Vom Schreiben zum Verfilmen

  • Hab' nochmal am Anfang nachgelesen. Mir war das gar nicht mehr bewußt, daß ich diesen Thread mal gestartet habe. Also ich hatte nicht vor, hier regelmäßig etwas zu schreiben - es sei denn, ich hätte in den Gratis-Buchregalen öfter Filmliteratur gefunden. War aber nicht der Fall. Meist stößt man nur auf Romane von Nora Roberts.

    Aber ich habe natürlich nichts dagegen, wenn andere diesen Thread weiterführen.

    • Upton Sinclair: Oil! (Albert & Charles Boni 1927) | Petroleum (Malik-Verlag 1927) und Öl! (März Verlag GmbH 1984, Manesse Verlag 2013)
    • There Will Be Blood (USA 2007, Ghoulardi Film Company und Scott Rudin Productions), Drehbuch und Regie: Paul Thomas Anderson, 158 min, FSK: 12, JMK: 14


    Durch die Vorliebe insbesondere meiner Mutter bin ich mit den Fernsehserien Dallas und Dynasty | Der Denver-Clan aufgewachsen, also Soap Operas, in denen US-Firmen aus der Ölbranche im Mittelpunkt standen. Wie realistisch die gewesen sind, konnte ich nicht beurteilen, aber wegen der erzählerischen Kniffe, zum Beispiel eine ganze Staffel im Rückblick als Traum umzuwerten, fand ich, dass die Macher sich sehr viele Freiheiten herausnahmen.
    Von Upton Sinclairs Klassiker The Jungle (1906) | Der Dschungel (1922) über die Schlachthöfe in Chicago hatte ich mir eine Comicadaption von Peter Kuper zugelegt, weshalb ich am liebsten die Vorlage dazu gelesen hätte. Als ich in einem Antiquariat Öl! aus dem März Verlag entdeckte, griff ich zu. Das war irgendwann in den 1990ern, so dass ich von einer Verfilmung noch nichts ahnen konnte.
    Upton Sinclair verfolgte als Sozialist eine klare Agenda, indem er bei Mißständen den Finger in die Wunde legte und menschenverachtende Praktiken anklagte. Deswegen erschienen seine Werke zeitweise im Selbstverlag. Seine Romane basieren auf einer sozialpolitischen Grundlage und sind insofern als Schlüsselromane fiktionialisierte Reportagen, die das Publikum leicht entschlüsseln konnte. So behandelt Öl! den Teapot Dome Skandal aus den 1920er Jahren, in den der 29. Präsident der USA, Warren G. Harding, und seine korrupte Ohio Gang aus Politikern und Industriellen verwickelt waren. Bis zum Watergate-Skandal in den 1970er Jahren war das der größte Skandal in den Vereinigten Staaten.
    Auch international war Sinclair erfolgreich, denn in der Weimarer Republik verkaufte der Malik Verlag von der deutschen Fassung in zwei Jahren 100.000 Exemplare. Wegen einer Sexszene in einem Motel, war das Buch in Boston verboten; weshalb der Verlag 150 Exemplare mit neun geschwärzten Seiten veröffentlichte, die als "Feigenblatt-Edition" in den Verkauf kamen. Sinclair protestierte gegen das Verbot und hoffte, vor Gericht den Bann aufheben zu können; durch die Kontroverse entwickelte sich der Roman zu einem Bestseller.
    Der Roman bietet ein komplexes Bild einer Gesellschaft, in der Erdöl den Waltran als Lichtquelle abgelöst hatte und die Verwendung als Treibstoff für Automobile einen weiteren Absatzmarkt versprach. Jenseits der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, bleibt das ein Roman, der auch heute noch erschreckend aktuell ist, und auf differenzierte Weise ein plattes Schwarz-Weiß-Schema vermeidet. Somit ist er auch für all jene lesbar, die nicht Upton Sinclairs linken Standpunkt teilen.

    Paul Thomas Anderson ist ein eigenwilliger Autorenfilmer, der Ende der 1990er Jahre mit seinen Filmen Boogie Nights und Magnolia sowohl bei der Filmkritik als auch beim Publikum landen konnte. Obwohl er sich in der Branche etabliert hat, ist sein Werk übersichtlich geblieben, weil zwischen seinen Filmen meist mehrere Jahre liegen. Die positive Resonanz beim Publikum und der professionellen Kritik beweisen, dass Anderson sein hohes Niveau halten kann.
    Das gilt auch für There Will Be Blood, der mit Lob überschüttet wurde, zahlreiche Preise erhielt und zu den besten Filmen des Jahrzehnts gezählt wird. Die Rechte an Sinclairs Buch kaufte 2004 der Journalist und Gastrokritiker Eric Schlosser und suchte dann einen Regisseur, der sich ebenso wie er für den Roman begeistern konnte. Schlosser fand ihn in Anderson, doch den interessierte in erster Linie der Konflikt zwischen zwei Familien in der Wüste. Während Anderson die ersten 150 bis 200 Seiten in den Bann schlugen, entwickelte er eine Story, die sich immer weiter von der Vorlage entfernte.
    Andersons Film ist mittlerweile ein moderner Klassiker, was nicht zuletzt am Casting liegt. Der Brite Daniel Day-Lewis ist besonders wählerisch bei seinen Rollen, in die er sich extrem hineinsteigert. In Paul Dano findet er einen eindrucksvollen Antagonisten. Hinzu kommt eine bildgewaltige Kamera, durch die die Landschaft zu mehr wird als nur eine Kulisse. Abgerundet wird die Qualität des Films durch einen avantgardistisch-sinfonischen Soundtrack. Der unabhängig produzierte Film mit einer Länge von mehr als zweieinhalb Stunden setzte einen Maßstab durch die Tatsache, dass er sich erfolgreich am Kinomarkt behaupten konnte. Durch seine Dramaturgie und Inszenierung besitzt der Klassiker eine alttestamentarische Wucht.

  • Zitat

    Während Anderson die ersten 150 bis 200 Seiten in den Bann schlugen, entwickelte er eine Story, die sich immer weiter von der Vorlage entfernte.

    Ist zwar schon Jahrzehnte her, daß ich Öl! gelesen habe aber den Eindruck mit der Entfernung von der Vorlage hatte ich auch. Aber wie Du schon geschrieben hast, macht ihn das wahrscheinlich eher zu einem Klassiker als das Buch selbst.

    Jeder Idiot kann eine Krise meistern. Es ist der Alltag, der uns fertig macht.

    • Michel Houellebecq: Les Particules élémentaires. Roman (Flammarion 1998, Éditions J'ai lu 2003) | Elementarteilchen. Roman (DuMont 1999 und 2014, List 2001, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2006, Axel Springer Verlag 2012)
    • Elementarteilchen (Deutschland 2006, Constantin Film Produktion GmbH, Moovie - The art of entertainment GmbH, Medienfonds German Film Productions GmbH & Co. KG und Degeto Film GmbH), Drehbuch und Regie: Oskar Roehler, 108 min, FSK: 12, JMK: 14


    Zu meinen Zeiten auf der Uni habe ich mich vorwiegend über den Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur informiert. Auf diese Weise hörte ich den Namen Houellebecq das erste Mal. Im überwiegend linken französischen Kulturbetrieb provozierte der rechte Schriftsteller, so dass jedes neue Buch von ihm von einem Skandal begleitet wurde. Seine Romane wurden fleißig übersetzt und als Hörspiel oder für die Bühne bearbeitet, wodurch ich die Gelegenheit bekam, mir einen ersten Eindruck zu verschaffen. Durch das Hörspiel kannte ich schon den Plot in groben Zügen, weshalb ich mich an die französische Originalfassung des Romans traute.
    Mit Frédéric Beigbeder und Virginie Despentes gehörte Houellebecq zu den jungen Leuten, die den Literaturbetrieb der Grande Nation aufmischten und kräftig durchlüfteten. Im Gegensatz zu der zeitgenössischen deutschen Literatur war das keine Wohlfühlprosa für die eigene Wellness, sondern sperrige Werke mit unbequemen Thesen aus einer konservativen Sicht. Mit dem wenigsten, was Houellebecq da von Stapel ließ, war ich einverstanden; zugleich brachte er mir als Teil seiner Generation ein Frankreich näher, in dem Le Pen und seine Partei immer populärer wurden. Durch seine Prosa konnte ich nachvollziehen, wie sich da Ressentiments und Vorurteile festsetzen, ohne mich mit den Wahlkampfslogans der Rechtsradikalen befassen zu müssen. Außerdem fielen seine Romane im weitesten Sinne in das Genre Science Fiction, das sowieso verfolgte.
    Seinen Essay über den Rassisten H.P. Lovecraft mußte ich unbedingt gelesen haben. Houellebecqs Romane hat durchaus sprachliche Qualitäten, die ich zu schätzen weiß; aber irgendwann glaubte ich dann auch, seine Masche mit den verstörenden Essays oder pornographischen Passagen durchschaut zu haben. Was er mir an Erkenntnis bringen konnte, den Honig hatte ich aus seinen Werken gesogen; dadurch wurde er schlicht langweilig, und ich suchte mir andere Lektüre.

