Jenseits von Reclam: Klassiker entstaubt

  • Zitat

    Miguel de Cervantes hat wirklich ein eher trauriges und erfolgloses Leben geführt.

    Aber kaum trauriger als das der meisten anderen Hidalgos seiner Zeit. Es ist immer relativ und Genies können meist schlecht mit Geld umgehen (Siehe Mozart oder Rembrand). Und vom Schreiben konnte man damals wohl wirklich nicht leben, was sich auch an seinem Zeitgenossen Lope de Vega zeigt. Von dem kenne ich allerdings auch nur das eine Stück Der Richter von Zalamea

    Jeder Idiot kann eine Krise meistern. Es ist der Alltag, der uns fertig macht.

  • Friedrich Schiller hatte einige Zeit später auch diese Idee und schrieb ziemlich populäres Zeug, hat's aber ebenfalls nicht geschafft. Doch ich glaube, der Fürst von Sachsen-Weimar-Eisenach ermöglichte ihm doch ein einigermaßen armutsfreies Leben.

  • Ja, das meinte ich. Ohne Protektion hätte es das meiste damals nicht gegeben. Wobei schon eine entscheidende Zeitspanne zwischen 1600 und 1800 mit seinen ganzen literarischen Salons und überhaupt einem "Bildungsbürgertum" liegt.

    Jeder Idiot kann eine Krise meistern. Es ist der Alltag, der uns fertig macht.

  • Aber die wirtschaftliche Situation eines Schriftstellers war die gleiche.

    Wann gab es eigentlich die ersten professionellen Schriftsteller? Ich weiß, daß amerikanische Magazine ab etwa 1850 Honorare für Kurzgeschichten und Novellen zahlten (siehe Edgar Allan Poe).

  • Ludovico Ariosto: Orlando furioso (1516, 1521, 1532) | Der rasende Roland (1783, Nübling 1910, Winkler 1980, Deutscher Taschenbuch Verlag 1987)

    Da hätte ich vielleicht etwas, das zur Diskussion beitragen könnte.
    Ariost (1474 - 1533) stand im Dienste der Fürstenfamilie d'Este, die damals Ferrara und Modena beherschten. Genauer gesagt, arbeitete Ariost zunächst unter Kardinal Ippolito I. d’Este, dann unter Ercole I. d’Este und führte ein abenteuerliches Leben als Soldat, als Sekretär des Kardinals; bekam ein Angebot, Botschafter in Rom zu werden, was er ablehnte, und zog sich später ins Privatleben zurück.
    Seine frühesten literarischen Werke entstanden noch auf Latein. Am Hofe der d'Este befaßt er sich mit dem Rolandslied, einem klassischen mittelalterlichen Epos, indem er den Orlando innamorato | Der verliebte Roland von 1505 fortsetzt. Diese Tradition zeigt sich darin, dass er seinem Patron den Vortritt läßt und seine Familie in Versen verherrlicht, so dichtet er ihr eine Herkunft von Herkules von Troja an, dem Helden der griechischen Antike, und setzt Isabella d'Este ein Denkmal. Die erste Fassung entsteht noch für ein höfisches Publikum, das direkt und konkret angesprochen wird. Später überarbeitet er sein italienisches Werk für ein anonymes Publikum, sprich den entstehenden Buchmarkt.
    Bei diesen Rahmenbedingungen glaube ich kaum, dass er bei der Veröffentlichung daran gedacht hat, reich zu werden. Wer zu der Zeit geschrieben hat, muss sein Einkommen wohl aus anderen Quellen bestritten haben; eher ging es darum, für ein Werk anerkannt zu werden und der Nachwelt etwas hinterlassen zu haben.

    Das Fundament der Verserzählung bildet der Kampf Karls des Großen gegen die Sarazenen, verkörpert in Rolands Hauptgegner Agramante. Am Hofe Kaiser Karls verdreht die zauberkräftige, chinesische Prinzessin Angelika den Rittern den Kopf und treibt Roland in seine Liebesraserei. Ein Nebenstrang widmet sich dem britischen Prinzen Astolfo, der auf seinem Hippogryphen zum Mond fliegt. Ariost nimmt sich zahlreiche künstlerische Freiheiten heraus und schildert in seinem Geflecht von Erzählungen eine höfische Gesellschaft mit phantastischen Elementen.
    Als ich das Buch bekam, habe ich es weggesuchtet und trotz der Verse als Proto-Fantasy gelesen. Meine Eltern konnten nicht begreifen, was mir an dem merkwürdigen Buch gefallen hat, die waren ratlos. Der italienische Klassiker verlangt natürlich, sich erst einmal auf seine Form einzulassen, dann steht dem Vergnügen nichts mehr im Wege.

  • Ich habe zumindest zwei Dinge gefunden: 1837 wurde in Deutschland das "Gesetz zum Schutze des Eigenthums an Werken der Wissenschaft und Kunst in Nachdruck und Nachbildung" in Kraft gesetzt, ein erstes Urheberrecht, mit dem Raubdrucke verboten wurden. 1871 kam dann das "Gesetz betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dramatischen Werken".

    Ich glaube, daß amerikanische Magazine den Lieferanten von short storys erstmals ein festes und auskömmliches Honorar zahlten. Ursprünglich wurden darin literarische Texte aus England nachgedruckt, natürlich ohne Bezahlung. Dazu habe ich aber nichts Konkretes gelesen, auch keine Jahreszahl. Der Wandel dürfte um 1830/40 eingesetzt haben.

