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Alt 30.01.2024, 09:47   #1876  
underduck
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... aber stell dich nicht rein! ...
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Alt 30.01.2024, 09:50   #1877  
Peter L. Opmann
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Keine Sorge, ich will hier noch ein paar Filme mehr besprechen.
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Alt 01.02.2024, 06:06   #1878  
Peter L. Opmann
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Zu „Fahrstuhl zum Schafott“ (1957) von Louis Malle fällt mir ein eindeutiges Urteil schwer. Wieder mal ein Film, an den ich mich nur vage erinnern konnte. Das liegt daran, daß er einen beachtlichen Stilwillen zeigt (zumal für ein Regiedebüt), aber als Film noir oder Thriller nicht so richtig funktioniert. Allerdings dürfte das Absicht sein: Die Nouvelle Vague setzte sich ja bewußt von den handwerklich soliden Regisseuren der Nachkriegszeit wie Autant-Lara oder Melville ab, und Malle hatte vermutlich anderes im Sinn, als einen typischen Krimi zu drehen. Sehr stark ist das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das durch den genau passenden Soundtrack von Miles Davis noch verstärkt wird. Wenn es aber kein richtiger Genrefilm ist, dann bin ich als Zuschauer irritiert; der Film prägt sich mir nicht ein.

Die Story ist diesmal ziemlich verwickelt: Maurice Ronet soll auf Drängen seiner Geliebten Jeanne Moreau ihren Ehemann töten, der ihnen im Weg steht. Er sucht den Rüstungsmagnaten in seinem Büro auf, erschießt ihn, aber läßt es wie einen Selbstmord aussehen. Seine eigenen Spuren verwischt er sorgfältig – es ist beinahe das perfekte Verbrechen. Als er aber das Firmenhochhaus verläßt, fällt ihm ein, daß er doch eine Spur zurückgelassen hat, und fährt mit dem Aufzug noch einmal zu dem Büro hoch. Es ist Samstagnachmittag, und in diesem Moment wird der Aufzug für das Wochenende abgeschaltet und bleibt genau zwischen zwei Etagen stecken. Ronet kann sich nicht befreien. Ein Halbstarker und seine Freundin stehlen derweil Ronets Auto, das er mit laufendem Motor vor dem Haus stehengelassen hat. Sie treffen in einem Motel auf ein Ehepaar, das einen richtigen Sportwagen fährt, und der Rocker-Jüngling stiehlt auch dieses Auto und erschießt dabei den Besitzer und seine Frau mit der Pistole Ronets, die er im Auto gefunden hat.

Moreau wartet die ganze Nacht vergeblich auf Ronet und denkt schließlich, er sei zu feige für den Mord gewesen. Aus den beim Motel gesicherten Spuren schließt der Polizeiinspektor (Lino Ventura), Ronet habe den Sportwagenbesitzer ermordet, und berichtet das auch der Presse. Als Ronet schließlich aus dem Fahrstuhl freikommt und sich in ein Café setzt (der Mord, den er begangen hat, ist noch unentdeckt), wird er verhaftet. Nun fällt es ihm schwer, seine Unschuld zu beweisen, ohne den Mord, den er wirklich begangen hat, aufzudecken. Der tote Firmenchef wird inzwischen entdeckt. Moreau erfährt, daß ihr Geliebter verhaftet worden ist, und geht zur Polizei. Sie hat das junge Pärchen entdeckt, das tatsächlich hinter dem Mord an dem Sportwagenbesitzer steckt, und will die Ermittler auf die beiden aufmerksam machen. Ventura kommt darauf, daß alles ganz anders gewesen sein könnte. Der Jugendliche hat ein Problem: Er ist mit einer Kamera Ronets zusammen mit seinem Opfer fotografiert worden. Die Bilder werden gerade entwickelt. Als er sie abholen will, um sie zu vernichten, wird er bereits von der Polizei erwartet. Und nun ist auch Ronet überführt. Auf dem Film sind nämlich auch Fotos, die ihn zusammen mit Moreau als Liebespaar zeigen.

Der Film wirkt überhaupt nicht wie ein Erstlingswerk. Sehr präzise wird eine ausweglose Stimmung erzeugt: Ronet gefangen im Fahrstuhl, Moreau ziellos durch Paris irrend, später die Ermittlungen, die sich wie eine Schlinge um beide zuziehen. Das junge Pärchen wird ziemlich negativ geschildert: immer nur Dummheiten im Kopf, die plötzlich in Gewalt umschlagen können. Sie sind eigentlich haltlos und verloren. Ronet und Moreau sind dagegen Erwachsene, die sich die Folgen ihres Handelns stets genau überlegen. Doch ihre Liebesbeziehung wird nur behauptet; man erfährt darüber nichts weiteres und kann sie nicht nachvollziehen. Wie Ventura agiert, erinnert er an den Kommissar Erik Odes – nicht unbedingt eine Identifikationsfigur. Keine Figur in dem Film wirkt sympathisch. Alle sind nur Spielkegel im Griff von blinden Zufällen, die für sie allesamt negativ ausgehen. Da hat sicher der Existentialismus erheblichen Einfluß ausgeübt. Wenn es aber keine Identifikationsfigur gibt, der man wünschen würde, daß sie es schafft, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, dann fehlt eine wichtige Voraussetzung für Spannung. Manche Kritiker haben 1957 an dem Film bemängelt, daß er im falschen Tempo gedreht sei. Malle geht es jedoch überhaupt nicht darum, Spannung zu erzeugen oder gar zu steigern. Was nicht bedeutet, daß „Fahrstuhl zum Schafott“ nicht ein fesselndes Werk wäre. Aber eben kein regelrechter Thriller. Ich denke, weil Malle die Genregesetze ignorierte, hatte er in Hollywood auch Schwierigkeiten, andere als unabhängig produzierte Filme zu machen.
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Alt 01.02.2024, 11:32   #1879  
Phantom
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Zitat:
Zitat von Peter L. Opmann Beitrag anzeigen
Wieder mal ein Film, an den ich mich nur vage erinnern konnte.
An diese Nouvelle-Vague-Filme kann ich mich auch immer nur vag erinnern.