    Mit Oskar Roehler erging es mir ähnlich. Seinen Spielfilm Die Unberührbare über seine Mutter Gisela Elsner feierte ich, zumal das der erste Film von ihm gewesen ist, der mir auffiel. In den nächsten Jahren habe ich im Kino fleißig verfolgt, was er auf die Leinwand gebracht hat, bis es mir mit Der alte Affe Angst dann reichte. Von ihm kam nichts Neues mehr, stattdessen lieferte Roehler seine altbekannten Bilder aus seiner Berliner Blase, die nur wenig mit dem zu tun hatten, was ich hier in der Provinz erlebte; dafür war mir mein sauer verdientes Geld zu schade.
    Was ich seiner Verfilmung von Houellebecq zugutehalte, ist das Staraufgebot, das er hier vor die Kamera bekam: Moritz Bleibtreu, Martina Gedeck, Corinna Harfouch, Nina Hoss, Jasmin Tabatabai und andere, die schon gut lieferten. Wie erwartet, versetzte Roehler den Stoff nach Berlin, was funktionierte; doch so richtig begeisterte mich die Umsetzung nicht. Für eine deutsche Kinoproduktion war sie okay, aber im Vergleich zur literarischen Vorlage war der Film schwach und durchschnittlich.
    Wer Houellebecqs Roman nicht kennt, wird die Verfilmung genießen können, doch ihr Impact hält nicht vor. Sie hinterläßt keine bleibende Erinnerung, während das Kultbuch des Franzosen bei mir zu einer Erfahrung geworden ist, die ich mit der Zeit um die Jahrtausendwende verbinde. Roehlers Verfilmung eine unter vielen, leider.

    • Wilhelm Hauff: Mærchenalmanach auf das Jahr 1828 (Franckh 1827) | Das Wirtshaus im Spessart (Enßlin & Laiblins 1935, Wilhelm Limpert 1940, Georg Westermann 1948 und 1951, Donauland 1958, Abel & Müller 1959, Fackelverlag 1965, Buchverlag Der Morgen 1968, Goldmann 1971, Aufbau Verlag 1972 und 1976, Fleischhauer & Spohn 1978, Silberburg 1978, Verlag Ralph Suchier 1980, Lesen und Freizeit Verlage 1985, Kinderbuchverlag DDR 1988, Gelka 1989, Neuer Kaiser 1999, Swan 1999, Vitalis 1999, Hamburger Lesehefte 2008, Husum Druck- und Verlagsgesellschaft 2014, Europäischer Literaturverlag 2014, Vero Verlag 2019, Henricus - Edition Deutsche Klassik GmbH 2019, dearbooks 2021, Kloeden 2024)
    • Das Wirtshaus im Spessart (Bundesrepublik Deutschland 1958, Bavaria Film und Georg Witt-Film), Drehbuch: Heinz Pauck, Luiselotte Enderle und Curt Hanno Gutbrod, Regie: Kurt Hoffmann, 99 min, FSK: 12
    • Das kalte Herz (Deutschland 2016, Schmidtz Katze Filmkollektiv und Degeto Film GmbH), Drehbuch: Christian Zipperle, Johannes Naber, Steffen Reuter und Andreas Marschall, Regie: Johannes Naber, 119 min, FSK: 12, JMK: 12


    Zu den frühesten Schullektüren, an die ich mich erinnern kann, gehörte in der Mittelstufe dieser deutsche Klassiker. Vorher waren da rororo aktuell-Titel Pflicht, aber bei denen habe ich vergessen, wie die geheißen haben. Mein Taschenbuch stammte aus einem Klassensatz des Goldmann Verlags, falls ich mich nicht irre; auf jeden Fall gefiel mir, dass es sich dabei um reguläre Bücher handelte und nicht um eine lieblose gelbe Reclam-Ausgabe mit zu engem Satzspiegel und durchscheinenden Seiten.
    Ergo gab der Deutschlehrer vor, in welchem Tempo und mit welchen Vorgaben ich mir den Hauff zu Gemüte führte. Für Kunstmärchen fühlte ich mich zu alt, weshalb ich glaube, dass ich das Buch aus eigenem Antrieb kaum gewählt hätte. Trotz meiner kindlichen Vorbehalte las sich der Stoff angenehm, denn weder langweilte ich mich, noch hatte ich Schwierigkeiten mit dem Zugang. Das Märchen schilderte mir eine bürgerliche Welt aus dem Deutschland des 19. Jahrhunderts, zum Glück ohne pädagogischen Zeigefinger. Ich bin mir sicher, dass eines der Lernziele das Konzept einer Rahmengeschichte mit ihren Binnenerzählungen gewesen ist.
    Heute erinnere ich mich nur noch an die Räubergeschichte aus dem Rahmen und "Das kalte Herz", was wohl auch daran liegt, dass unsere Familie regelmäßig im Schwarzwald Urlaub gemacht hat. Bei der Geschichte um Peter Munk kommt hinzu, dass es eine naive, eben kindgerechte Kritik am kalten Kapitalismus gewesen ist, die mit starken Bildern gearbeitet hat.

    Die zweite Verfilmung Das Wirtshaus im Spessart von Kurt Hoffmann habe ich irgendwann im Fernsehen verfolgt. Sie gefiel mir erster Linie wegen der burschikosen Liselotte Pulver, die schauspielerisch glänzen durfte, wobei sie als Comtesse Franziska von und zu Sandau eine eigenwillige Weiblichkeit verkörpern dürfte, die zwar sympathisch angelegt war, aber nicht der Lächerlichkeit preisgegeben wurde. Für einen deutschen Film aus den 1950ern wurde ich zwar gut unterhalten, doch der Eindruck blieb ziemlich blaß.
    Denn mein besonderes Highlight waren die beiden Wolfgangs: Wolfgang Müller und Wolfgang Neuß. Durch diesen Film entdeckte ich vor allem Neuß, den Mann mit der Pauke, den Haschrebellen und zahnlosen Späthippie. Vor dem Hintergrund der braven Gesellschaft der Bundesrepublik war das ein Mensch mit Ecken und Kanten, ein Charakter, der gern mal provozierte und sein eigenes Ding machte. Aus meiner Dicht verkörperte er ein ähnliches Kaliber wie Coluche. Ich bewundere Neuß bis heute.

    Seit 1923 ist Das kalte Herz neunmal verfilmt worden. Von denen könnten mich jetzt nur noch die DEFA-Variante, die Adaption der Augsburger Puppenkiste und der Animationsfilm von 2013 locken. In der 3sat-Mediathek bin ich über die letzte Verfilmung mit Frederick Lau, Henriette Confurius, Moritz Bleibtreu, Milan Peschel und Jule Böwe gestolpert, die ich mir wegen des prominenten Castings gegönnt habe.
    Der Verfilmung war anzumerken, dass sie nicht Welt kosten durfte, denn die Tricks und Effekte waren bescheiden, die Sets waren übersichtlich, und die Dramaturgie hatte ihre Schwächen, so dass ich gewisse Längen spürte. Insgesamt empfand ich die Fassung trotz der Außenaufnahmen theaterhaft; eine Kinokarte hätte ich mir dafür nicht geleistet.