  • Tschingis Aitmatow: Жамийла (Новый мир 1958) | Dshamilja (Kultur und Fortschritt 1960, Insel Verlag 1962 und 2011, Suhrkamp Verlag 1972 und 2009, Unionsverlag 1988, Galiani Berlin 2022)

    In der Oberstufe führte die Klassenfahrt meines Gymnasiums 1986 nach Berlin und in die DDR, obwohl ich wie meisten Mitschüler lieber nach Paris, Rom oder London gefahren wäre. Wir fuhren in jener Woche, in der das Atomkraftwerk in Tschernobyl havarierte. Auf der Rückreise im Bus sprach eine Mitschülerin von ihrem Wunsch, dass bald die Mauer fallen sollte; natürlich wurde sie vom Rest der Klasse nur müde belächelt.
    Zu der Zeit regierten Greise, mehr tot als lebendig - doch dann erschien da plötzlich ein vergleichsweise junger Politiker namens Michail Gorbatschow, der von Reformen sprach. Seine Schlagworte waren Glasnost und Perestroika; und das war ein Politiker, der mich wie Olof Palme, Willy Brandt oder JFK begeistern konnte. Ein lebendiger Politiker des bösen Ostblocks, der mich faszinierte und Hoffnungen in mir weckte.
    Zu den Beratern Gorbatschows gehörte Tschingis Aitmatow. Ich wurde neugierig, wollte mehr wissen und stolperte in einer Buchhandlung plötzlich über eine schmale Novelle, ein Taschenbuch des Unionsverlags. Dass die Liebesgeschichte zwischen Dshamilja und Danijar in der kirgisischen Steppe 1943 seinerzeit Pflichtlektüre in den Schulen der DDR gewesen ist, erfuhr ich im nachhinein.
    Jenseits der Tagespolitik empfand ich das belletristische Werk als eine Möglichkeit, etwas aus der Sowjetunion von unten zu erfahren, von gewöhnlichen Leuten fernab von Moskau und Sankt Petersburg. Die Weite der kirgisischen Republik mit ihrem nomadischen Volk war für mich ebenso exotisch wie der Amazonas oder Australien, eine ferne Welt, wie ich sie im Fernsehen noch nie gesehen hatte. Aitmatow war kein Russe im herkömmlichen Sinne, denn er gehörte einer (islamischen) Minderheit an; gleichzeitig wurde seine Novelle als "schönste Liebesgeschichte der Welt" verkauft. Deshalb wollte ich mir eine eigene Meinung bilden.
    Liebesgeschichten vom Fließband stoßen mich eher ab, weshalb ich mich ein wenig überwinden mußte, dafür mein Taschengeld zu geben. Ich habe es nicht bereut. Den dünnen Band empfand ich als seelische Bereicherung, der besser war als jede Broschüre der Landeszentrale für politische Bildung über diesen Winkel der Welt.

  • Es war eines der Bücher, wo der Lehrer die Auswahl hatte. Unsere Klasse hat es z.B. nicht lesen müssen. (Dafür haben wir die Verfilmung von "Der erste Lehrer" angeschaut.)

    Hast Du von Aitmatov "Die Richtstatt" (Auch "Der Richtplatz") gelesen? Der sorgte in der Endphase der DDR für Aufsehen.

    Jeder Idiot kann eine Krise meistern. Es ist der Alltag, der uns fertig macht.

  • Damals hatte ich noch eine Ehrfurcht vor den Buchhändlern, erst im Studium habe ich mich getraut, mir Bücher zu bestellen, und selbst das war noch ziemlich kompliziert. Ich war auf das angewiesen, was in der Stadt im Regal stand, und die Auswahl war sehr begrenzt, wenn es um Bücher aus dem Osten ging. In den Antiquariaten ging ich auf die Suche nach Science Fiction aus dem Ostblock, weil ich Lem mochte, und das war eine Jagd auf gut Glück, mit langen Durststrecken.
    Von Aitmatow kenne ich nur Dshamilja, später habe ich ihn - auch wegen meiner Studienfächer - aus den Augen verloren. Vom Unionsverlag steht noch Juri Rytchëus Wenn die Wale fortziehen im Hardcover in meiner Bibliothek.
    Außerhalb der Schule habe ich versucht, mich durch die Weltliteratur zu lesen. Wenn ich schon nicht reisen konnte, wollte ich wissen, wie die Leute anderswo und zu anderen Zeiten getickt haben.

  • F. Scott Fitzgerald: Tender is the night. Romance (Charles Scribner's Sons 1934, Penguin Popular Classics 1997) | Zärtlich ist die Nacht. Roman (Blanvalet 1952, Diogenes 1982 und 2006, dtv 2011)

