkeit, sich zwischen ihnen zu entscheiden. Sie erklärt zu Beginn des Films, sie wolle sich „reinwaschen“. Auf jeden Fall steht sie in der Nachbarschaft in dem Ruf, mit jedem ins Bett zu gehen; darauf gibt der Film aber keine Hinweise. Allerdings trifft sie sich gelegentlich auch noch mit der lesbischen Raye Dowell, der sie allerdings klarmacht, daß sie unbedingt auch Männer liebt.
Offenbar hat sie ihre Männer darauf trainiert, auf ihre anderen Liebespartner Rücksicht zu nehmen. Sie versuchen, Johns unter Druck zu setzen, sich für sie zu entscheiden und den anderen den Laufpaß zu geben, aber damit haben sie keinen Erfolg, und wenn sie nicht dran sind, trollen sie sich ohne Widerworte. Daß es da nie zu ernsten Konfliken kommt, finde ich wenig glaubwürdig. Am Ende serviert sie dann Terrell und Lee doch ab und will eine richtige Beziehung mit Hicks beginnen. Der Film schließt jedoch mit einer Erklärung von Johns, sich habe nun doch keine Lust, sich auf einen der Männer festzulegen. Ich denke, Lees Absicht war, sie als unabhängige und selbstbewußte Frau zu porträtieren, und diese Absicht hätte er konterkariert, wenn er die Situation irgendwie aufgelöst hätte. Ein tragisches Ende (wie etwa in „Jules und Jim“) hätte zu diesem Film ebenfalls nicht gepaßt. Aber ich bin überzeugt, daß so ein „Viereck“ auf Dauer nicht bestehen kann, egal, wie tolerant und rücksichtsvoll die Beteiligten sind.
Umstritten ist eine Szene, in der Hicks Johns mehr oder weniger vergewaltigt. Sie hat ihn aus einer Laune heraus und grundlos mitten in der Nacht zu sich gerufen, und er versucht darauf, sie zu demütigen, um ihr zu zeigen, daß er nicht mehr immer dann antanzen will, wenn es ihr gerade in den Sinn kommt. Lee hat die Szene später bedauert, weil sie die Vergewaltigung verharmlost und Johns sie anscheinend ganz gut verkraftet. In der englischen wikipedia ist freilich zu lesen, daß er sich bemüht hat, den Film so zu inszenieren, daß er ein R- und kein X-Rating („ab 18“) bekommt, weil er nach seiner Einschätzung andernfalls nicht erfolgreich geworden wäre. Mit lauter harmlosen Sex-Szenen spielte er in USA sieben Millionen Dollar ein. Mit der Mutmaßung, daß auch die Filmzensur rassistisch sein kann, wird ein Vergleich zum gleichzeitig herausgekommenen Softporno „Neuneinhalb Wochen“ gezogen, in dem es tatsächlich mit einem weißen Paar weitaus explizitere Szenen zu sehen gibt.
Als Independent-Film finde ich „She’s gotta have it“ sehr gelungen. Er wirkt nicht wie ein Erstlingswerk, sondern ziemlich künstlerisch. Brooklyn wird hier in einer Art in Szene gesetzt, daß die Öffentlichkeit auf die Boheme-Atmosphäre in diesem Stadtteil aufmerksam wurde und es ab da sogar schick war, dort zu leben. Die Schauspieler stellen mutmaßlich mehr oder weniger sich selbst dar, und das durchaus überzeugend. Es fehlt dem Film nur an Konflikten. Johns kann sogar mit ihren drei Freunden Thanksgiving feiern. Sie schieben zwar beim Truthahnessen alle Frust, sind aber – ihr zuliebe – trotzdem ausgesprochen nett zueinander. Da der Film nur etwa 80 Minuten lang ist, langweilt er nicht. Wie wichtig der Film für das schwarze Selbstbewußtsein war (und ist – 2017 gab es eine gleichnamige, wieder von Spike Lee inszenierte Netflix-Serie), kann ich kaum beurteilen. Ebensowenig, ob das Leben in New York realistisch oder doch eher idealisiert inszeniert wird. Auffällig: Der Soundtrack des Films besteht aus Jazzmusik, wie es sie in den 1950er Jahren schon gab. Rap scheint sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht durchgesetzt zu haben.
-
Dass sein Spielfilmdebüt ausgereift wirkt, ist bei Spike Lee kein Zufall, und mit fast 30 wäre alles andere enttäuschend gewesen. Spike Lee stammt aus einer gebildeten Familie mit einer akademischen Tradition. In seinem Elternhaus durfte er nur selten fernsehen, Rockmusik wurde ihm und seinen Geschwistern verboten.
Sein erster studentischer Kurzfilm "Last Hustle in Brooklyn" entstand 1979 am Morehouse College in Atlanta, wo er seinen Bachelor gemacht hat. Seinen Master of Fine Arte machte er dann 1983 mit dem Kurzfilm "Joe's Bed-Stuy Barbershop: We Cut Heads" (60 min) an der New York University Tisch School of the Arts, wo er sich mit seinen Kommilitonen Ang Lee und Ernest R. Dickerson anfreundete, die ihn bei seinen Projekten unterstützten. Weitere Erfahrungen konnte er mit Werbefilmen und Musikvideos machen.Wie alle Independent-Filmemacher hat Spike Lee auf seine Familie zurückgegriffen, beispielsweise seine fünf jüngeren Geschwister. Sein Vater William James Edwards Lee III (1928 - 2023) war im Jazz fest etabliert; er spielte Bass, komponierte und arbeitete unter anderem mit Aretha Franklin und Bob Dylan zusammen. Der Soundtrack zu „She’s gotta have it. A Spike Lee Joint“ stammt ebenfalls von ihm. Im Hause Lee hat Jazz Tradition; insofern hat Lee wohl Rap bewußt ignoriert.
Allerdings ist mittlerweile umstritten, wie er schwarze Frauen darstellt, zum Beispiel hat ihn bell hooks kritisiert. Schauspielerin Rosie Perez hat sich nach dem Dreh beklagt, dass sie sich unwohl gefühlt hat; dafür hat Spike Lee um Entschuldigung gebeten.
-
Vielen Dank. Ich habe das so grob gelesen, aber Du kennst dich mit Spike Lee besser aus.
Rosie Perez spielte in seinem späteren Film "Do the right Thing" mit, den habe ich nicht in meiner Sammlung.
-
Jetzt mitmachen!
Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!