Ich weiß, dass ich den Film spät zum ersten Mal gesehen habe, als ich schon wusste, dass das ein toller Thriller sein soll. Meine Erwartungen wurden dann etwas enttäuscht, ich weiß gar nicht mehr genau, warum eigentlich. Wenn ich das richtig im Kopf habe, wird doch Ronet gar nicht wirklich überführt, oder? Dass er der Geliebte der Frau des Toten ist, ist doch kein Beweis für den Mord. Im Film wird aber so getan, als wäre der Beweis damit erbracht. (Jedenfalls nach meiner Erinnerung.)
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Alt 01.02.2024, 12:35   #1880  
Peter L. Opmann
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Du hast recht: Es gibt - erkennbar - keinen Beweis, daß er den Rüstungsindustriellen ermordet hat. Aber er hat ein eindeutiges Motiv durch das Verhältnis zu dessen Frau - während beide mehrfach betont haben, sie würden sich nur flüchtig kennen...

Was mich aber überrascht hat: Kommissar Lino Ventura sagt allen auf den Kopf zu, wie lang ihre Gefängnisstrafe sein wird, die das Geschworenengericht verhängen wird. Er kennt offenbar den Spruch nicht, daß man vor Gericht und auf hoher See in Gottes Hand ist. Und Jeanne Moreau blüht natürlich die Todesstrafe (durch die Guillotine?).
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Alt 01.02.2024, 14:37   #1881  
Servalan
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Wenn es um die Nouvelle Vague und Genrefilme geht, insbesondere Film Noir, dann ist mein unangefochtener Favorit François Truffaut. Da denke ich vor allem an „Die Braut trug schwarz“, sicher eines der Vorbilder für Tarantinos „Kill Bill“. Und soweit ich das mitbekommen habe, stammt die ursprüngliche Idee zu Godards Debüt „Außer Atem“ auch von Truffaut.

Bei „Fahrstuhl zum Schafott“ ist bei mir eigentlich nur die Musik von Miles Davis hängengeblieben. Bei Jazz bin ich extrem wählerisch und vieles gefällt mir nicht, aber den Davis Score fand ich überzeugend, weil er zur Atmosphäre gepaßt hat. Für mich verkörpert die Musik den damaligen Zeitgeist, das Gefühl der demnächst anbrechenden 60er Jahre.
So auf Anhieb kann ich mich an fast gar nichts erinnern.
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Alt 01.02.2024, 15:53   #1882  
Peter L. Opmann
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Chet Baker wäre auch gut gewesen - "Songs for absent lovers"...
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Alt 01.02.2024, 17:11   #1883  
Phantom
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Ich bin bei diesen Kriminalfilmen manchmal zu kritisch, wenn es um die Überführung der Täter geht. Kann man ihnen das jetzt nachweisen oder nicht? Es ist eben Fiktion und keine Realität. Dass hier unter den entwickelten Fotos, die Ronet ja von der einen Tat entlasten sollen, auch belastende für die andere Tat sind, ist schon ein netter Twist.

Mich erinnert das an die Columbo-Filme. Da geht es ausschließlich darum, wie man dem Täter, den der Zuschauer ja kennt und Columbo von Anfang an erahnt, die Tat nachweisen kann. Und in den besseren Folgen ist das am Ende auch ein überraschender Twist, eine Tonbandaufnahme, ein Foto, eine Überwachungskamera mit Zeitstempel: irgendetwas, was beweist, dass der Täter gelogen hat. Dann freut man sich mit Columbo, und der Film ist aus. Sehr häufig wird man bei genauerem Nachdenken feststellen, dass die Tat eigentlich noch nicht belegt wurde: dass jemand an einer Stelle gelogen hat oder ein Alibi zusammenbricht, ist kein Beweis für die Schuld. Aber es ist ein Film, und da ist ein cleverer Drehbucheinfall eben wichtiger als Realitätsnähe.
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Alt 01.02.2024, 18:22   #1884  
Peter L. Opmann
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Der Vergleich mit "Columbo" ist vielleicht nicht schlecht. Der Kriminalfall ist gar nicht so wichtig. Es geht um die originelle, skurrile Ermittlungsmethode von Peter Falk. Eigentlich ist es ja für einen Krimi tödlich, wenn der Zuschauer gleich zu Beginn erfährt, wer der Mörder ist (es sei denn, man erzählt die ganze Geschichte aus der Sicht des Mörders).

Aber den Kunstanspruch von Louis Malle hatte "Columbo" dann doch nicht.
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Alt 01.02.2024, 18:47   #1885  
Servalan
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Es gibt ja verschiedene Arten von Krimis, und nicht in allen spielt die Polizei die entscheidende Rolle; das kommt auf die Perspektive an. Im Thriller agiert die Polizei zum Beispiel nur im Hintergrund, wenn ein vermeintlicher Täter seine Unschuld zu beweisen versucht, indem er den wahren Täter sucht; oder wenn ein Opfer versucht, dem Täter zu entkommen.

Insofern hege ich den Verdacht, dass Deutschland eine Vorliebe für das police procedural hat; in anderen Ländern gibt es meiner Ansicht eine wesentlich breitere Palette von Ermittlern, die von adligen Hobbydetektiven über Privatdetektive und Schriftsteller bis zu den naseweisen Patholgen à la „Quincy“ reicht.
Historisch reicht die Tradition bis zum „Pitaval“ zurück, einer französischen Sammlung von Kriminalfällen aus dem 18. Jahrhundert. Ich finde, in dem populären Genre spiegelt sich der gesellschaftliche Zeitgeist: Solange eine Gesellschaft optimistisch in die Zukunft blickt, sorgt eine Whodunit für geordnete Verhältnisse; wenn eher Pessimismus vorherrscht und Ängste bestimmend sind, kippt das Bild und die Verbrecher sind am längeren Hebel.
„Fahrstuhl zum Schafott“ sehe ich zwischen beiden Tendenzen: Im Fokus der Erzählung stehen normale Menschen, die in ihrer Verzweiflung kriminelle Taten begehen - und letztlich von der Polizei überführt werden. Die Moral wird noch durchgesetzt, in der Hinsicht funktioniert das Zusammenleben noch.
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Alt 01.02.2024, 19:36   #1886  
Peter L. Opmann
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Wie gesagt: Ich denke, für Malle war der Kriminalfall nebensächlich, vielleicht nur Vorwand für seine Inszenierung. Ihm geht es um die Darstellung von Einsamkeit, um das Ausgeliefertsein an böse Zufälle. Nicht sicher bin ich, ob er die beiden Jugendlichen absichtlich so gedankenlos-grausam zeigen wollte, oder ob das ein Klischee am Beginn der Zeit der Jugendrevolte war.