    Wer herausfinden will, ob ihm F. Scott Fitzgerald liegt, sollte in eine seiner wunderbaren Kurzgeschichten hineinschnuppern, in denen er die "Roaring Twenties" des Jazz Age schildert. Mit 23 Jahren wurde er durch sein Romandebüt berühmt, und sein ausschweifendes Leben auf Parties, in denen er mit seiner Ehefrau Zelda regelmäßig über die Stränge schlug, machte die beiden in den 1920ern zu Prominenten, die der Klatschpresse mächtig Futter gaben. Mit ihrem exzessiv verschwenderischen Lebensstil galten sie als typische Vertreter ihrer Generation. Bei Zelda wurde später eine psychische Erkrankung diagnostiziert, während er dem Alkohol verfiel und schon in den 1930ern weitgehend vergessen war.
    Dave Sim verachtet Ernest Hemingway aus tiefstem Herzen, doch F. Scott Fitzgerald verehrt der kanadische Comiczeichner. Ich kann Sim verstehen, denn mir ergeht es ähnlich. Bei Fitzgerald spüre ich, wie er mit der Sprache arbeitet und dabei den Plot nach seinen Vorstellungen formt, um etwas von Bestand zu hinterlassen. Natürlich ist Fitzgerald dabei auch manchmal gescheitert, aber seine Schwächen zeugen von seinem ästhetischen Willen und weisen ihn als Autor der Moderne aus. Die eine oder andere Stelle mag ausgereift klingen, doch das macht seine Literatur in meinen Augen menschlich.
    Fitzgeralds bekanntester Roman dürfte The Great Gatsby | Der große Gatsby (1925) sein, der in den 1940ern zu seiner Wiederentdeckung beitrug. Aber ich persönlich ziehe sein Spätwerk Zärtlich ist die Nacht vor, weil es mir auch geografisch nähersteht. Seit 1924 lebten Fitzgerald und Zelda an der Französischen Riviera, weshalb mir der Roman einen amerikanischen Blick auf das Europa zwischen den Weltkriegen bietet - übrigens eine beliebte Kulisse in zahlreichen Stummfilmen, zum Beispiel denen von Erich von Strohheim.
    Autobiographisch geprägt wie kaum ein anderer seiner Romane wird darin von dem Ehepaar Dick und Nicole Diver erzählt, die an der Südküste Frankreich ein unbeschwertes Leben führen, das durch die junge Schauspielerin Rosemary gestört wird. Dick ist Psychiater, der seine psychisch labile Frau nach einem Zusammenbruch in ein Sanatorium in der Schweiz begleitet. Im Gegensatz zu Thomas Manns Zauberberg hat sich Fitzgerald ernsthaft mit der Psychiatrie beschäftigt, wodurch er den Klinikaufenthalt überzeugend gestalten kann, ohne schlechte Stimmung zu verbreiten. Ehrgeizig hat Fitzgerald an seinem ambitionierten Werk gearbeitet, das er als sein Meisterwerk betrachtete.
    Doch bei der Kritik fiel der Roman durch, und in den ersten drei Monaten gingen bloß 12.000 Exemplare über den Ladentisch. Fitzgeralds Schulden liefen aus dem Ruder, und in den letzten Jahren verdingte er sich bei MGM, um Drehbücher zu schreiben. Doch nach und nach gewann sein Spätwerk an Renommée, und mittlerweile überflügelt er sogar Der große Gatsby. 1998 zählte ihn die Modern Library zu den 100 besten englischsprachigen Romanen des 20. Jahrhunderts.
    Eine kleine Anmerkung: Der Roman liegt in zwei Fassungen vor. Die Erstausgabe von 1934 enthält Rückblenden. Für die zweite Version überarbeitete Fitzgeralds Freund und Kritiker Malcolm Cowley den Roman nach Fitzgeralds Notizen chronologisch; diese Ausgabe erschien posthum 1948.

  • Weil der Plot meiner liebsten Mosaik-Serie auf einer Geschichte von ihm beruht, habe ich mir diese und die anderem in dem Band enthaltenen Stories mal zu Gemüte geführt. So richtig ansprechen tat es mich nicht.
    "Mein" Autor für das Amerika der 20er Jahre wird wohl immer Sinclair Lewis bleiben.

    Jeder Idiot kann eine Krise meistern. Es ist der Alltag, der uns fertig macht.

  • Was hältst du davon, Sinclair Lewis mal vorzustellen? Von dem habe ich nichts gelesen. Ich erinnere mich fern an die Verfilmung von Elmer Gantry, das war es dann aber auch.

    Wie gesagt, F. Scott Fitzgerald ist meine persönliche Vorliebe.
    Inzwischen kann ich benennen, warum das so ist. Durch mein Interesse an der Filmgeschichte, vor allem an der Stummfilmära, interessiert mich das Leben von Amerikanern in Europa zwischen Weltkriegen.
    Hinzu kam, dass ich gerade eine ähnliche Epoche am eigenen Leib miterlebt habe. Damit meine ich die Reaganomics und den Thatcherismus; in der rücksichtslosen Lebensgier der Yuppies sah ich etwas, das dem Rausch vor der Weltwirtschaftskrise des Schwarzen September entsprach. Fitzgerald hat bei mir einfach die richtigen Knöpfe gedrückt.

  • Jau, ich versuche mal mich am Wochenende dazu aufzuraffen.

    Jeder Idiot kann eine Krise meistern. Es ist der Alltag, der uns fertig macht.

  • So, ging dann doch schon etwas schneller. :zwinker:

    Biografisches schenke ich mir, das kann man bei Wiki zur Genüge finden. Nur ein paar kurze Anmerkungen:

    • Lewis ist der erste US-Amerikaner, der (1930) den Nobelpreis für Literatur verliehen bekam
    • Er war in den Zwanzigern auch in Dt. sehr erfolgreich, was sich 1933 allerdings änderte, weil seine Frau Dorothy Thompson durch ihr Buch „I saw Hitler“ in Dt. eine Persona non Grata geworden war
    • In der DDR wurden die meisten seiner Bücher verlegt und die Rezensionen waren in der Regel freundlich. Ich habe mir so auch alle folgenden Bücher vor 1989 antiquarisch zulegen können

    Und damit zu seinen Büchern, bzw. zu den wichtigsten von Ihnen. Ein Kritiker hat mal über sein Werk in etwa folgend geurteilt: „Die Zwanziger sensationell, die Dreißiger ein Abstieg, die Vierziger der Verfall“ . Zumindest der letzte Teil ist arg übertrieben aber unbestritten sind die wichtigsten Werke VOR 1930 entstanden. Also los.

    Main Street (Dt.: Die Hauptstraße) 1920

    Das war auch mein Einstieg mit Lewis. Ich bin in den 80ern auf das Buch aufmerksam geworden, weil wohl irgendeine amerikanische Zeitung den Sieg von Reagan 1980 als „Sieg der Main Street über die Wall Street“ bezeichnet hatte. Bereits mit diesem Buch (wie auch später mit „Babbitt“) muss es ihm gelungen sein, einen Begriff für ein bestimmtes Milieu zu kreieren.

    Die titelgebende Straße gehört zu einem kleinen Kaff namens Gopher Prairie in Minnesota. (Der Name klingt irgendwie schon nach Provinz!), wohin eine junge Frau ihrem frisch angetrautem Gatten aus der Großstadt folgt. Ich muss zugeben, daß Buch hat mich damals nicht abgeholt, denn als Teenager lassen einen die ausführlich beschriebenen und immer wieder scheiternden Bemühungen einer ambitionierten Mittzwanzigerin, das Leben in diesem Kaff umzugestalten, eher kalt. Zum Glück las ich im Nachwort dann etwas über das folgenden Buch und das packte mich dann.