    • William Shakespeare: Coriolanus (vermutlich um 1608)
    • Coriolanus (Großbritannien 2011, Icon Entertainment International, Hermetof Pictures, BBC Films, Lonely Dragon, Lip Sync Productions LLC, Magna Films, Artemis Films, Magnolia Mae Films, Atlantic Swiss Productions, Synchronistic Pictures und Kalkronkie), Drehbuch: John Logan, Regie: Ralph Fiennes, 123 min, FSK: 16


    Coriolanus ist ein weniger bekanntes Werk Shakespeares und gewissermaßen ein Geheimtipp geblieben, einige sehen in ihm ein ungeliebtes Meisterwerk. Nun ließe sich einwenden, dass es sich dabei um ein Stück für die Bühne handelt, also kein genuin literarisches Werk; aber ich möchte einwenden, dass es sich dabei um eine meiner drei Lektüren für die Abiturprüfung handelt. Damals habe ich dafür eine Diogenes-Kassette mit der Schlegel-Tieck'schen Übersetzung zurückgegriffen, und bei dieser Übertragung ins Deutsche handelt es sich um einen Klassiker, der viel dazu beigetragen hat, den Barden aus Stratford-upon-Avon in unserem Sprachraum zu vereinnahmen und ihn quasi im Geiste zu einem von uns gemacht hat.
    Eigentlich wollte ich meine Abiturprüfung über Comics machen, weshalb ich mich rasch umentscheiden mußte. Meine Auswahl entsprang denn eher einem vagen Gefühl, weil ich einen Teil der Stücke noch gar nicht kannte, und ich dabei auf volles Risiko ins Blaue tippte. Deswegen kannte ich Coriolanus nur in groben Zügen, aber das reichte mir. Die Tragödie über einen römischen Kriegshelden, der sich in einen Berserker verwandelte, faszinierte mich wegen seines unberechenbaren und jähzornigen Charakters. Das politische Lehrstück trat in den Hintergrund, weil ich in dem Protagonisten einen höchst modernen und lebendigen Menschen von heute sah, der etwas Naives an sich hatte und doch zugleich brutal rigoros sein konnte.
    General Caius Martius ist eine martialische Kampfmaschine, die für die Herrscher Roms die Kastanien aus dem Feuer holt und als nützlicher Idiot funktioniert, bis ihn der Aufstieg als Senator an seine persönlichen Grenzen bringt. Coriolanus steigt aus, verläßt Rom und seine Familie und liefert sich seinem Erzfeind Aufidius aus. Schon sein Alleingang als Berserker hatte einen suizidalen Unterton, und der bleibt erhalten, indem er sich fortsetzt. Insofern empfand ich Coriolanus als Toten auf Urlaub, der mit seinem Leben längst abgeschlossen hat und fast wie der Antiheld aus einem Film Noir wirkt. Obwohl er keine Identifikationsfigur ist, treiben ihn moralische Prinzipien, für die er bis ans Äußerste geht.

    Umso verwunderter war ich, als ich in der 3sat-Mediathek auf diese einzige Verfilmung stieß, die auf der 61. Berlinale für den Goldenen Bären nominiert war. Ralph Fiennes führt Regie und spielt den Titelhelden, wobei er den Stoff modernisiert, indem er ihn in die Jugoslawienkriege der 1990er versetzt. Gedreht wurde in den zerstörten Gegenden von Belgrad und Montenegro, wo Vanessa Redgrave, Brian Cox und Gerard Butler in ihren Rollen glänzen. Zunächst fremdelte ich mit der Inszenierung, die mich jedoch bald fesseln konnte.
    Drehbuchautor John Logan griff auf den ursprünglichen Dramentext zurück, was in der Originalfassung flüssig rüberkommt; für die deutsche Synchronisation wurde zu meinem Leidwesen auf keine aktuelle Übersetzung zurückgegriffen, sondern auf eine verstaubt wirkende, bei der ich immer wieder das Papier rascheln hörte. Ralph Fiennes bietet hier eine Mischung aus Staatsdrama und Actionfilm, bei dem der Machismo des Krieges das Testosteron bis zum Anschlag bringt. Sein Anti-Braveheart empfehle ich guten Gewissens weiter; eine gelungene Shakespeare-Verfilmung.

  • Ich kenne dieses Stück auch nicht, aber ich kenne manches von Shakespeare nicht. Im Kindler Literatur Lexikon von 1974 steht, die bedeutendste Inszenierung stamme von Bertolt Brecht. Außerdem wird da eine weitere Verfilmung angeführt: "Coriolano, eroe senza patria", Regie: Giorgio Ferroni, Italien/Frankreich 1963.

  • In der deutschen Wikipedia war die Version von Fiennes als einzige Verfilmung aufgeführt. Kann schon sein, dass sich die italienische Adaptation auftreiben läßt, aber das erfordert bestimmt einigen Aufwand. Besonders anspruchsvoll scheint die nicht zu sein, denn in der englischen Fassung heißt der obskure Sandalenfilm reißerisch Thunder of Battle, und auf deutsch wird der als Schlacht der Gladiatoren aka Der Tribun von Rom vertrieben. Da erwarte ich nicht viel.

  • Bin weit davon entfernt, diesen Film zu empfehlen - klingt wirklich nach einem Sandalenfilm. Aber er war halt angegeben.

    Vielleicht ist die Spur von Brecht ergiebiger. Aber ich kann erst morgen in meine Brecht-Literatur reinschauen.

  • Soweit ich das recherchieren konnte, hat sich Brecht zwischen 1951 und 1955 mit Shakespeares Coriolanus befaßt, aber zu Brechts Lebzeiten ist es nie zu einer Aufführung gekommen.
    Diese Prämisse hat ein anderer deutscher Schriftsteller aufgegriffen und zu einem "deutschen Trauerspiel" verarbeitet, das am 15. Januar 1966 im Berliner Schillertheater seine Uraufführung hatte. Die Plebejer proben den Aufstand von Günter Grass verknüpft Brechts Proben für eine Aufführung am Deutschen Theater Berlin mit dem 17. Juni 1953, also dem Aufstand in der DDR.
    Als Sekundärliteratur hatte ich mir ein dreibändiges UTB Shakespeare Handbuch geholt, in dem ein Aufsatz "Die Plebejer proben den Aufstand" hieß.

  • In der Brecht-Biografie von Frederic Ewen wird das Stück nur kurz erwähnt:

    Zitat

    Die Diskussion um die anderen Stücke waren faszinierend, wobei Brecht probierte, fragte, ständig prüfte. Diesen "dialektischen" Prozeß wandte er mit besonderem Erfolg in einem Stück wie etwa seiner Bearbeitung von Shakespeares "Coriolan" an.

    • Émile Zola: Les Rougon-Macquart Tome 13: Germinal. Roman (Gil Blas 1885, Editions Jacques Vautrain 1946, La Guilde du Livre 1954, Mercure de France 1964, Livre De Poche 1971, Garnier frères 1979, Armand Colin 1985, Presses Universitaires de France 1988, Bibliotheque Lattes Paris 1989, J'ai Lu 1993, Marabout 1996, Seuil 1997, Larousse 1998, Flammarion 2000, Folio Classique 2002, Grasset 2018, Magnard 2019) | Germinal. Roman (Verlag von Gustav Fischer 1896, Gustav Grimms Verlag 1900, Hesse & Becker Verlag 1918, Verlag von Paalzow & Lehmann 1920, Kurt Wolff Verlag 1924, Schreitersche Verlagsbuchhandlung 1930, Volk und Wissen 1949, Schönbrunn Verlag 1949, Büchergilde Gutenberg 1955, Rita Schober 1960, Rütten & Loening Verlag 1968, Goldmann 1970, Fasquelle 1973, Insel Verlag 1983, Reclam 1986, Aufbau-Verlag 1998, Neuer Kaiser Verlag 2002, Manesse Verlag 2002, Weltbild Verlag 2004, Hofenberg 2015, Musaicum Books 2022)
    • Germinal (Belgien / Frankreich / Italien 1993, Pathé Films, France 2 Cinéma und DD Productions), Drehbuch: Claude Berri und Arlette Langmann, Regie: Claude Berri, 158 min, FSK: 16