Der Zuschauer bleibt bei ihm halt doch an dem Krimi hängen, und insofern ist der Film dann unbefriedigend. Der von der Nouvelle Vague verehrte Hitchcock hat beides zusammengebracht: Suspense durch eine Kriminalstory und eine tiefergehende Atmosphäre der Bedrohung oder ähnliches.
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Alt 03.02.2024, 06:26   #1887  
Peter L. Opmann
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„Sie küßten und sie schlugen ihn“ (1959) von Francois Truffaut gilt als der eigentliche Beginn der Nouvelle Vague. Auch dies ein Erstlingswerk – von einem, der sich als Kinokritiker das Handwerkszeug des Regieführens angeeignet hatte. Truffaut verzichtet hier, soweit ich das überblicke, am konsequentesten auf Genreregeln. Godard hat sich zwar von dieser Regisseur-Gruppe am weitesten vom amerikanischen Genrefilm entfernt, aber er begann mit einem Gangsterfilm („Außer Atem“). Truffaut dagegen beginnt mit einer annähernd autobiografischen Geschichte, einem Film, der eigentlich uninteressant zu sein scheint, aber eine eigentümliche Faszination ausübt.

Jean-Pierre Leaud, zu diesem Zeitpunkt 14 bis 15 Jahre alt, hat in Paris Schwierigkeiten in der Schule, in der Pädagogik allerdings keine große Rolle spielt und die Schüler stur diszipliniert werden. Seine Eltern aus der unteren Mittelschicht (Claire Maurier, Albert Remy) vernachlässigen ihn – auch wegen eigener Probleme – und stehen seinen kleinen Regelverstößen mit Unverständnis und hilflos gegenüber. Maurier hat ihn aus einer anderen Beziehung in die Ehe mitgebracht und macht gern mal einen Seitensprung. Remy gibt sich zunächst kumpelhaft und wechselt dann zu einer autoritäreren Haltung – beides bringt ihm nicht das Vertrauen des Jungen ein. Leaud will von zuhause abhauen und allein auf sich gestellt „ein Mann werden“. Als er schließlich im Büro seines Vaters eine Schreibmaschine entwendet, um sie zu Geld zu machen, wird er in ein Heim für Schwererziehbare gesteckt. Dort erlebt er ebenfalls nur Druck und Strafen und nutzt schließlich eine Sportstunde zur Flucht. Er läuft bis zum Atlantik; ob er dem Heim entkommen ist, bleibt am Ende offen.

Diese alltägliche, nicht besonders dramatisierte Handlung wirkt dennoch selbst mit dem Abstand von mehr als 60 Jahren fesselnd, weil es Truffaut gelingt, ganz die Perspektive des Teenagers einzunehmen. Leaud interessiert sich für Literatur (Balzac) und macht sich Gedanken über sein Leben, aber er ist doch in gewissem Sinn noch ein Kind, das nicht in der Lage ist, verantwortliche Entscheidungen zu treffen. Daß er im Begriff ist, auf die schiefe Bahn zu geraten, ist aber so, wie das Truffaut zeigt, allein die Schuld der Erwachsenen, die an seiner Erziehung beteiligt sind, weil sie entweder an veralteten und untauglichen pädagogischen Konzepten festhalten (die Lehrer) oder sich wegen zu viel eigener Sorgen einfach zu wenig um ihn kümmern (die Eltern). Das wirkt ziemlich realistisch (auch wenn die gesellschaftlichen Bedingungen der Nachkriegszeit andere waren als heute), und man nimmt lebhaft Anteil an diesen verkorksten Verhältnissen.

Ein weiterer Widerspruch kommt dem Film zugute: Einerseits wirkt die Milieuzeichnung pessimistisch, denn man kann sich nicht vorstellen, wie Leaud oder andere Filmfiguren glücklich werden könnten. Andererseits erlebt der Junge das Leben immer wieder auch aufregend und verheißungsvoll. Wenn er nur aus seinen beengten Verhältnissen ausbrechen kann, denkt man, dann kanner auch sein Glück finden. Dabei spielt sicher eine Rolle, daß Truffaut hier teilweise seine eigene Jugend schildert, und trotz der familiären Probleme seiner Kindheit hat er es in der Welt des Films geschafft. Es ist ein produktiver Kontrast, den er hier sehr wirkungsvoll ausspielt. Ich habe auch in „Sie küßten und sie schlugen ihn“ keine Regiefehler oder Schwächen entdeckt, die man mit dem Debüt entschuldigen müßte.

„Sie küßten und sie schlugen ihn“ war wohl international so erfolgreich, daß der neue ungekünstelte und wahrhaftige Regiestil ernst genommen werden mußte und vielen ähnlichen Filmen den Weg bahnte. Truffaut erhielt in Cannes den Regiepreis und wurde für das Drehbuch für einen Oscar nominiert. Bemerkenswert: In Cannes war ihm ein Jahr vorher noch die Akkreditierung als Kritiker verweigert worden, weil er über das Festival zu kritisch geschrieben hatte.
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Alt 05.02.2024, 06:15   #1888  
Peter L. Opmann
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Um die Videocassette zuende zu schauen, habe ich mir nun „Geraubte Küsse“ (1968), erneut von Francois Truffaut, angesehen. Es ist gewissermaßen die Fortsetzung von „Sie küßten und sie schlugen ihn“, aber alles andere als ein franchise. Zunächst hat Truffaut fast zehn Jahre vergehen lassen, bis er sich wieder ausführlich seiner autobiografischen Geschichte zugewandt hat. Und sie weist keinerlei direkte Bezüge zum Vorgängerfilm auf. Wir erleben nun auch Jean-Pierre Leaud etwa zehn Jahre später, und er ist zwar immer noch ein eingenwilliger Charakter, aber Auswirkungen seiner schwierigen Kindheit und Jugend sind nicht zu entdecken. Es geht vielmehr um ein Thema, das zuvor noch fast keine Rolle spielte: seine Beziehungen zu Frauen. Wobei er etwas hat, das Frauen anzieht.