    Babbitt 1922

    Wahrscheinlich sein bekanntestes und erfolgreichstes Buch. Die Titelfigur ist der Immobilien-Makler Georg F. Babbitt aus der fiktiven Großstadt Zenith im Mittelwesten  im Jahr 1920, verheiratet, drei Kinder, gut situiert aber latent mit seinem Leben unzufrieden. Hier zeigt sich erstmals Lewis Schreibstil: Er beschreibt einfach. Die ersten ca. 100 Seiten schildern einen Tag im Leben von Babbitt vom (widerwilligen) Aufstehen bis zum ins Bett gehen. Er ist die ganze Zeit aktiv, fasst Vorsätze, wirft sie über Bord und fasst neue. Obwohl es eigentlich keine Wertung gibt, wissen wir hinterher eigentlich alles über den Mann; - das meiste ist nicht erfreulich.

    Die restlichen Seiten sind dann von den immer wieder scheiternden Versuchen Babbits geprägt, aus diesem Laufrad auszubrechen, zu rebellieren, zu flüchten. Immer scheitert er an sich selbst und resigniert am Ende und setzt die Hoffnungen auf seinen rebellischen Sohn.

    Babbitt ist gehobene Mittelklasse (Mit eigenem Haus ohne Hypothek und 8-9000 $ jährlich, damals noch ein sehr gutes Einkommen und außerdem Tendenz steigend.) Nicht mehr und nicht weniger. In diesem Rahmen bewegen sich auch seine Bekanntschaften. Daß Kontakte nach oben und unten praktisch nicht stattfinden, wird klar, als er bei einem Klassentreffen zwei ehemalige Kommilitonen wiedertrifft; einer gehört zur richtigen Oberschicht, der andere ist gerade noch unterste Mittelschicht. Er wird von letzterem eingeladen und lädt selbst ersteren ein. Die Treffen sind jedesmal eher peinlich und während Babbitt sich rasch mit seiner Frau einig ist, den armen Freund nicht zu einem Gegenbesuch einzuladen „weil er sich völlig falsch am Platz fühlen würde“, ist er doch sehr überrascht, nicht selbst von dem anderen eingeladen zu werden. Aber auch darüber kommt er bald wieder hinweg.

    Politik interessiert Babbitt kaum, außer sie berührt seine eigenen Interessen. Seine Einstellungen sind typisch für seine Klasse. So soll der Staat ihn einerseits am besten gar nicht behelligen, aber andererseits doch die Unterschichten im Zaum halten. Und selbst, wenn er das Gesetz bricht (Prohibition oder Korruption bei seinen Grundstücksspekulationen), macht er nichts anderes als alle anderen.

    Zenith ist auch in den folgenden Romanen immer wieder ein Schauplatz, weil es eben den Typ der geschichtslosen Boomerstadt verkörpert, die Lewis zutiefst zuwider war. Und auch Babbitt, ihr idealer Bewohner bekommt noch ein paar kleine Gastauftritte, aus denen wir erfahren, daß sich für ihn nichts ändern wird.

    Arrowsmith (Dt.: Dr. med Arrowsmith) 1925

    Anhand seines Titelhelden Martin Arrowsmith , der aus einem eifrigen Medizinstudenten zu einem fast manischem Mediziner und Virologen wird schildert Lewis hier alle Facetten des Amerikanischen Gesundheitssystems: Den biederen aber trotzdem geldgierigen Landarzt, denKatalogmedizinverkäufer, das stramm durchorganisierte aber nach maximalen Profit strebende Großstadtkrankenhaus und dann vor allem die virologische Forschung, erst an der Uni dann in einem privaten Institut, wo ebenfalls am Ende nur der Erfolg zählt; - entweder in bar oder zumindest in Erstveröffentlichungen. Martin Arrowsmith scheitert fast überall , weil er sich dem nicht beugen will und erlebt bei der Erprobung eines Mittels gegen das Pest-Virus auch noch ein persönliches Drama.

    Freunde hat sich Lewis bei den Medizinern und der Pharmalobby mit diesem Buch sicher nicht gemacht aber RICHTIGEN Ärger bekam er erst mit dem nächsten wichtigen Buch.

    Elmer Gantry 1927

    Wie Servalan ja schon schrieb, gibt es die Verfilmung mit Burt Lancaster. Lancaster spielt hervorragend und hat sich seinen Oscar hierfür ehrlich verdient. Aber der Film zeigt nur einen kurzen Ausschnitt aus dem Buch und Gantry ist auch viel freundlicher dargestellt als im Buch.

    Im Buch erleben wir den Titelhelden von seinen Anfängen als Seminarist in einem Baptisten-College um 1900 bis zu seinem Aufstieg zum Bischof in Zenith(!) in der damaligen Gegenwart. Elmer glaubt eigentlich nicht so recht an Gott aber seine bigotte Mutter hat ihn geprägt und „vielleicht ist an der Sache ja doch was dran“. Vor allem aber erkennt er durch Zufall, daß er reden kann und so Einfluß auf Menschenmengen hat. (Er ist auch im Gegensatz zum Film ein durchtrainierter Hühne, der ohne Mühe einen Dorfschmied im Boxkampf bezwingt.) Im Gegensatz zu einem gewissen Österreicher wird er aber nicht „Politiker“ sondern Prediger.

    Nachdem er wegen einiger Vorfälle (Seine Sexsucht bleibt für ihn bis zum Ende des Romans ein Problem) von den Baptisten ausgestoßen wird , beginnt seine Wanderung durch die verschiedensten rel. Bereiche: Von einer Art Vorläufer von Scientology über die Tätigkeit als „freischaffender“ Prediger bis zur Zusammenarbeit mit einer Evangelikalen Erweckungspredigerin (Letzeres im wesentlichen die Handlung des Films). Schließlich landet er bei der „Hauptkonkurrenz“ seiner alten Kirche, den Methodisten. Hier beginnt sein unaufhaltsamer Aufstieg, der auch durch weitere Sexaffären nicht zu stoppen ist. Aus einem „Gastauftritt“ in einem späteren Roman erfahren wir, daß sich der Aufstieg auch in den Folgejahrzehnten fortgesetzt hat.