    Mit seinem 20bändigen Romanzyklus um die Familie Rougon-Macquart steht Émile Zola in der Tradition Honoré de Balzacs, der in seinem unvollendeten Romanzyklus La Comédie humaine erstmals die Gesellschaft Frankreichs zu seiner Gegenwart porträtierte. Zolas Werke erschienen wie die Feuilletonromane zunächst als Fortsetzung in Zeitungen, wobei er sich den Anspruch setzte, sämtliche Schichten einer Epoche zubetrachten, von den höchsten Kreisen bis zu den Proletariern und Tagelöhnern. Jeder Roman legt einen anderen Schwerpunkt und betrachtet aus einer linken Perspektive ein Milieu, so dass jeder Band für sich allein gelesen werden kann; allerdings tauchen immer wieder Figuren aus anderen Bänden auf, womit sich ein Worldbuilding ergibt. Durch seinen Auftritt in der Dreyfuß-Affäre wurde Zola selbst zu einer Person der Zeitgeschichte.
    Zwischen 1870 und 1893 entstand das Porträt der Großfamilie Rougon-Macquart, in denen Zola über drei Generationen deren Schicksal im Zweiten Kaiserreich verfolgt. Historisch beschreibt das Zweite Kaiserreich Frankreich unter Napoléon III., der von 1852 bis 1870 herrschte. Natürlich schwankte über den langen Zeitraum die Qualität, weshalb zum Beispiel Nana und Germinal zur Weltliteratur gerechnet werden, während sein Band La Bête humaine als früher Thriller vor allem durch den Mörder Jacques Lantier in Erinnerung geblieben ist. Schon seit einigen Generationen zählt Zola in Frankreich zum unvermeidlichen Schulstoff, weshalb seine Werke immer wieder neu aufgelegt werden. Ergänzt wird die Lektüre durch Regalmeter von Sekundärliteratur.
    Germinal widmet sich dem Bergbau im Norden des Landes, eine Schlüsselbranche für die Industrie des 19. Jahrhunderts, die durch schwere Unglücke in den Minen und harte Arbeitsbedingungen gekennzeichnet ist. In seiner Hauptfigur Étienne Lantier zeichnet Zola einen idealistischen Gewerkschafter, der das Leben der Kumpel verbessern will, aber mit widrigen Umständen zu kämpfen hat.

    Durch seinen Status als Nationalepos der Grande Nation wurde der Roman erstmals als Stummfilm auf die Leinwand gebracht. Die bislang letzte Verfilmung ist mittlerweile über 30 Jahre alt und galt mit Produktionskosten von 165 Millionen Franc seinerzeit als teuerster französischer Film. Vom Parlament der Region Nord-Pas-de-Calais wurde die Verfilmung mit 10 Millionen Franc subventioniert, die Berri wegen des Erfolges zurückzahlen konnte. Gedreht wurde unter anderen im Denkmal der Zeche Arenberg. Im Frankreich wurden sechs Millionen Zuschauer gezählt, weltweit spielte der Film 36 Millionen Dollar ein. Insgesamt wurde Germinal zwölfmal für den César nominiert, gewann aber nur in zwei Kategorien.
    Damals habe ich den Film im Kommunalen Kino gesehen, das eine starke Verbindung zum Centre Culturel Français vor Ort hatte. Der Mainstream des Nachbarlandes war mit seiner Starbesetzung - Miou-Miou, dem jungen Gérard Depardieu, Jean Carmet und Anny Duperey - ein Wegbereiter des Arthouse-Kinos. Die Verfilmung wandte sich an ein breites Publikum und wollte als historischer Film gut unterhalten, was ihr gelungen ist. Aber nüchtern betrachtet kann sie mit ihrer Vorlage nicht standhalten.

    • Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. Roman (Rowohlt 2005)
    • Die Vermessung der Welt (Deutschland / Österreich 2012, Boje Buck Produktion und Lotus Film), Drehbuch: Daniel Kehlmann, Detlev Buck und Daniel Nocke, Regie: Detlev Buck, 119 min, FSK: 12, JMK: 10


    Daniel Kehlmann stammt aus einer Künstlerfamilie. Mit seinem dritten Roman Ich und Kaminski, einer Satire auf den Kunstbetrieb, die rasch verfilmt wurde, gelang ihm 2003 der Durchbruch, doch mit seinem nächsten Werk, Die Vermessung der Welt, wurde er zu einem Erfolgsschriftsteller, der mit seinen Bestseller sowohl vom Publikum geliebt als auch aufmerksam von der Kritik geschätzt wird. Sein burlesker historischer Roman über die beiden deutschen Persönlichkeiten Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß ging allein im deutschsprachigen Raum 2,3 Millionen mal über den Ladentisch, weltweit waren es 6 Millionen Exemplare. Sein zweiter historischer Roman Tyll widmete sich 2017 der Figur Till Eulenspiegel und dem Dreißigjährigen Krieg.
    Durch seine spürbare Lust am Fabulieren bereitet er bildungsbürgerliche Stoffe für eine weite Öffentlichkeit niedrigschwellig auf und verführt so zum Lesen. Kehlmann nutzt die erzählerischen Freiheiten der Belletristik, um seine Charaktere schärfer zu konturieren oder um Pointen auf die Spitze zu treiben, wodurch er sein Publikum neugierig auf die von ihm behandelten Stoffe macht. Seinen Roman nahm ich erstmals bei einer Lesung im Radio wahr, und als ich ihn lesen hörte, entstand vor meinem inneren Auge ein Cartoon über die beiden Geistesgrößen, was mir gefiel. Auf seine Weise entstaubte Kehlmann die Klassik, ohne sie lächerlich zu machen, und bot so einen Zugang für jüngere Generationen. Deshalb schätze ich ihn als anspruchsvollen Unterhaltungsschriftsteller, der mit seinen Zeitgenossen aus der Hochliteratur mühelos mithalten kann. Für mich verkörpert Kehlmann ein entspanntes Verhältnis zwischen E und U, das sich an der angelsächsischen Kultur orientiert.

    Der Regisseur, Produzent und Schauspieler Detlev Buck ist eine feste Größe in der deutschen Filmbranche, dessen Repertoire von Komödien über Krimis bis zu einer Serie von Kinderfilmen reicht. Handwerklich routiniert liefert er Unterhaltung für die breite Masse, weshalb ich in ihm einen Harald Reinl seiner Generation sehe. Durch seine Cameos ist er in unzähligen Filmen optisch präsent, zudem dreht er Werbeclips und Musikvideos. Durch seine NDR-Clips der Reihe "Das Beste am Norden" setzt er im Fernsehen seine Duftmarke. Seine zweite Literaturverfilmung kam erst 2021 in die Kinos, aber dann handelte es sich um den Klassiker Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull von Thomas Mann, und bei dem Drehbuch wurde er wieder von Daniel Kehlmann unterstützt.
    Bei seiner ersten Literaturadaptation mußte er den Stoff für das Medium Film neu gestalten, wodurch viel vom Reiz der Vorlage verlorengeht. Buck kann zwar auf eine Riege von überzeugenden Schauspielern zurückgreifen, aber häufig illustriert er nur mit üppigen Ausstattungen das Geschehen, so dass die meisten Szenen wie ein besseres Fernsehspiel wirken. So richtig hat mich die Verfilmung bloß bei den imposanten Landschaftsaufnahmen gepackt, etwa wenn Humboldt in der russischen Steppe mit seinen Begleitern ringt. Insgesamt wirkt die Verfilmung wie Eventmovie, der auch im Schulunterricht brav seine Pflicht erfüllt und teilweise etwas Altbackenes an sich hat.

    • John Irving: The World According to Garp (E. P. Dutton 1978) | Garp und wie er die Welt sah (Rowohlt 1979, Verlag Volk und Welt 1988, Diogenes 2012)
    • The World According to Garp | Garp und wie er die Welt sah (USA 1982, Warner Bros. und Pan Arts), Drehbuch: Steve Tesich, Regie: George Roy Hill, 136 min, FSK: 16


    John Irving hatte schon drei Romane veröffentlicht und war überzeugt, dass ihn sein Verlag nicht genug unterstützte, weil ihm der Durchbruch nicht gelang. Deshalb suchte er sich für seinen vierten Roman einen neuen Verlag, der mehrere Jahre ein Bestseller wurde, und dessen Taschenbuchausgabe 1980 den National Book Award for Fiction gewann. Obwohl das nichtlinear erzählte Buch mit seinen 609 Seiten als unverfilmbar galt, wurde es rasch für die große Leinwand adaptiert.
    In den 1960ern verbrachte Irving zwei Semester in Wien, wo er viel Zeit in Kaffeehäusern verbrachte, weil ihm seine Bude zu kalt erschien. Damals las er Die Blechtrommel von Günter Grass, die ihn zu seinem ersten Roman inspirierte. Seine Zeit in Europa findet sich immer wieder in seiner Prosa, weshalb seine deutschsprachigen Übersetzungen zu einer festen Größe im Buchhandel geworden sind.
    In seinen dicken Schmökern verbindet er autobiographische Motive postmodern mit einem feministischen Impetus, mit denen er Ende der 1970er Jahre einen Nerv traf und den Zeitgeist auf den Punkt brachte. Dadurch dokumentiert es eine zeithistorische Phase der amerikanischen Geschichte, die in der westlichen Welt starke Resonanz gefunden hat. Mit skurriler Note liefert er anspruchsvolle Unterhaltung für ein gehobenes Publikum, das seine bizarren und unwahrscheinlichen Zufälle liebt.
    Doch in den letzten Jahren ist sein Ruhm geschwunden, denn in seinen tragikomischen Satiren über die amerikanische Gesellschaft wiederholen sich seine bekannten Topoi allzu oft, so dass seine Kritiker eine mangelnde Variation seiner Register beklagen. Bezeichnend finde ich, dass er sechs Jahre benötigte, um seinen letzten Roman zu schreiben.