Leaud wird unehrenhaft aus der Armee entlassen. Eine befreundete Familie versucht, ihm trotz dieses Makels zu einem beruflichen Start zu verhelfen. Leaud knüpft wieder Kontakt zu der Tochter des Hauses (Claude Jade), der er als Soldat eine Flut von Liebesbriefen geschrieben hat, bevor die Verbindung beinahe eingeschlafen ist. Es kommt aber zu keiner rechten Annäherung – Leaud ist sich bei ihr unsicher. Zunächst wird er Hotelportier, wird dabei aber in einen von einem Detektiv aufgedeckten Ehebruch verwickelt und deshalb gefeuert. Der Detektiv schlägt ihm vor, in seine Detektei einzutreten.

Er wird für Ermittlungen zum Schein Angestellter eines Schuhhändlers und lernt dabei dessen Frau (Delphine Seyrig) kennen, die nach Ladenschluß noch Pumps probiert. Von dieser älteren Frau ist er augenblicklich fasziniert, wagt es aber nicht, sich ihr zu nähern. Sie merkt schnell, was in ihm vorgeht, besucht ihn kurzerhand in seiner bescheidenen Wohnung und geht mit ihm ins Bett, allerdings unter der Bedingung, daß sich beide nie wiedersehen. Als Leaud seinem Chef die Affäre gesteht, fliegt er auch aus der Detektei raus. Kurz darauf arbeitet er bei einem TV-Reparaturdienst. Claude Jade manipuliert ihren Fernseher und bestellt Leaud zum Reparieren. Damit wird es nun mit ihrer Liebe ernst.

Ein sehr französischer, sehr galanter Film, würde ich sagen. Wobei Truffaut auf Sexszenen völlig verzichtet, ohne daß auch nur ein kleiner Zweifel besteht, daß es hauptsächlich um die sinnliche Anziehung zwischen Paaren geht. Hier gibt es, anders als in „Sie küßten und sie schlugen ihn“ keine düsteren oder bitteren Untertöne. Leaud ist nun ein noch relativ unschuldiger, verträumter junger Mann, der in seine Abenteuer mit dem schönen Geschlecht eher hineinstolpert. Das ist liebenswürdig-ironisch inszeniert. In meinen Augen fehlt es dem Film damit freilich an Tiefe. Ich könnte mir vorstellen, daß ein so leichtes Spiel mit Liebe und Liebeleien 1968 im Kino noch ziemlich unüblich war. Wie ich lese, war „Geraubte Küsse“ in Frankreich ein großer Erfolg. Manche Szenen haben sich dort dem Publikum unauslöschlich eingeprägt. In Deutschland hätte der Film so sicher nicht gedreht werden können, aber ich glaube auch, daß er hier einen weit geringeren Eindruck hinterlassen hat. Ich finde ihn nett und unterhaltsam, vermisse aber hier und da eine kräftigere Umarmung und etwas nackte Haut (was in späteren Filmen obligatorisch wäre). Das amouröse Spiel bleibt mir zu sehr an der Oberfläche.

Truffaut drehte noch zwei weitere Filme mit Jean-Pierre Leaud als seinem alter ego: „Tisch und Bett“ (1970) und „Liebe auf der Flucht“ (1978), in denen jeweils auch Claude Jade mitwirkte. In dem Episodenfilm „Liebe mit Zwanzig“ (1962) taucht Leaud in Truffauts Beitrag in dieser Rolle noch einmal auf. Alle diese Filme habe ich leider nicht in meiner Sammlung.
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Alt 08.02.2024, 07:07   #1889  
Peter L. Opmann
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Dieser Film gehört unbedingt noch hierher, in die Reihe von Frühwerken der Nouvelle Vague, bevor ich mich etwas anderem zuwende: „Außer Atem“ (1960), der erste abendfüllende Film von Jean-Luc Godard. Das ist ohne Zweifel ein Kultfilm. Zugleich wurde er stilprägend für die französische neue Welle – leider ist das Neue dieses Stils mit mehr als 60 Jahren Abstand nicht mehr in seiner ursprünglichen Drastik wahrnehmbar. Die Provokation ist inzwischen abgenutzt. Trotzdem wirkt „Außer Atem“ auf mich immer noch sehr modern. Und obwohl er seine Geschichte absichtlich „falsch“ erzählt, nimmt sie den Zuschauer immer noch gefangen.

Äußerlich werden ein paar Tage im Leben eines kleinen Ganoven (Jean-Paul Belmondo) geschildert – die letzten Tage seines Lebens, ehe er von der Polizei erschossen wird. Er ist offenbar eben nach Paris zurückgekehrt und will eine Prämie kassieren – wofür, wird nicht ganz klar. Er erhält aber nur einen Verrechnungsscheck, mit dem er nichts anfangen kann. Einen anderen Kriminellen, von dem er sich einen größeren Bargeldbetrag erhofft, kann er nirgendwo auftreiben. Belmondo trifft ein paar Mädchen, die er in Paris kennt. Unter ihnen interessiert er sich am meisten für die amerikanische Studentin Jean Seberg, die nebenbei als Zeitungsverkäuferin auf den Champs Elysees jobbt. Mit ihr will er, sobald er sein Geld hat, nach Rom fahren, aber sie ist nicht sicher, ob sie sich auf ihn einlassen will. Trotzdem verbringen sie die meiste Zeit zusammen, müssen sich dabei aber immer vor der Polizei in Acht nehmen, die bereits nach Belmondo fahndet. Als sie wegen ihrer Bekanntschaft mit ihm von Polizisten befragt wird und fürchten muß, daß sie aus Frankreich ausgewiesen wird, verrät sie ihn. Er ist lebensüberdrüssig geworden und flieht nicht mehr, obwohl er eher durch einen dummen Zufall ums Leben kommt, als er sich nach einer weggeworfenen Pistole bückt.

Die Handlung interessiert Godard nur wenig, obwohl er zu dieser Zeit ein großer Fan amerikanischer Gangsterfilme war. Suspense und Action beschränkt er auf kurze Szenen; mitunter findet das Wichtige sogar im Off statt. Stattdessen konzentriert er sich auf das Zusammensein von Belmondo und Seberg. Er will sie haben; sie hält ihn zwar auf Abstand, schickt ihn aber nicht weg. Eine große Liebesgeschichte ist das allerdings nicht; beide haben diffuse Wünsche und Träume, fühlen sich zugleich voneinander angezogen und wissen nichts Rechtes mit sich und miteinander anzufangen. Ein Zeichen für die Ungeduld der Jugend, aber auch von Unreife. Man kann nachvollziehen, daß Belmondo zum Idol von Millionen von Kinobesuchern wurde. Er versteckt seine Unsicherheit hinter Humphrey-Bogart-Posen, die er direkt vor einem Filmplakat einübt. Obwohl er eigentlich nicht zur Identifikation einlädt, wurde Belmondo mit dieser Rolle zum europäischen Superstar. Die Figur von Jean Seberg ist seltsam gezeichnet: Sie ist sehr selbständig, was um 1960 wohl ungewöhnlich war. Ein wenig erinnert sie an Audrey Hepburn, aber sie ist nicht durchgängig sympathisch, sondern wirkt mitunter auch selbstbezogen und kalt. Immerhin gibt ihr das etwas Geheimnisvolles. Am Ende will sie Belmondo loswerden und liefert ihn ans Messer.