    Gantry ist ein totaler Unsympath; - aber er hält sich selbst für einen guten Kerl und glaubt, daß auch die anderen das so sehen müßten. Wenn nicht , sind sie nur neidisch.

    Gantrys Gegenpart ist der ehrliche Frank Shallard, der wie Gantry durch alle möglichen Konfessionen wandert. Er allerdings, weil er mit seiner Ehrlichkeit und Zweifeln immer wieder aneckt. Am Ende wird er von einem Mob des aufkommenden Fundamentalismus zum Krüppel geschlagen. Durch diese beiden Figuen lernt der Leser eine Unzahl typisch amerikanischer Formen der (christlichen) Religionsausübung kennen. Der oft genug geschilderte Zusammenhang zwischen dieser und dem Kommerz brachten Lewis handfeste Drohungen ein.

    Dodsworth: (Dt.: Sam Dodsworth) 1929

    Hier kommt Amerika im Gegensatz zu Europa mal etwas freundlicher weg. Ein ca. 50-jähriger ehemaliger Industrie-Kapitän lernt auf einer langen Reise durch Europa einerseits dessen Kultur schätzen, lernt aber auch anderseits, daß kritiklose Anbetung (Wie sie seine Frau betreibt) fehl am Platz ist und auch Amerika stolz auf seinen Beitrag zur Zivilisation sein kann.

    In Babbitt und Elmer Gantry wie in weiteren Büchern pickt sich Lewis oft einen Bereich des öffentlichen Lebens heraus und seziert ihn dann gründlich. Neben den schon oben aufgeführten Bereichen der Medizin und der Religion macht er das z. B. auch noch über das Gastgewerbe (Work of Art /Dt: Das Kunstwerk, 1934, und ja, das liest sich tatsächlich spannend!) oder das typisch amerikanische Wohltätigkeits- und Stiftungswesen mit seinen generalstabsmäßig organisierten Kampagnen zur Geldbeschaffung (Gideon Planish/ dt. Gideon Planish oder Die Verlogenen 1943)


    Zum Schluss noch zwei Bücher, die nicht diesem Schema folgen.

    Einmal Kingsblood Royal (Dt.: Der königliche Kingsblood ,1947). Hier versucht sich Lewis an der von ihm bisher nicht behandelten „Rassenfrage“. Der junge Bankangestellte Kingsblood („Nach oben“ verheirat mit Kind und eigentlich auf der Karriereleiter aufsteigend) beginnt auf Anregung seines Vaters mit der Ahnenforschung, weil dieser glaubt, der Familienname würde auf eine Abkunft vom hingerichteten König Charles I. hindeuten.

    Als das nichts bringt, untersucht er aus Neugier noch die mütterliche Linie und entdeckt, dass ein Ur-Urgroßvater mütterlicherseits ein Schwarzer war! Hier setzten dann zumindest für mich die Absurditäten ein, denn Kingsblood hat diese Entdeckung 1000 Meilen von zu Haus gemacht, niemand weiß davon, er ist ein rothaariger und sehr hellhäutiger Mensch. Es hätte einfach den Mund halten müssen und fertig.

    Das kann er aber nicht und bald wissen es immer mehr Menschen und nun sind auch die Folgen spürbar: Er wird in der Bank erst versetzt dann entlassen, seine meisten Bekannten schneiden ihn und am Schluß will die Nachbarschaft den „schwarzen“ Eindringling in guter alter Lynchtradition aus seinem Haus jagen. Seine einzige Unterstützung sind seine kluge und energische Frau Velma und die schwarze Community der Stadt, die sich nach anfänglicher Skepsis für ihr neues Mitglied einsetzt.

    Es ist wirklich nicht Sinclairs stärkstes Buch. Schon die Grundprämisse scheint mir nicht ganz überzeugend: Das ganze spielt nicht in den Südstaaten mit ihren noch gültigen „Black Codes“ sondern in Minnesota! Und auch viele Mitglieder der schwarzen Gemeinde wirken arg klischeehaft. Vielleicht wollte Lewis Abbitte dafür leisten, daß er bisher fast immer nur die WEISSE Mittelschicht beschrieben hatte. Wie gesagt, nicht sein stärkstes aber keineswegs ein schlechtes Buch.

    Und nun noch das Buch von Lewis, daß für mich leider gerade jetzt am aktuellsten ist:

    It Can’t Happen Here (Dt.: Das ist bei uns nicht möglich, 1935)

    Es ist praktisch ein „utopischer“ Roman, denn Lewis schildert hier, wie durch die in der Realität erst im folgenden Jahr stattfinden Wahlen der Politiker Berzelius „Buzz“ Windrip erst die demokratische Partei übernimmt und dann auch die Präsidentschaftswahlen gewinnt. Obwohl Windrip primär auf der Person des Senators Huey Long basiert, erinnern mich manche seiner Züge auch an den lieben Donald.

    Lewis erzählt das alles aus der Sicht des liberalen Provinzverlegers Doremus Jessup aus Vermont, der erst distanziert ablehnend und fast etwas amüsiert dann aber zunehmend entsetzt erlebt, wie der Faschismus sich auch in diesem kleinen Winkel der USA immer weiter ausbreitet und der Titel des Buches, mit dem sich die Windrip-Gegner zumindest anfangs beruhigen wollen, immer öfter widerlegt wird.