    Für die Verfilmung verpflichtete das Filmstudio mit George Roy Hill einen routinierten Handwerker, der allerdings als alter Herr gewisse Probleme mit dem Stoff hatte. Insbesondere ging es dabei um Garps beste Freundin, die Transfrau Roberta Muldoon, die vor ihrem Coming Out ein professioneller Footballspieler war, die Hill nur widerwillig ernsthaft inszenierte. Mit einem Budget von 17 Millionen Dollar spielte der Film knapp 30 Millionen Dollar ein.
    In der Verfilmung gab Glenn Close ihr Debüt, aber mein Augenmerk lag auf Robin Williams, den ich seit meiner Kindheit als den Außerirdischen Mork vom Ork kannte. Danach hatte er Nebenrollen in Filmen, die hier nicht in den Verleih kamen; und seine erste Hauptrolle in Robert Altmans Comicverfilmung Popeye floppte an den Kinokassen. Garp war somit seine erste Charakterrolle, die ihm half, in Hollywood zu einem Star zu werden. Bei den Preisen ging Williams leer aus, denn die räumten Glenn Close und John Lithgow, der Roberta Muldoon verkörperte, ab.
    Die Verfilmung besitzt schon Kinoqualität und kann mit Szenen aufwarten, die einem im Gedächtnis bleiben, aber insgesamt betrachtet, zerfällt sie sehr in ihre Einzelteile. Wohlwollend darf sie als gelungen bezeichnet werden, obwohl sie heute weitgehend vom Radar verschwunden ist.

  • Ja, "gelungen" würde ich die Verfilmung auch nennen. Nicht so gut wie die folgende Verfilmung des "Hotel New Hampshire" aber soweit man so einen wilden Stoff überhaupt verfilmen kann (Einige drastische Schlüsselszenen konnte man in einem Maistreamfilm nun mal nur kurz erwähnen.), hat man es gut gemacht. Das "Zerfallen in Einzelteile" liegt meiner Meinung nach aber auch an der stark episodenhaften Erzählweise des Buches selbst mit den ganzen "Roman im Roman"-Kapiteln.

    "Garp" kam Mitte der 80er auch in der DDR raus, allerdings als einziges seiner Werke und nach der Wende habe ich mir alle Vorgänger und dann auch die Nachfolger gekauft. "Zirkuskind" war für mich der letzte 'große Wurf' . Bei "Die vierte Hand" habe ich mittendrin aufgegeben, nachdem auch schon "Witwe für ein Jahr" teilweise langweilig war. Ironischerweise thematisiert er hier ja u.a. auch daß, was Du und die Kritiker über die ständig wiederholenden Motive sagen. Ich weiß jetzt nur nicht, ob das zufällig geschah oder schon damals eine Art Antwort auf die Kritik sein sollte.

    Jeder Idiot kann eine Krise meistern. Es ist der Alltag, der uns fertig macht.

    • Margaret Atwood: The Handmaid’s Tale (McClelland and Stewart 1985, Seal Books 1986, Fawcett 1986, Virago Press 1994, Emblem Editions 2017) | Der Report der Magd. Roman (Claasen 1987, List 2006)
    • The Handmaid’s Tale | Die Geschichte der Dienerin (Deutschland / USA 1990, Bioskop Film, Cinecom Entertainment Group, Cinétudes Films, Daniel Wilson Productions Inc., Master Partners und Odyssey), Drehbuch: Harold Pinter, Regie: Volker Schlöndorff, 108 min, FSK: 16


    In der arte-Mediathek findet sich ein gut 50 Minuten langes Porträt über die Grande Dame der feministischen Literatur aus Kanada. Atwood lehrte an verschiedenen Universitäten Literaturwissenschaften und lebte in den USA, im Vereinigten Königreich, in Frankreich, Italien und Deutschland, heute wohnt sie in Toronto. Zunächst trat sie als Literaturkritkerin und Lyrikerin in Erscheinung. Seit 1966 erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, seit 2010 ist sie Fellow der Royal Society of Literature, und 2017 bekam sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zeitweise war sie Präsidentin der Writers’ Union of Canada und Präsidentin der englischsprachigen Sektion des kanadischen P.E.N.-Zentrums, derzeit ist sie eine der Vizepräsidenten des PEN International.
    Meist wird ihre Belletristik der Science Fiction zugerechnet, aber sie selbst bevorzugt Speculative Fiction. Ihre Dystopie über den fundamental-christlichen Gottesstaat Gilead in der zerfallenden USA wurde zunächst zwiespältig aufgenommen und ist im engeren Sinne auch keine Fiktion, sondern eine Extrapolation dessen, was Atwood in ihrer Gegenwart erlebte. Inspiriert wurde sie dabei sowohl von Organisationen der christlichen Rechten, die den Präsidenten Ronald Reagan unterstützten, als auch vom Umsturz des Schahs im Iran 1979 durch das Mullah-Regime des Ayatollah Khomeini, was sie durch zahlreiche Hinweise belegt.
    Sprachlich liefert sie mit dem Bewußtseinsstrom ihrer anonymen Hauptfigur, der Magd Offred, eine radikal subjektive Sicht auf die Verhältnisse in der nahen Zukunft. Dabei spielt der Titel auf Geoffrey Chaucers The Canterbury Tales (um 1400) an, der anhand einer Pilgerreise die mittelalterliche Ständegesellschaft nachzeichnet und seinerzeit als populäres Buch dazu half, Englisch als Literatursprache durchzusetzen. Mit ihrem Epilog aus dem Jahr 2195 bricht sie allzu simple Interpretationen metafiktional auf und verwahrt sich so vor einer Vereinnahmung durch wen auch immer.
    Mittlerweile ist ihre Rezeption ebenso gespalten wie das politische Amerika. Einerseits wird ihr Roman in der High School gern als Lektüre für Examenskuse gewählt, und an den Universitäten wird er wegen seiner historischen und religiösen Komponenten in Politikwissenschaften und Soziologie eingesetzt. Andererseits wird er häufig zensiert, beispielsweise wenn er aus öffentlichen Bibliotheken entfernt wird oder an Schulen verbannt wird. 2022 wurde im Rahmen einer P.E.N.-Gala eine feuerfeste Ausgabe des Romans vorgestellt, die Atwood mit einem Flammenwerfer zu verbrennen versuchte, um so das Bewußtsein über Buchverbote zu schärfen - erfolglos.
    2019 erschien mit dem Roman The Testaments | Die Zeuginnen eine Fortsetzung. Seit 2017 läuft auf dem Streamingdienst Hulu eine Verfilmung als Serie, die inzwischen in die sechste Staffel geht.

    Die Verfilmung wurde seinerzeit zwiespältig bis ungnädig aufgenommen, zumal sie unter schwierigen Umständen zustandekam. Zunächst war Karel Reisz als Regisseur vorgesehen, der von Volker Schlöndorff abgelöst wurde und in dem Werk eine lieblose Auftragsarbeit sieht. Mit dem späteren Literatur-Nobelpreisträger Harold Pinter saß zwar ein Schwergewicht am Drehbuch, der jedoch mit seiner Arbeit nicht zufrieden war und am liebsten seinen Credit zurückgezogen hätte. Zu guter Letzt mäkelten die Kritiker, sie wüßten nicht, worauf die Verfilmung hinauswolle.
    Zur Zeit steht sie in der arte-Mediathek, was mir den Rewatch erleichterte. Als er im Fernsehen lief, habe ich ihn gesehen, aber ich konnte nur noch an wenig erinnern. Mit Natasha Richardson in der Hauptrolle, Faye Dunaway, Robert Duvall und Elizabeth McGovern ist die Verfilmung hochkarätig besetzt, und auf eine Stimme aus dem Off wird verzichtet. Bei den Settings wird klar, dass mit bescheidenen Mitteln produziert wurde; den stärksten Eindruck haben bei mir die Kostüme mit ihrem Farbcode hinterlassen. Die üblen Verrisse aus den 1990ern finde ich ungerechtfertigt und überzogen, denn mir hat die Verfilmung im Rahmen ihrer Verhältnisse gefallen. Sie ist wesentlich besser als ihr Ruf.