Auf jeden Fall formt Godard das amerikanische Gangsterfilmgenre in diesem Film künstlerisch um. Es gibt Parallelen zu „Fahrstuhl zum Schafott“, aber „Außer Atem“ weist zusätzlich Verfremdungseffekte auf. Bei den Dreharbeiten wurde viel auf den Straßen von Paris improvisiert, wie das später die Regisseure des Neuen Deutschen Films auch gemacht haben. Der Schnitt beeinträchtigt teilweise vermeintlich entscheidende Szenen – das hatte offenbar auch einen banalen Grund: Godard hatte sich für eine Länge von 90 Minuten verpflichtet, aber eine weitaus längere Rohfassung hergestellt. Auf dem Weg der Verfremdung ging Godard allerdings konsequent weiter, bis sich seine Filme nicht mehr zum Kult eigneten und dem Zuschauer viel abverlangten. Doch in „Außer Atem“ kann der noch ein Lebensgefühl finden, eines, das es bis dahin im Kino nicht gab.
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Alt 10.02.2024, 06:26   #1890  
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Der letzte Film des Dritten Reichs: „Shiva und die Galgenblume“ (1945) von Hans Steinhoff. In vielen Büchern ist er nicht verzeichnet, denn er blieb unvollendet, die gedrehten Szenen waren noch nicht mit Ton versehen. Jahrzehnte waren die 13 vorhandenen Filmrollen weggeschlossen, zuletzt im Bundesarchiv Berlin-Friedrichshagen. 1993 unternahmen Hans Georg Andres und Michaela Krützen den Versuch, diesen Kriminalfilm nachzuvertonen und um wichtige Szenen zu ergänzen. Zugleich fügten sie Dokumentarmaterial über die letzten Kriegsmonate in Deutschland und dem sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren sowie Aussagen und Erinnerungen von noch lebenden Beteiligten an die Dreharbeiten. Dieser Film lief 1993 im Fernsehen und 1994 auch im Kino.

„Shiva und die Galgenblume“, ein Kriminalfilm, galt als kriegswichtig. Er wurde für die Nachkriegszeit gedreht; das Deutsche Reich wollte ihn international verwerten und auf diese Weise wieder Geld in die Kasse bekommen. Man meinte, man werde die Filmproduktion schneller als andere (wohl europäische) Länder wieder in Gang bringen. Der Krimi sollte ursprünglich in Berlin gedreht werden; da aber das Bombardement auf Berlin begann, wich das Filmteam nach Prag aus. Anfang 1945 begannen die Dreharbeiten und dauerten bis März/April. Zuletzt flohen Stab und Schauspieler vor der anrückenden Roten Armee nach Österreich. Nach Aussagen von Zeitzeugen waren nur Steinhoff und der Kameramann überzeugte Nazis; die übrigen Beteiligten und die tschechischen Mitarbeiter waren vor allem bestrebt, die Dreharbeiten in die Länge zu ziehen, um nicht noch in den Kriegswirren zu sterben.

Was sieht man von der Filmhandlung? Bei einem Einbruch in eine Villa wird ein Gemälde gestohlen, das einen Mann am Galgen zeigt. Merkwürdigerweise ist es relativ wertlos, während die Einbrecher etliche sehr teure Bilder hängen ließen. In der Folge geht es um gefälschte 50-Mark-Scheine, die plötzlich in Umlauf kommen. Kriminalrat Hans Albers kümmert sich um die Sache und stellt eine Verbindung zu dem gestohlenen Gemälde her: Die gefälschten Scheine zeigen ein Detail des Galgen-Bildes. Gottlieb Sambor, ein russischer Adeliger, will Albers einen Hinweis geben. Aber der entlarvt ihn als den Maler des Bildes und zugleich als den Geldfälscher. Obwohl der Film ein paar Gruselelemente besitzt, ist vom Krieg natürlich überhaupt nichts wahrzunehmen. Wenn aber das Hausmädchen (Grethe Weiser) sich fürchtet, weil jemand ums Haus schleichen könnte, und man dazu Dokumentaraufnahmen von Bomben auf deutsche Städte sieht, bekommen solche Szenen eine ganz neue Bedeutung. Manfred Zapatka und Hans Michael Rehberg spielen einige nicht vorhandene Szenen nach und synchronisieren den Film.

Die Schauspielerinnen Margot Hielscher und Mady Rahl berichten von den Dreharbeiten in Prag. Aus ihrer Sicht konnten sie hier die Kriegsgefahr vergessen und es sich gut gehen lassen. In Prag hatte der Zweite Weltkrieg Anfang 1945 noch keine Spuren hinterlassen. Ihr Verhältnis zu den tschechischen Mitarbeitern sei gut gewesen. Die Tschechen im Stab stellen das ganz anders dar. Ihr Leben war aus Sicht der deutschen Besatzung nicht viel wert; sie konnten es nicht wagen aufzubegehren. Nur hatten sie ebenso wie die Deutschen großes Interesse daran, daß die Dreharbeiten sich möglichst hinzogen. Im Februar gab es den ersten Bombenangriff auf Prag, aber erst als die Russen kamen, wurde es ernst. Obwohl Regisseur Steinhoff streng verboten hatte, die Dreharbeiten zu verlassen, machten sich die Mitarbeiter nach und nach davon. Steinhoff selbst setzte sich früh nach Berlin ab und wollte dann aus der schon eingekreisten Stadt mit dem Flugzeug nach Spanien. Es wurde bei Glienig abgeschossen, alle Insassen kamen ums Leben.