    Manches hat natürlich Vorbilder in Europa: Windrip hat ebenfalls ein Buch geschrieben („Die Stunde 0“), er verkündet ein Programm mit 15 (Bei Hitler waren es 25) Punkten, die sofort nach Amtsantritt ausgeführt werden sollen. (Was außer den Punkten zur Machtübernahme nie passiert.) Seine SA heißt MM (Für „Minute Men“- Spitzname: Mickymäuse) und trägt statt braun blau. Es ist zumindest Anfangs scheinbar eine typisch amerikanische Variante des Faschismus. Windrip ist kein dämonischer Fanatiker wie Hitler. Nein, er macht Witze, feiert Partys mit reichlich Alkohol und Frauen und ist auch anderen Annehmlichkeiten nicht abgeneigt. Das täuscht am Anfang noch über seine Gefährlichkeit hinweg, aber spätestens, als die ersten Gegner wie z.B. Jessups Schwiegersohn ohne Verfahren erschossen werden, fällt die Maske.

    Lewis stützte sich v.a. auf Berichte, die von Exilanten veröffentlicht wurden, auch solchen, die 1933 schon Bekanntschaft mit den ersten KZ gemacht hatten. Das Buch entstand wie gesagt 1935. An Weltkrieg und Auschwitz hat damals noch keiner gedacht. So wirkt manches aus heutiger Sicht vielleicht sogar verharmlosend, was damals sicher nicht der Fall war.

    Lewis hat noch viele weitere Bücher geschrieben, einige davon wie Der Falkenflug, Mantrap oder The man, who knows Coolidge habe ich auch noch gelesen aber die waren nicht so mein Fall.

    Empfehlen für einen Einstieg würde ich Babbitt und wenn der einem zusagt Elmer Gantry. Wenn man dann immer noch nicht genug hat, habe ich ja oben weitere Bücher genannt. It can’t happen here  würde ich als „außerhalb der Konkurrenz“ empfehlen. Es hat nicht die Klasse der beiden ersten Bücher aber dafür ist das Thema besonders.

    Jeder Idiot kann eine Krise meistern. Es ist der Alltag, der uns fertig macht.

  • In der alten Bundesrepublik war alles mit dem American Way of Life imprägniert, und den empfand als allgegenwärtig, aufdringlich und aggressiv. Wenn da etwas aktuell war, fand das sowieso in der Presse und den Medien statt, was mir dann auch reichte.
    Nach Sachen, die nicht aus dem angelsächsischen Raum stammten, mußte ich hingegen aktiv suchen, und wenn ich mal was aus Frankreich oder Skandinavien gefunden habe, schlug mein Herz höher. Insofern war ich bei Schriftstellern aus den USA äußerst wählerisch, um nicht zu sagen krüsch.
    Eher hatte ich das Gefühl, bei Ken Burns' Dokuserie über den Amerikanischen Bürgerkrieg lerne ich mehr über die Mentalität dort als durch Romane und Sachbücher. Allerdings stolpere ich durch dich zum wiederholten Male über It Can’t Happen Here, das ja mehrfach für die Bühne bearbeitet worden ist. Das macht mich schon neugierig.

    Was du mit Sinclair Lewis erlebt hast, das ist mir mit Émile Zola passiert. Für Werkausgaben habe ich mich immer schon interessiert, und Zolas Rougon-Macquart-Zyklus über eine Epoche der französischen Geschichte im 19. Jahrhundert fand ich verlockend. Begonnen habe ich mit neuen Ausgaben von Nana und Germinal, dann habe ich mir den Rest antiquarisch besorgt, wenn da etwas im Regal stand.

  • Zola hat man mir (wie viele andere Klassiker) in der Schule "versaut". Hat teilweise Jahrzehnte gedauert, bis ich die teilweise (wieder-) entdeckt habe. Ich bin auch bei der Rougon-Macquart erst vor knapp 10 Jahren eingestiegen. Begonnen hatte ich damals mittendrin mit "Das Geld".

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  • Mich hat eher Ansatz bei den Schullektüren abgestoßen. Zum einen sollte da dann zu einer bestimmten Stelle gelesen werden, was mir mißfiel. Wenn mich ein Stoff packt, dann lese ich den Pageturner bis zum Schluß; die künstlich gesetzten Pausen empfand ich als manipulativ.
    Am schlimmsten waren für mich aber Interpretationen, die haben mir vieles versaut. In der Oberstufe hatte ich den Ansatz dann so verinnerlicht, dass ich meine ersten Kurzgeschichten auf eine möglichst verständliche Interpretation getrimmt habe; sprich: das waren fürchterliche Machwerke. Erst an der Uni habe ich das Korsett abgelegt und mich in Sachen Literatur freigeschwommen.

  • Mich hat eher Ansatz bei den Schullektüren abgestoßen. Zum einen sollte da dann zu einer bestimmten Stelle gelesen werden, was mir mißfiel. ...
    Am schlimmsten waren für mich aber Interpretationen, ...

    Das meinte ich eigentlich auch. :top:

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  • Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Rowohlt 1930, 1933 und 1943)