    • John Buchan: The Thirty-Nine Steps (William Blackwood and Sons 1915, Thomas Nelson & Sons Ltd. 1922, Pan Books 1951, Penguin Books 1957, Pan Macmillan 1967, Wordsworth Editions Ltd 1993, Fabbri Publishing Ltd 1983, Chatto & Windus 1985, Penguin Classics 2007, William Collins 2012, Forgotten Books 2019) | Die neununddreißig Stufen (Diogenes Verlag 1967)
    • The 39 Steps | Die 39 Stufen (Großbritannien 1935, Gaumont-British Picture Corporation), Drehbuch: Charles Bennett, Alma Reville und Ian Hay, Regie: Alfred Hitchcock, 86 min, FSK: 16


    Was die Literaturgeschichte betrifft, habe ich mich besonders für die Genres Krimi und Science Fiction interessiert, und da haben Anthologien eine besondere Rolle gespielt. Um mich näher mit Krimis und Spionagegeschichten zu befassen, lieferten die Anthologien von Mary Hottinger einen Einstieg, weshalb ich eine Diogenes-Phase hatte, in der ich treu das Programm des Schweizer Verlags verfolgte. Auf diese Weise stieß ich auf die Vorlage von einem frühen Hitchcock-Klassiker, zu dem ich mir auch die Fortsetzungen besorgte, also die Serie um Richard Hannay, von der vier Romane auf deutsch erschienen.
    Die Filmvorlage war das Seriendebüt und lieferte die Blaupause für den klassischen Thrillerplot, in dem Unschuldiger zuviel weiß und der Polizei den wahren Schuldigen liefern muß. Der auch heute noch beliebte Roman besteht hauptsächlich aus einer langen Verfolgungsjagd quer über die Insel, weshalb er mich stark an das Tim und Struppi-Album Die schwarze Insel erinnerte. Wenn der Autor in seinen Memoiren nicht geflunkert hat, wurde Buchan dazu von Edmond Ironside inspiriert, einem britischen Spion während des Zweiten Burenkrieges. Bei all seinen Stärken fehlt dem ersten Band das stärkste Pfund der Serie, nämlich Hannays Sidekick, sein bester Freund, der schillernde Sandy Arbuthnot, der spätere 16. Lord Clanroyden; als dessen Vorbild schimmert deutlich T.E. Lawrence durch, genau: Lawrence von Arabien. Sandy Arbuthnot erinnert mich an Indiana Jones.
    John Buchan begann seine Laufbahn zwar als Journalist, allerdings handelt es sich bei dem Schotten um einen prominenten Politiker, der den Geheimdienst von innen kannte, als Kriegsberichterstatter unterwegs gewesen ist und als 1. Baron Tweedsmuir geadelt wurde. 1934/35 vertrat er als Lord High Commissioner den britischen König bei der Generalsynode der Church of Scotland, und krönte seine Karriere mit dem Amt des Generalgouverneurs von Kanada. Nebenher blieb er literarisch produktiv, denn neben den sechs Richard-Hannay-Romanen liegen von ihm vier Edward-Leithen-Romane, Biographien über Augustus, Oliver Cromwell und Sir Walter Scott sowie weitere Erzählungen vor.

    Bislang wurde der Roman dreimal verfilmt; neben der Version von Hitchcock entstand 1959 ein britisches Remake fürs Kino und 1978 eine weitere Kinofassung, die auch unter dem Titel Wettlauf mit dem Tod bekannt ist.
    Mit einem Budget von annähernd 60.000 Pfund war der Hitchcock, der von Orson Welles als Meisterwerk bezeichnet wird, eine britische Major-Produktion, mit der der internationale Markt erobert werden sollte. Die Hauprollen wurden mit den damaligen Stars Robert Donat und Madeleine Carroll besetzt. Erstmals kommt hier das Plot Device des McGuffin zum Einsatz, daneben glänzt Carroll als frühe eiskalte Blondine in einem Hitchcock. In einer Publikumsumfrage wurde die Verfilmung 1935 zum beliebtesten Film gewählt und befindet sich bis heute unter den Top 100 der besten britischen Filme aller Zeiten.
    Trotz all diesen Lobes hätte Hitchcock lieber einen späteren Hannay-Roman vorgezogen, was ich gut nachvollziehen kann, denn mit einem Sandy Arbuthnot vor der Kamera wäre noch einiges andere möglich gewesen.

    • Norbert Jacques: Dr. Mabuse, der Spieler (Ullstein 1920, Vier Falken Verlag 1948, Rowohlt 1952, Bertelsmann Lesering 1961, Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins 1994, Molino 2022, Henricus - Edition Deutsche Klassik GmbH 2025)
    • Dr. Mabuse, der Spieler (Deutschland 1922, Uco-Film GmbH, 2000 von der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung restauriert), Drehbuch: Fritz Lang und Thea von Harbou, Regie: Fritz Lang, deutsche Version: 195 min, restaurierte Version: 270 min, FSK: 12


    Der luxemburgische Journalist und Schriftsteller Norbert Jacques ist eine zwiespältige Figur, die heute vergessen wäre, gäbe es nicht seinen Bösewicht Dr. Mabuse. Nachdem er seine Schulzeit beendet hatte, siedelte Jacques in seine Wahlheimat um, das Deutsche Kaiserreich. Wegen seiner politischen Artikel bekam er als Journalist immer wieder Schwierigkeiten in den Redaktionen; seine Reisen verarbeitete er in Artikeln und Büchern. Er verfaßte 50 Bücher sowie mehrere hundert Kurzgeschichten und Erzählungen und war bei seinen deutschen Schriftstellerkollegen wohlgelitten. René Schickele verglich ihn mit Honoré de Balzac und Arthur Schnitzler, und Thomas Mann fand lobende Worte. Wegen seines Einsatzes für seine Wahlheimat Deutschland hatte er im Benelux lange Zeit einen schlechten Ruf.
    Dr. Mabuse verkörpert das Verbrechen schlechthin, und das zunächst als Zeitgeist der Inflationsjahre nach dem Weltkrieg. Insofern gleicht er der Pulpfigur Fantômas, mit der Pierre Souvestre und Marcel Allain in ihren rasch fabrizierten Groschenheften von 1911 bis 1913 den französischen Markt prägten. Ich finde es merkwürdig, dass es zwischen den beiden Franchises überhaupt keine Querverbindungen gibt; wenn es sie gegeben hätte, wäre das sicher inzwischen irgendwo nachlesbar. Jacques' Roman über das Genie des Verbrechens, einen Mann mit tausend Gesichtern und hypnotischen Fähigkeiten erschien zunächst in Fortsetzung in der Berliner Illustrirte Zeitung (BIZ) des Ullstein Verlags. Mit der Verfilmung ging Dr. Mabuse in die Filmgeschichte ein.
    Weil ich mich für das Thema interessierte, griff ich zu, als 1994 Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins Norbert Jacques' Dr. Mabuse-Romane in drei günstigen Bänden auflegten. Für die von Michael Farin und Günter Scholdt herausgegebene Neuauflage sprachen die üppigen Dossiers der Experten, die reichlich Hintergrundmaterial sowohl zu den Büchern als auch den Filmen des Franchise lieferten. Für einen Nerd wie mich war das eine Fundgrube, die ich zu schätzen wußte.