In meiner Hans-Albers-Biografie von Joachim Cadenbach erinnert sich Schauspieler Hubert von Meyerinck an die Dreharbeiten: „Wir filmten in Prag, Grethe Weiser, Harald Paulsen und ich, wir verbrachten unser Weekend oft auf einem jahrhundertealten Schloß des Grafen von Nostitz in Miecic, wo unsere ehemalige Kollegin Trude Brionne schon lange glücklich als Gräfin Nostitz lebte, wo es ein eigenes Theater gab, in dem Mozart schon dirigiert hat. Das war Anfang April 1945. Einmal nur überraschte uns ein Bomenangriff mitten auf der Fahrt von Prag nach Miecic. Der Zug hielt, und wir hasteten in die Wiesen. Wir hatten das Gefühl, die Bomben liefen hinter uns her. Grethe im Nerz mit allen Brillanten – damals trug man ja immer das Wertvollste bei sich. Das ist ja das Inferno, sagte ich. Inferno, schrie sie mich an, du bist wohl total irrsinnig. Das Inferno ist ein KdF-Vergnügen dagegen. Und wir lachten mitten unter dem Bombenhagel.“

Es scheint mir, als hätte „Shiva und die Galgenblume“ ein ganz ordentlicher Kriminalreißer werden können. Auch wenn Steinhoff ein Nazi war, war er wohl doch auch ein versierter Filmregisseur. Es war der 15. Farbfilm, der während der Nazizeit gedreht wurde, hatte ein Budget von mehr als zwei Millionen Mark und sollte wohl ein ähnliches Qualitätsprodukt werden wie „Münchhausen“ zwei Jahre zuvor. Die Zukunft der Filmindustrie sah dann aber ganz anders aus, als es sich die Macher vermutlich vorgestellt hatten.

Geändert von Peter L. Opmann (10.02.2024 um 14:50 Uhr)
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Alt 12.02.2024, 06:11   #1891  
Peter L. Opmann
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Kehren wir zu einem Film zurück, der beispielhaft für eine Epoche steht: „Fahrraddiebe“ (1948) von Vittorio De Sica. Gemeint ist der italienische Neorealismus, der am Ende des Faschismus aufkam und schon Anfang der 1950er Jahre auslief, weil er nicht mehr dem Publikumsbedürfnis nach Unterhaltung entsprach. Als erster neorealistischer Film wird oft Luchino Viscontis „Besessenheit“ von 1942 bezeichnet, mit dem ich mich demnächst auch mal beschäftigen kann (die erste Verfilmung von „The Postman always rings twice“). „Fahrraddiebe“ ist jedoch wohl das bekannteste Werk dieser Stilrichtung. Bis heute taucht dieser Film immer wieder in Listen der besten Filme aller Zeiten auf, und ich finde, nicht zu Unrecht.

Einen Realismus hat es im italienischen wie auch französischen Kino schon vor dem Zweiten Weltkrieg gegeben. Diese Filme waren oft sozialistisch oder kommunistisch gefärbt, und unter Mussolini konnte diese Entwicklung so nicht weitergehen. Auch die neorealistischen Filme waren im besten Sinne sozialkritisch, zeichneten sich aber vor allem dadurch aus, daß sie prekäre Milieus mit Laiendarstellern vorführten und abgesehen von ihrer Spielhandlung auf die illusionistischen Mittel des Kinos weitgehend verzichteten. Auch die Darsteller in „Fahrraddiebe“ waren keine ausgebildeten Schauspieler; sie waren zwar nach dem Kritikererfolg (unter anderem gab es den Oscar für den besten fremdsprachigen Film) in weiteren Rollen zu sehen, konnten sich aber nicht als Filmstars etablieren. Im Gegensatz zu „Ein Mensch der Masse“ oder „Emil und die Detektive“, die ich oben besprochen habe, verzichtet „Fahrraddiebe“ konsequent auf ein happy end.

Ein junger Familienvater im Rom der Nachkriegszeit findet nach langer Arbeitslosigkeit wieder eine Stelle. Er wird Plakataufhänger. Interessant: Rom verfügt über eine Legion solcher Leute – Plakate waren damals offenbar das beherrschende Massenmedium. Zuerst muß der Mann aber sein verpfändetes Fahrrad auslösen - ohne Rad kann er den Job nicht machen. Seine Frau versetzt dafür ihre Bettwäsche. Schon am ersten Arbeitstag wird ihm das Rad allerdings geklaut. Mit seinem Sohn und ein paar Freunden sieht er sich auf einem Fahrradmarkt um, aber es erscheint aussichtslos, das Rad wiederzufinden. Auch eine Anzeige bei der Polizei ist nutzlos.

Zufällig erkennt er den Dieb auf der Straße wieder, aber der kann untertauchen. Nachdem eine Wahrsagerin ihm versichert hat, er werde das Rad schnell finden, begegnet er dem Dieb erneut und verfolgt ihn bis zu dessen Wohnung. Der streitet aber alles ab, und die Nachbarn – möglicherweise eine Mafiabande – springen ihm bei. Ein auftauchender Polizist verhindert, daß der Mann verprügelt wird, aber Beweise, um den Täter zu verhaften, fehlen. Das Fahrrad bleibt verschwunden. In seiner Verzweiflung beschließt der Mann, auch ein Fahrrad zu stehlen, stellt sich dabei aber so ungeschickt an, daß ihm seinerseits die Verhaftung droht. Der Fahrradbesitzer sieht von einer Anzeige ab, als er den kleinen Sohn des Mannes sieht. Aber seine Stelle hat er damit wohl verloren.

Nahezu der gesamte Film ist in Rom auf der Straße gedreht. Man sieht viel Armut und Not, lange Schlangen von Anstehenden, herumlungernde Arbeitslose und Suppenküchen und übrigens keine bekannten Ecken der „ewigen Stadt“. Obwohl die spannende, teilweise melodramatische Handlung keine Nebensache ist, entsteht mit den authentischen Kulissen zugleich ein Porträt eines Landes mit großen wirtschaftlichen Problemen und ohne Perspektive. Obwohl die neorealistischen Filme im Ausland hohes Ansehen genossen, wollten das in Italien nach einiger Zeit immer weniger Kinozuschauer sehen. Der Neorealismus hat jedoch den Film in Europa und teils auch in Hollywood stark beeinflußt.