    Während meines Studiums habe ich mir die Taschenbuchausgabe aus der Universitätsbibliothek ausgeliehen, weil ich kaum etwas über den Roman wußte und er mir weitaus faszinierender erschien als alles von Thomas Mann. Später habe ich dann noch Volker Schlöndorffs Verfilmung (1966) seines Romans Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (Wiener Verlag 1906) gesehen, bei dem es um das Mobbing in einem Internat ging. Aber mich lockte sein Hauptwerk, das in die Weltliteratur eingegangen war, zumal ich mich bei dem Wälzer fragte, ob ich den in der Ausleihzeit überhaupt schaffe, und da muß ich gestehen, dass ich zur Hälfte gescheitert bin. Die gut tausend Seiten des abgeschlossenen Romans habe ich verschlungen; aber es gibt eine Fortsetzung von fast gleicher Länge, eine Reihe von längeren und kürzeren Fragmenten, bei denen ich nach hundert oder zweihundert Seiten entnervt aufgegeben habe.
    Mein privates Curriculum jenseits der Schullektüren besaß den Schwerpunkt internationaler Weltliteratur, weswegen ich bei der deutschen Literatur, die im Deutschunterricht unvermeidlich gewesen ist, besonders wählerisch gewesen bin. Mir gefielen die Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel, Franz Kafka und Friedrich Dürrenmatt, der Rest blieb Pflichtlektüre. Mich interessierte aber auch der Roman der Moderne, weshalb ich Alfred Döblins Alexanderplatz und Robert Musils Brocken unbedingt kennenlernen wollte. Eines Tages war in der UB gerade Der Mann ohne Eigenschaften lieferbar und da griff ich natürlich zu. Döblin ist mir zu meinem Leidwesen durch die Finger geflutscht.
    Musil wäre unter anderen Umständen meine erste Wahl gewesen, weil er ein Österreicher gewesen ist. Mit der Wiener Moderne des Fin de Siècle verbinde ich eine Blütezeit kultureller Neuerungen, von denen mich die Kunst schon beeindruckt hatte, Stichwort Wiener Secession; dann gab es die ganze Bandbreite von der Philosophie bis zur Mathematik, von Karl Popper und Ludwig Wittgenstein bis zu Sigmund Freud und Kurt Gödel. Diese Leute zeichneten sich durch einen besonders analytischen Umgang zur Sprache aus, der angereichert wurde den Schmäh und die Lust zum Sprachspiel. Diese Tradition besteht bis heute und reicht von H.C. Artmann über Elfriede Jelinek bis zu Wolf Haas, und in Musil sah ich einen der Gründerväter.
    Muffensausen hatte ich nicht, aber der Klassiker nötigte mir schon Respekt ab, so dass ich ihn als Herausforderung empfand. Doch schon nach wenigen Seiten sog mich der Stoff der Parallelaktion in sich herein. Die Beschreibung des Wetters gehört zu den abgelutschten Klischees der Romananfänge, die Musil hier aufgreift und so auf die Spitze treibt, dass sie zugleich lächerlich bloßgestellt wird und in ihrer Absurdität ein geniales Kabinettstückchen seines ausgereiften Stils darstellt. Der Roman war ein brilliantes Labyrinth aus den Versatzstücken der damals gängigen Belletristik, die immer wieder von essayistischen Einschüben unterbrochen wurden. Mir gefiel das, und liebend gern hätte ich den Roman ein zweites Mal gelesen, um tiefer in die Materie einzusteigen, doch das war mir nicht vergönnt. Ich bewundere Musil, weil er über Jahrzehnte einen Maßstab gesetzt hat, der heute beispielsweise in den Werken von Thomas Pynchon weiterwirkt.

  • Bei dem Monster habe ich nach etwa 300 Seiten eine schöpferische Pause eingelegt, die nun schon ca. 18 Monate dauert.

    Jeder Idiot kann eine Krise meistern. Es ist der Alltag, der uns fertig macht.

  • Thomas Pynchon: Gravity’s Rainbow (Viking Press 1973) | Die Enden der Parabel (Rowohlt 1981)

    Wenn es einen zeitgenössischen Schriftsteller aus den USA gab, mit dessen Werk ich mich auseindersetzen wollte, dann war es Thomas Pynchon. Dafür gab es zwei Gründe: Zum einen liegen von ihm nur wenige Romane und Kurzgeschichten vor, die zwar mit großem Abstand erscheinen, aber jedesmal für Furore im Literaturbetrieb sorgen und als Ereignisse zelebriert werden; zum anderen ist über ihn nur wenig bekannt, denn er zieht die Anonymität dem Medienrummel vor, wodurch sich die Gerüchte über ihn verselbständigt haben und schon zu einer populären Legende geworden sind. Ohne abgelenkt zu werden, konnte ich mich mit seinen sprachlichen Qualitäten befassen, was ich sehr angenehm empfand.
    In der Universitätsbibliothek fand ich zwei oder drei Romane, die ich mir bei Gelegenheit auslieh, darunter sein Hauptwerk, das unter anderem von Elfriede Jelinek übersetzt worden ist. Mit seiner Fülle an obskurem Wissen, das fast akademisch in die Tiefe geht, verkörpert Pynchon für mich den literarischen Nerd; einen besessenen Autodidakten, der historische Themen aufgreift und dabei in seinem Plots brisante Themen in den Fokus nimmt, gebildet und zugleich bodenständig. Mir erschien er wie ein belletristisches Pendant zu Alan Moore oder Grant Morrison.
    Sein postmoderner Stil wird heute als Slipstream bezeichnet und bietet ein Labyrinth aus Fakten und Fiktion, aus Geschichte und Geschichten, das in seiner Fülle unzuverlässig erzählt wird. In diesem Roman knüpft sich Pynchon die deutsche Geschichte mit all ihren Abgründen vor, von den Raketenversuchen in Peenemünde bis zum Völkermord der Hereros und den ersten Vernichtungslagern. Auf diese Weise lieferte er mir eine neue Perspektive und schlug mich mit seiner literarischen Wucht in den Bann. In gewisser Weise fühlte ich mich in meiner Wahl bestätigt, denn ich halte Pynchon für um Klassen besser als John Updike, John Irving und Philip Roth, für die sich das Feuilleton begeisterte.
    Pynchon hat etwas unberechenbar Eigenwilliges, das quer zum Zeitgeist steht und einem künstlerischen Anspruch gerecht wird, den ich zum Beispiel bei Umberto Eco, J.G. Ballard oder David Foster Wallace wiederfinde. Ich traue ihm zu, dass sein Werk weitere Generationen überdauern und sich behaupten wird.