    Aus dem mittelprächtigen Unterhaltungsroman schufen Lang und von Harbou in den Jofa-Ateliers Berlin-Johannisthal einen Meilenstein der jungen Filmgeschichte. Denn Dr. Mabuse lebt von der modernsten Technik seiner Zeit, denn damals waren schnelle Autos und Flugzeuge die jüngsten Errungenschaften, während das wirtschaftliche Auf und Ab mit seinen Spekulationen und Krisen für die kleinen Leute undurchschaubar war. Mit einer Laufzeit von über viereinhalb Stunden verlangt der zweiteilige Stummfilm seinem Publikum etwas ab, liefert dafür aber Bilder, die sich ins Gedächtnis brennen, sodass die nietzscheanische Kontur des bösen Übermenschen sichtbar wird.
    In gewisser Weise war Lang prädestiniert für diese Aufgabe, da er sein Filmhandwerk bei dem Pionier Joe May lernte, dessen populäre Genreserials, häufig mit exotischem Flair, beliebt waren. Aus dieser Perspektive ist Dr. Mabuses Organisation eine verbesserte Version des kriminellen Geheimbunds Die Spinnen, den Lang 1919 für Erich Pommer in Szene setzte. Verkörpert wurde Dr. Mabuse von Rudolf Klein-Rogge, den Lang noch in weiteren Filmen als Schurke einsetzte.
    Schade, dass einige Leute keine Stummfilme mehr gucken; ihnen entgeht da etwas.

  • Wahrscheinlich waren die Ähnlichkeiten zwischen Fantomas und Dr. Mabuse so offensichtlich, dass man sie gar nicht erwähnte.

    Man sehe sich bloß mal die damaligen Filmplakate von Fantomas (1913) und Dr. Mabuse, der Spieler (1922) an, das ist dasselbe Motiv.

  • Die Kirsche auf dem Kuchen findet sich in der Comicgeschichte: Es gibt von Edgar P. Jacobs eine große Illustration, soweit ich mich erinnere, muß das ein Coverentwurf gewesen sein, der exakt dieses Motiv für das Gelbe M aufgreift. Das muß etwas tief im Unbewußten der westeuropäischen Kultur sein, etwas in der Art eines Archetyps.
    Ein Kulturwissenschaftler könnte zu dem Thema bestimmt einen 500 Seiten starken Wälzer stricken, wie sich das Verbrechen im 20. Jahrhundert verkörpert hat.

    • Evangelium nach Matthäus (um 80 bis 90 nach Christus)
    • Il Vangelo secondo Matteo | Das 1. Evangelium – Matthäus | The Gospel According to Matthew (Italien / Frankreich 1964, Arco Film und Lux Compagnie Cinématographique de France), Drehbuch und Regie: Pier Paolo Pasolini, 137 min, englischsprachige Fassung: 91 min, nichtzensierte Fassung: 147 min, FSK: 12


    Zur Feier des Tages erlaube ich mir mal diese spezielle Literaturverfilmung.
    Den Inhalt des Evangeliums setze ich als bekannt voraus.

    Denn ich schätze Pier Paolo Pasolini nicht nur als einen Klassiker der europäischen Filmgeschichte sondern auch als Intellektuellen, der mit seinem Werk eine breite Öffentlichkeit erreicht hat. Schon die gewählte Vorlage sorgt bei einem schwulen und atheistischen Kommunisten für Stirnrunzeln, aber der antidogmatische Pasolini, der vom Journalismus und der Schriftstellerei kam, scheint sich für den richtigen Ansatz entschieden zu haben, weil im Laufe der Jahrzehnte sogar seine ärgsten Kritiker verstummt sind und ihn für sich entdeckt haben.
    1964 lief der Film im Wettbewerb um den Goldenen Löwen auf den Internationalen Filmfestspielen von Venedig, wo Pasolini für seine Regie mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde. Die Berufsvereinigung der italienischen Filmjournalisten würdigte das Werk 1965 mit dem Nastro d’Argento in vier Kategorie, in einer weiteren war es nominiert. Als der Film in die Kinos kam, hatten in erster Linie Marxisten und Katholiken ihre Schwierigkeiten mit der neorealistischen Bibelverfilmung, während beispielsweise Andrei Tarkowski den Film schätzte.
    Dieser etwas andere Umgang mit der antiken Vorlage war kein Schuß aus der Hüfte, vielmehr besaß sie einen jahrelangen Vorlauf, war wohl durchdacht und sorgfältig umgesetzt worden. Der Italiener Pasolini beruft sich in seinem Werk mehrmals auf den Heiligen Franz von Assisi, in dem er quasi einen frühen Sozialisten sieht, einen Freund der Tiere und der gewöhnlichen Leute. Pasolini dreht in diesem Zusammenhang nicht nur eine Reportage über Palästina, er erarbeitet ein komplexes Konzept für seine Bibelverfilmung mithilfe seines intellektuellen Freundeskreises. Dazu zählen Prominente wie Natalia Ginzburg, Alfonso Gatto, Enzo Siciliano und Juan Rodolfo Wilcock, die vor der Kamera kleinere und größere Rollen übernehmen.
    Pasolini schwebt ein dokumentarischer Ansatz vor, weshalb er Laien oder Personen suchte, die keine oder wenig Schauspielerfahrung haben. Den Apostel Philippus spielte zum Beispiel der damals 22jährige Student Giorgio Agamben, heute ein berühmter Philosoph, der sich mit dem Homo sacer und dem Ausnahmezustand befaßt. Als Kulisse sucht Pasolini eine Region, die von der Industrie möglichst unberührt ist, und findet sie in Süditalien. Die Gemeinde Matera in der Basilicata dient ihm als antikes Jerusalem; der Ort zehrt noch heute von dem Dreh, denn auch Mel Gibsons Die Passion Christi entstand dort. In seiner schwarzweißen Bibelverfilmung verkörpert eine junge Frau, Rossana di Rocco, den Erzengel Gabriel, der Maria erscheint; die Mutter des Regisseurs, Susanna Paolini, stellt die alte Maria dar.
    Zunächst war der Vatikan von dem Film entsetzt, doch 1995 nahm die römisch-katholische Kirche Pasolinis Werk in die Liste der besten Filme auf, und 2015 betrachtete ein Kreis christlicher Kritiker für den Osservatore Romano die Verfilmung als besten religiösen Film aller Zeiten. Deswegen lege ich dieses Meisterwerk allen ans Herz, die sonst eigentlich nichts mit Bibelverfilmungen anfangen können.

    • Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick. Ein deutsches Märchen in drei Akten (Propyläen Verlag 1930, Bermann-Fischer 1947, S. Fischer Verlag 1951, Buchgemeinschaft Donauland 1960, Aufbau-Verlag 1967, Verlag Moritz Diesterweg 1972, Reclam 1992, Deutsche Post AG 2006)
    • Der Hauptmann von Köpenick (Bundesrepublik Deutschland 1956, Real-Film GmbH), Drehbuch: Helmut Käutner und Carl Zuckmayer, Regie: Helmut Käutner, 93 min, FSK: 12


    Am 16. Oktober 1906 verkleidete sich der Schuhmacher Friedrich Wilhelm Voigt (1849 - 1922) als Hauptmann der Preußischen Armee, kommandierte einen Trupp gutgläubiger Soldaten und marschierte mit ihnen zum Rathaus Cöpenick. Der aus Ostpreußen stammende Hochstapler besetzte das Rathaus, verhaftete den Bürgermeister und raubte die Stadtkasse. Als Köpenickiade ging sein Schelmenstück ein die Populärkultur ein und machte ihn zu einem Prominenten.

    Die Resonanz schlug sich auch in der Kultur nieder. Noch im selben Jahr des Geniestreichs fand die Posse ihren Weg auf die Bühne. Siegfried Dessauer schrieb und drehte 1926 den ersten längeren Kinofilm über den Hoax.
    Vor Zuckmayer bearbeiten den Stoff zum einen der damals bekannte Kriminalschriftsteller Hans Hyan, der noch 1906 einen illustrierten Gedichtband vorlegte, und 1930 der rheinische Heimatdichter und Redakteur Wilhelm Schäfer mit einem mäßig erfolgreichen Roman. Langfristig setzte Zuckmayers Drama den Standard, was sich an bislang fünf Verfilmungen ablesen läßt.
    Soweit ich mich erinnere, hatte ich diese Version in der gymnasialen Unterstufe als Lektüre im Deutschunterricht, und die Fassung des Aufbau-Verlags deutet darauf hin, dass es jenseits des Eisernen Vorhang ähnlich gelaufen ist. Die Kritik am hohlen Militarismus und Obrigkeitsstaat des Wilhelmischen Kaiserreich war natürlich ein gefundenes Fressen für die 68er, die am Pult standen. Obwohl ich mich dabei nicht langweilte, hielt sich meine Begeisterung in Grenzen. Ich weiß nicht, ob Zuckmayer heute noch auf dem Lehrplan steht; ich könnte es nachvollziehen, wenn er allmählich in der Versenkung verschwunden ist.