Kleindarsteller und Regieassistent bei „Fahrraddiebe“ war übrigens Sergio Leone, der später aber mit seinen eigenen Filmen zu den großen Illusionen zurückkehrte.
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Alt 12.02.2024, 07:57   #1892  
Nante
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Ja, das Ende des Films war schrecklich deprimierend. Der Mann hatte ja am Ende nicht nur seinen Job sondern auch seine Selbstachtung und Mut verloren. Dazu die Kommentare der Leute wie "Geh doch arbeiten!" Er war mit dem Jungen in der Masse irgendwie allein.

Jeder Idiot kann eine Krise meistern. Es ist der Alltag, der uns fertig macht.
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Alt 12.02.2024, 08:06   #1893  
Peter L. Opmann
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Das fand ich zunächst melodramatisch - wie auch die Beziehung zwischen Vater und Sohn, die ein paar Krisen erlebt.

Aber es ist wohl so: Solidarität können sich nur die leisten, denen es wirtschaftlich gut geht. Wer ganz unten ist, erlebt eher gegenseitiges Treten und Getretenwerden.
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Alt 14.02.2024, 06:15   #1894  
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Es ist zwar nicht ganz zutreffend, aber man könnte Maurizio Nichettis Film „Die Seifendiebe“ (1988) als Parodie auf „Fahrraddiebe“ ansehen. Ich habe diese beiden Filme noch nie unmittelbar nacheinander gesehen; deshalb habe ich das jetzt mal gemacht. Nichetti hat letztlich eine Satire auf das moderne (private) Fernsehen im Sinn. Da wird ein Kunstfilm, der den „Fahrraddieben“ verblüffend ähnelt, zwar ausgestrahlt, aber immer wieder durch Werbespots unterbrochen, was den Regisseur, der als Gast im Fernsehstudio sitzt, zunehmend auf die Palme bringt. Durch die Werbung wird die Handlung des Films zudem verändert. „Die Seifendiebe“ wirft aber auch einen Blick ins Wohnzimmer einer typischen TV-Gucker-Familie, die vom Wechsel von Filmhandlung und Werbung kaum etwas mitbekommt. Allerdings rutscht Nichetti mehrfach in Klamauk ab und zollt damit dem Zuschauerbedürfnis nach seichter Unterhaltung selbst Tribut.

Erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit Nichetti den Stil des Neorealismus überzeugend nachahmt. Seine „Seifendiebe“ beginnen fast genauso wie das berühmte Vorbild. Die Hauptfigur (gespielt von Nichetti selbst) findet hier jedoch trotz aller Mühe keinen Job, während seine Frau im Tingeltangel arbeitet, was ihm selbstverständlich mißfällt. Ab da entfernt sich die Imitation immer mehr vom Original, auch beeinflußt durch die zwischengeschaltete Werbung, die Dinge präsentiert, die es im Neorealismus-Italien noch gar nicht gegeben hat. Durch Fürsprache des Pfarrers erhält der arbeitslose Familienvater schließlich Arbeit in einer Glashütte. Nach Feierabend stiehlt er für seine Frau einen gläsernen Lüster. Auf dem Heimweg begegnet er einer Werbefrau, die er aus einem Fluß (vermutlich dem Tiber) retten muß. Er läßt den Kronleuchter liegen und nimmt sie mit nach Hause, was aber bei seiner Frau einen Eifersuchtsanfall auslöst. Sie geht ins Wasser, um ihr Leben zu beenden, landet dabei aber in der TV-Werbewelt.

Der Ehemann wird wegen Mordes an seiner Frau verhaftet. Er fleht die Polizei an, nach dem Kronleuchter suchen zu dürfen, der seine Unschuld beweisen würde. Auch Regisseur Nichetti (der also eine Doppelrolle spielt) steigt in den Film ein und beteiligt sich an der Suche, denn sowohl das Verschwinden der Frau als auch die Verhaftung des Mannes stehen nicht in seinem Drehbuch. Für die Familie endet der Film gut: Die Frau kehrt zurück, der Mann wird aus dem Gefängnis entlassen. Ironisches happy end für die Hauptfiguren: Sie sind aus der Armut Nachkriegsitaliens in die wundersame Konsumwelt der Gegenwart gewechselt. Dafür landet Regisseur Nichetti im Gefängnis – er hat sich an einer Sammlung für ein Geburtstagsgeschenk mit einem 10 000-Lire-Schein beteiligt. Für die Neorealismus-Welt ist das eine ungeheure Summe, und Nichetti hat sogar noch etliche weitere Zehntausender in seinem Geldbeutel. Damit ist er für die Polizei als Geldfälscher entlarvt. Am Ende trommelt Nichetti von innen gegen den Bildschirm und fleht die Fernsehfamilie an, ihn rauszulassen, aber die schaltet nur gelangweilt den Apparat aus.

Ich finde den Film originell, außerordentlich gut inszeniert und gespielt. Er enthält Elemente einer Hommage, einer Parodie und einer kritischen Satire auf die Medienwelt. Nichetti läßt sich aber keine Gelegenheit entgehen, billige Gags und Slapstickeinlagen einzufügen (als Regisseur erinnert er an Charlie Chaplin), die ich hier deplatziert finde. Das erweckt den Eindruck, daß Nichetti einem ernsthaften, vielleicht etwas spröden Kunstfilm selbst keine Chance mehr gibt. Vor der modernen Unterhaltung gibt es kein Entrinnen – und ein Publikum für Anspruchsvolleres, zumindest in Italien, wohl auch nicht mehr.

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Alt 16.02.2024, 06:11   #1895  
Peter L. Opmann
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Es ist wieder mal Western-Zeit. Amerikanische Western folgen sehr strikten, engen Genre-Regeln. Ein paar weichen davon ab, und zu ihnen gehört „Ritt zum Ox-Bow“ (1943) von William A. Wellman. Er erschien, als die USA gerade im Krieg mit Nazi-Deutschland waren, und es wirkte daher unpassend, daß er die Amerikaner nicht nur ganz unheroisch, sondern sogar leicht aufzuwiegeln und zu fanatisieren zeichnete. Er paßt jedoch gut auch in unsere Zeit der Wutbürger und gewalttätigen Demonstranten. Der Film wurde von Anfang an von der Kritik anerkannt, war aber zunächst kein geschäftlicher Erfolg für sein Studio, die 20th Century Fox. Natürlich möchte sich niemand gern in den hier gezeigten Figuren wiedererkennen. Das ist das Problem aller politischen Filme.