  • Ernst Jünger: Auf den Marmorklippen (Hanseatische Verlagsanstalt 1939, Otto Reichl Verlag 1949, Ullstein Verlag 1994)

    An meiner Universität war ich in einer kleinen Lesegruppe, die sich in erster Linie mit phantastischer Literatur befaßte, hauptsächlich aus dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert. Dort einigten wir uns irgendwann auf diesen Roman, der in der Adenauer-Zeit Schullektüre gewesen ist, und ich ließ mich schweren Herzens darauf ein. Von mir aus hätte ich nie eine Zeile des Autors von In Stahlgewittern gelesen, weil er für mich auf einer Ebene mit Leni Riefenstahl stand.
    Aus meiner Sicht übertraf er Riefenstahl an Widerlichkeit, weil er Zeit seines Lebens mit Preisen geehrt und von Politikern hofiert wurde. Ich erinnere mich noch, wie Bundeskanzler Kohl und der französische Präsident Mitterand ihm ihre Aufwartung machten, und bekam das kalte Grausen, weil Jünger für mich das arrogante Gehabe der nationalsozialistischen Herrenmenschen verkörperte. Ich wußte, dass Jünger elitär und antihumanistisch die Demokratie verachtete und als Hobby Insekten studierte. Als Menschen empfand ich ihn nicht sonderlich sympathisch, zumal ich den Eindruck hatte, dass sein literarisches Werk und seine politische Weltanschauung eng miteinander verflochten waren - zu eng für meine Begriffe. Bei ihm fielen Werk und Autor ineins. Deshalb mußte ich mich bei der Lektüre überwinden.
    Jede Seite war eine Qual, weil ich bis zum Schluss keinen Zugang fand. In dem Ich-Erzähler und seinem Bruder sah ich aufdringlich verschlüsselt Ernst Jünger selbst und seinen Bruder Friedrich Georg, während die Sprache zwar rhetorische und ästhetische Qualitäten besaß, aber mir hermetisch verschlossen blieb. In seiner empathielosen Kälte fand ich in dem Roman nichts Menschliches, zumal mich das Feindbild des Oberförsters nicht überzeugte, denn in der Schinderhütte in Köppelsbleek sah ich eine Projektion, um von der eigenen Verantwortung abzulenken. Ich konnte mein historisches Wissen über die Verbrechen der Nazis nicht ausblenden und interpretierte die Schinderhütte unweigerlich als Vernichtungslager wie Auschwitz.
    Dass Jünger in jüngster Zeit immer mal wieder ein Revival erfährt, finde ich soziologisch interessant. Insofern werde ich mich nie wieder direkt mit seiner Literatur befassen, stattdessen möchte ich wissen, was in seinen Fankreisen sonst noch so gedacht wird. Für mich ist Jünger ungenießbar wie Sürströmming, aber ich empfinde ihn als Marker für konservativ-reaktionäre Kreise, die auf den größtem Teil der Menschheit verächtlich herabschauen und sich für etwas Besseres halten.

  • Ernst Jünger ist ein schwieriges Thema. Soweit ich mich mit ihm beschäftigt habe, würde ich sagen, daß er vor allem vor 1933 ein Faschist war. Als die Nazis an die Macht kamen, waren sie ihm eher zu primitiv. Er hat aber im "Dritten Reich" eine widersprüchliche Rolle gespielt. Er bemühte sich schon um geistige Unabhängigkeit, aber wurde von den Machthabern weiter als Autor geschätzt und hat sich das wohl auch gern gefallen lassen. Nach 1945 hatte er dann lange Publikationsverbot und hat mit allen Mitteln sich zu rehabilitieren versucht, was ihm nach meiner Einschätzung auch teilweise gelungen ist. Er hat eine Menge Bewunderer auch im antifaschistischen Lager.

    Also ich habe nur ein Buch von Jünger gelesen, ein sehr untypisches. Ich muß vorausschicken, daß ich nie Drogen genommen habe, und zwar infolge einer Romanlektüre: "A Scanner darkly" von Philip K. Dick; darin beschreibt er, wie das Gehirn eines Drogensüchtigen Stück für Stück zerstört wird. Zum Ausgleich habe ich "Annäherungen. Drogen und Rausch" von Jünger gelesen. Ob das große Literatur ist, weiß ich nicht, aber Jünger hat sehr genau beschrieben, wie unterschiedliche Substanzen auf ihn gewirkt haben und inwieweit ihm das eine Bewußtseinserweiterung brachte. Das ist bei mir aber ungefähr so, wie wenn ein Antialkoholiker einem Barkeeper beim Mixen zusieht. :D

    Witzigerweise wird heute im Radio (ich höre BR) dauernd darüber geredet, was die Lockerung des Cannabisverbots gebracht hat (in Bayern gar nichts). Vermutlich hätte Ernst Jünger darüber laut gelacht.

  • Mit seiner Sicht, die Nazis als primitiv einzuschätzen, war er nicht allein. Hanns Heinz Ewers ist wahrscheinlich ein ähnlicher Fall, vom politischen Standpunkt, aber mit dem kam ich weitaus besser zurecht, weil ich ihn ambivalenter empfand.

    Nun ja, eine antifaschistische Sicht auf Jünger, das macht mich neugierig. Hast du da irgendwelche Namen oder kennst du Titel, wo sich das nachlesen läßt? Dabei wüßte ich schon gern, mit wem ich es zu tun habe; also am liebsten wäre mir ein biographischer Beleg, dass der Antifaschismus keine rhetorische Floskel ist.

  • Jünger hatte ja eine enge Beziehung zu Frankreich - allerdings ausgerechnet, weil er als Besatzungssoldat 1940 bis 44 in Paris war. Er soll dort ein Künstlerleben geführt haben. Aber deshalb wird André Gide als sein Bewunderer genannt. Ich hätte dann noch Alfred Andersch anzuführen, der als Laudator bei der Verleihung des Schiller-Preises des Landes Baden-Württemberg sagte: "Ein nationaler Mann ist er nicht, sondern er war einmal ein fürchterlicher Nationalist (ein Nationalist zum Fürchten), heute ist er ein milder Patriot und Anhänger eines Weltstaats; konservativ war er nie. Niemals." Aber man könnte bei Jünger eben auch zahlreiche Kritiker nennen. Die 68er Studenten haben ihn bekämpft.

    Ich bin kein Germanist. Die ausführlichste Darstellung seines Werks habe ich in Franz Lennartz: Deutsche Schriftsteller der Gegenwart. Stuttgart (Kröner) 1978 gefunden - vermutlich ein Standardwerk. Im "Lexikon der Science Fiction Literatur heißt es lediglich: "Jüngers Werk wird von der Kritik zwiespältig beurteilt."

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