    Die zweite Verfilmung von Helmut Käutner mit Heinz Rühmann in der Titelrolle belegt einerseits künstlerische Kontinuitäten vom Dritten Reich in die Bundesrepublik, denn weder Käutner noch Rühmann waren im Widerstand und müssen heute kritisch betrachtet werden.
    Käutner schrieb Drehbücher, führte Regie, trat als Schauspieler auf und verfaßte Liedtexte. In den finsteren Jahren des Führerstaats konnte er sich eine gewisse Unabhängigkeit bewahren, auch wenn seine in der Zeit gedrehten Spielfilme Große Freiheit Nr. 7 (1944) mit Hans Albers und Unter den Brücken (1946) erst nach der Befreiung in die deutschen Kinos kam. Nach dem Krieg wurde er zu einem der einflußreichsten Regisseure des Nachkriegskinos und erwarb sich besonders durch seine Literaturverfilmungen einen guten Ruf; bleibt anzumerken, dass er mit Curd Jürgens ebensfalls Zuckmayers Stück Des Teufels General (1955) auf die Leinwand brachte. Nachdem der Neue Deutsche Film 1962 an die Öffentlichkeit getreten war, verlegte er seinen Schwerpunkt auf Fernsehen und Hörspiel.
    Als Kind mochte ich Heinz Rühmann und seine Filme, seine problematische Vergangenheit lernte ich erst später kennen. Rühmann war mit Maria Bernheim verheiratet, die von den Nazis als Jüdin diskriminiert wurde, zählte aber zum Bekanntenkreis des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels. Der Schauspieler gab dem Druck seiner "Freunde" nach und ließ sich 1938 von Bernheim scheiden, so dass er zum bestbezahlten Kinostar des Dritten Reichs werden konnte.
    Goebbels war bei seiner Propaganda subtil vorgegangen, weshalb Rühmann bei der Entnazifizierung seinen Persilschein bekam. Dennoch war es für ihn schwierig an vergangene Erfolge anzuknüpfen; so ging eine von ihm gegründete Filmgesellschaft pleite. Erst die Rolle als Hauptmann von Köpenick in Käutners Kassenerfolg ebnete Rühmann die Bahn, sich in die Herzen von Trizonesien zu spielen.
    Damals besaß das Kino noch einen wesentlich größeren Stellenwert als heute, doch die zehn Millionen Zuschauer in fünf Monaten sind eine Hausnummer, darüber hinaus erhielt der Film zahlreiche Preise und wurde in 53 Länder exportiert. Der erste deutsche Nachkriegserfolg in den USA wurde 1957 sogar für den Oscar nominiert.
    Gestern habe ich mir den Film in der ARD-Mediathek angesehen und war erstaunt, wie gut er noch funktioniert. Zugegeben, er wirkt leicht verstaubt, aber Voigts Dilemma zwischen den Mühlen der Bürokratie und seine verzwickte Lage - ohne Paß und ohne Aufenthalt - bieten noch heute Gesprächsstoff. Der kleine Film hat seinen Reiz.

  • Ich würde es Käutner zumindest anrechnen, daß er in der Nazizeit Filme drehte, die dem Regime nicht ins Konzept paßten und die daher nicht gezeigt wurden. Dazu gehörte sicher schon einiges.

    Von Heinz Rühmann, den ich als Schauspieler schätze, habe ich ungute Dinge gehört, was sein Verhalten im "Dritten Reich" betrifft. Er hat zum Beispiel den Kontakt zu seinem Kollegen Otto Wallburg gemieden, der im Exil lebte und später im KZ Auschwitz vergast wurde. Darüber beklagte sich Wallburgs Sohn in dem Film "Verschwundene Lieblinge" von Helmar Harald Fischer, in dem es um Filmstars geht, die von den Nazis verfolgt und ermordet wurden - neben Wallburg auch Hans Otto, Fritz Grünbaum, Robert Dorsay und Joachim Gottschalk.

    • Jules Verne: Michel Strogoff | Le Courrier du tsar (Pierre-Jules Hetzel 1876) | Der Kurier des Zaren (A. Hartleben's Verlag 1877, Weichert 1920, Antäus-Verlag 1936, Jugend und Volk 1951, Fackelverlag 1957, Bärmeier & Nikel 1958, Falken 1959, Boje Verlag 1960, Bertelsmann Lesering 1967, Diogenes 1969, Arena Verlag 1973, Hirundo 1973, Verlag Neues Leben 1983, Pawlak Taschenbuch 1984, Xenos 1992, Reclam 2008, Salzwasser Verlag 2012, Jazzybee Verlag 2015)
    • Michel Strogoff | Michael Strogoff | Der Kurier des Zaren (Frankreich / Italien / Jugoslawien / Bundesrepublik Deutschland 1956, Les Films Modernes, Illiria Film, Produzione Gallone und Udruzenje Filmskih Umetnika Srbije (UFUS)), Drehbuch: Marc-Gilbert Sauvajon, Regie: Carmine Gallone, 113 min, FSK: 12


    Mein erster Kontakt mit dem Rußlandabenteuer war der Adventsvierteiler mit Raimund Harmstorf, und die Comicadaption von Franco Caprioli steht in meiner Comicbibliothek. Meine Eltern, also in erster Linie mein Vater, besaß im groben eine Buchreihe im Wohnzimmerschrank, die wohl aus einem Buchclub oder etwas Ähnlichem stammte; das Herzstück bildeten fünf oder sechs Bände von Karl May. Von Jules Verne konnte ich auf diese Welt 20.000 Meilen unter dem Meer sowie Reise um die Erde in 80 Tagen lesen, beide in gekürzten Fassungen. Heute findet sich der Verne-Klassiker im Sortiment, aber er findet sich eher im mittleren Rang der Beliebtheit.
    Dass Verne diesen Stoff verarbeitet hat, dazu noch mit einem klassischen Helden im Dienste des Zaren, dürfte damit zusammenhängen, dass Frankreich und Rußland gerade entspannte diplomatische Beziehungen pflegten. Denn den Bösewicht gibt hier der Tartar Feofar Khan, der von einem verräterischen Offizier, Iwan Ogareff, unterstützt wird. Mit den beiden Journalisten, einem Briten und einem Franzosen, bekommt die Reiseerzählung eine landeskundliche Note, bei der das Regime des Zaren kaum kritisiert wird. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich das Abenteuergenre stark gewandelt, weshalb dieser Roman wohl heute nicht mehr die erste Wahl sein wird.

    Ob ich die Verfilmung mit Curd Jürgens früher schon mal im Fernsehen gesehen habe, kann ich nicht sagen. Was ich bei arte gesehen habe, das habe ich unter historischen Aspekten betrachtet, vor allem wegen dem normannischen Kleiderschrank. Als gedreht wurde, war Jürgens 41 und Strogoff sollte 38 sein; für mein Empfinden wirkt Jürgens auf den ersten Eindruck fast zu alt; aber wenn ich Menschen aus dem 19. Jahrhundert zum Vergleich heran ziehe, muß ich gestehen, dass ich seine Darstellung stimmig finde. Vom Aufbau finde ich den Film manchmal umständlich und lahm, doch das große Aufgebot der Komparsen hat mich überzeugt, mit ihren markanten Gesichtern, ihrem bäuerlichen Habitus, so dass es einige Szenen gibt, die Spaß machen wie das Rennen der Kutschen zur Station oder das Übersetzen mit der Fähre.
    Das filmische Jugoslawien kannte ich als Kulisse der Karl-May-Filme, als Sibirien fand ich es schwach. Teilweise kam mir der Film sehr gehetzt vor, teilweise verzettelten sich die Subplots oder verliefen sich im Sande. Das Potential für interessante Frauenrollen wäre da gewesen; besonders das Intro von Nadja Fedorowna, deren Vater ein zu Unrecht nach Sibirien verbannter Professor ist, weckte Hoffnungen, die zerstoben, als Nadja bloß noch das love interest von Strogoff sein durfte. Die Tataren sind eigentlich Turkvölker, aber im Film wurden sie als Gelbe Gefahr inszeniert. Ziemlich viel Raum erhielten zu meiner Verwunderung die beiden Journalisten, die in der Verfilmung beide Franzosen waren, aber unterschiedliche politische Lager verkörperten, und mich an die Rollen von Eddi Arent in den Karl-May-Verfilmungen erinnerten.
    Ich glaube kaum, dass der Fim heute noch ein junges Publikum erreicht; dafür ist er zu altbacken und zu uninspiriert, Massenware von gestern.

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