Cowboy Henry Fonda kommt mit einem Freund (Harry Morgan) in ein Nest in Nevada, um seine Braut zu holen, aber die ist abgereist. Während er noch überlegt, was er in dieser Gegend anfangen kann, wo es im Saloon nur eine Sorte Whisky gibt, trifft die Nachricht ein, daß ein Rancher ermordet und sein Vieh gestohlen worden sei. Der Sheriff ist gerade nicht da, und damit nicht die Verbrecher am Ende noch entwischen, wird kurzerhand ein Suchtrupp zusammengestellt. Die Teilnehmer freuen sich schon darauf, die Täter zu hängen – auch für sie ist das Leben in der Stadt wenig abwechslungsreich. Der Richter will sie zurückhalten, aber seine Gewalt beschränkt sich auf den Gerichtssaal, den die Übeltäter gar nicht zu sehen bekommen sollen. Fonda und Morgan reiten mit, um sich nicht verdächtig zu machen.

In der Nacht stößt der Trupp auf drei Männer (Anthony Quinn, Dana Andrews und Francis Ford), die Vieh mit dem Brandzeichen des Ranchers bei sich haben. Sie behaupten, sie hätten es ihm abgekauft, aber die Wortführer des Suchtrupps glauben ihnen nicht. Sie halten die Drei des Verbrechens für überführt und wollen sie bei Tagesanbruch lynchen. Als einige, darunter auch Fonda, sich dagegen aussprechen, schreiten sie zu einer Abstimmung. Die Mehrheit ist für die Hinrichtung, und Fonda setzt sich nicht mehr weiter für die drei Männer ein. Andrews schreibt einen Abschiedsbrief und bittet, ihn seiner Frau zu überbringen. Dann werden die Drei gehängt. Bei der Rückkehr in die Stadt begegnet die Gruppe dem Sheriff. Der teilt ihnen mit, der Rancher sei nicht tot, und die Viehdiebe habe er gefaßt und eingesperrt. Er kündigt allen, die für die Hinrichtung waren, eine harte Bestrafung an. Einer der Rädelsführer, ein ehemaliger Südstaatenmajor des Bürgerkriegs (Frank Conroy), kommt dem zuvor und begeht in seinem Haus Selbstmord. Fonda liest den Abschiedsbrief vor. Er wird ihn zusammen mit einem Geldbetrag, der rasch gesammelt worden ist, der Witwe überbringen.

Sieht man von der politischen Botschaft ab, die man im Extremfall als Warnung vor dem alltäglichen Faschismus, auch außerhalb Deutschlands, verstehen könnte, so bricht „Ritt zum Ox-Bow“ auf jeden Fall einige Genre-Regeln. Es gibt keinen Helden, sondern nur Männer, die mehr oder weniger aufgehetzt sind und mehr oder weniger versagen. Fonda, der eigentlich die Heldenrolle hat, klärt weder den Fall auf, noch findet er zu einer klaren Haltung zu dem Lynchmord. Er will ihn zwar nicht, aber letztlich hält er sich lieber raus. Wellman zeigt keinen wild gewordenen Mob, wie das in ähnlichen Fällen meist gemacht wird. Viele in dem Suchtrupp werden individuell gezeichnet; man kann nachvollziehen, welche Haltung sie einnehmen. Das Ende des Films ist traurig, sinnlos – es ist sehr gewagt, das Publikum so zu entlassen. Und man kann verstehen, daß sich nicht allzu viele den Film ansehen wollten (das kam erst, als er zum Klassiker wurde). Wellman pfeift auf das Unterhaltungsbedüfnis der Kinozuschauer. Aber der Film ist so geradlinig und mit so markanten Charakteren inszeniert, daß man trotzdem gefesselt ist.

Nicht zu leugnen ist freilich, daß es sich um ein Lehrstück handelt, einen Film, der belehren will. Fraglich, ob er aus irgendjemandem einen besseren Menschen machen kann…

Noch eine Bemerkung zum Film: Als deutscher Verleih wird im Vorspann „neue filmform Heiner Braun“ angegeben. Das war eine 1957 gegründete Initiative, die unabhängige, künstlerische Filme fördern wollte. „Ritt zum Ox-Bow“, den Wellman damals nur mit Mühe bei Produzent Daryl F. Zanuck durchsetzen konnte, hatte also auch hier Schwierigkeiten, ins Kino zu kommen. Über die „neue filmform“ weiß ich sonst nichts, außer daß – laut wikipedia – aus ihr der 1962 in Oberhausen gegründete Neue Deutsche Film hervorging. Und noch eine Kleinigkeit: Angesagt wird „Ritt zum Ox-Bow“ in meiner Aufnahme von Petra Gerster.

Geändert von Peter L. Opmann (16.02.2024 um 06:17 Uhr)
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Alt 16.02.2024, 06:32   #1896  
Nante
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Wieder mal ein Western, den ich nicht kenne. Aber außer den J.Ford-Klassikern kenne ich von den alten sowieso kaum keinen.

Das Szenario erinnert irgendwie an den Einstieg zu "Hängt ihn höher", ein Viertel Jahrhundert später entstanden. - Mit einem Typ wie Clint Eastwood endet das ganze natürlich anders.

Jeder Idiot kann eine Krise meistern. Es ist der Alltag, der uns fertig macht.
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Alt 16.02.2024, 06:38   #1897  
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Der Film ist in ganzer Länge auf youtube zu sehen, allerdings nur in Originalfassung.

Als DVD scheint er rar zu sein. Bei manchen Händlern heißt es "nicht verfügbar".
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Alt 16.02.2024, 06:42   #1898  
Marvel Boy
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Ich fand den damals beeindruckend, beim ersten schauen im TV.

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Alt 16.02.2024, 06:50   #1899  
Nante
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Der Film ist in ganzer Länge auf youtube zu sehen, allerdings nur in Originalfassung.
...
Danke für die Info. Werde ich mir wegen Fonda wohl wirklich mal anschauen.

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Alt 16.02.2024, 07:42   #1900  
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Ist nur 75 Minuten lang. Wellmann überredete den Produzenten tatsächlich zu dem Projekt, aber er bekam nur ein kleines Budget. Manche sagen, "Ritt zum Ox-Bow" habe kleinere Mängel, etwa sichtbare Studiokulissen, mir ist da aber nichts Gravierendes aufgefallen.

Und noch ein kleiner Fund aus der englischen wikipedia: "Clint Eastwood has stated this is his favorite film."
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