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Alt 22.08.2017, 16:43   #126  
Servalan
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Standard Warum soll das Wissen in die Geschichte? (Teil 2)

Weil ich befürchte, daß ich einen längeren Anlauf benötige, werde ich mich in diesem Post auf ein eher abstraktes Konzept und einige persönliche Anmerkungen beschränken. Die harte Analyse mit den entsprechenden Zitaten folgt dann im nächsten Post. Damit sich niemand über Spoiler beschwert, wird der Fließtext weitgehend aus kryptischen Sätzen bestehen, während die Auflösung hinter den Spoilerkacheln liegt.

Eigentlich gehe ich Bestsellern aus dem Weg, weil ich mir gern mein eigenes Urteil bilden möchte. Zur Millenium-Trilogie bin ich deswegen über die Verfilmung gekommen. Damals habe ich mir regelmäßig den Kinotag gegönnt und bin fast blind an die Kasse gelatscht, weil ich auf dem laufenden bleiben wollte. Dort habe ich mir dann einen Film spontan ausgesucht.
Der zweite Teil der Millenium-Trilogie war für mich eine Verlegenheitslösung. Trotz des Erfolgs beim gewöhnlichen Publikums galt der Reißer aus Schweden eher als billige Popcorn-Unterhaltung. Ich bin also mit geringen Erwartungen hineingegangen, und als der Film anfing, war der Großteil der Sitzplätze leer geblieben.

Weil ich danach mehr wissen wollte, habe ich mir die Bücher besorgt und jedes binnen zweier Tage ausgelesen. Ich war erstaunt und verblüfft. Danach habe ich mich in die Trilogie hineingekniet, mir die schwedische Originalfassung und die englische Übersetzung besorgt - und irgendwann die beiden DVD-Boxen.
Was aus meiner Sicht für die Qualität der Bücher sprach, war die Hilflosigkeit sowohl der Fans als auch der Kritik. Die entschieden in der Regel nach ihrem Gefühl, konnten ihre Thesen aber nicht mit Zitaten belegen.

Mittlerweile kenne ich auch meine gefühlsmäßige Basis, die besondere Knöpfe bei mir getriggert hat. Im Babyalter hat jemand in meinem Hirn geschnippelt, was ich unbewußt irgendwo abgespeichert haben mußte.
Ihren ersten großen Auslandsurlaub wollten meine Eltern Mitte der 1970er Jahre in Nordschweden verbringen. Gepäck und Nahrungsmittel wurden in einem Anhänger verstaut und dann ging es los mit Tempo 80. Auf Seeland hatten wir das erste Mal übernachtet, dann ging es mit der Fähre nach Malmö. Mein Vater merkte gegen Mittag, daß er sich mit der Distanz völlig verschätzt hatte, und Schweden um einiges größer war, als er dachte. Bei je drei bis vier Tagen für Hin- und Rückfahrt wären bei 14 Tagen am Ziel gerade mal sechs bis acht Tage übrig geblieben.
Kurz bevor wir wendeten, hatten wir Kinder dringende Bedürfnisse. In unserer Not landeten wir auf einem komischen südschwedischen Bauernhof, dessen Besitzer uns fast mit der Flinte verscheucht hätte. Das Zalachenko-Anwesen weckte Erinnerungen an das verwilderte Gehöft.

Je länger ich mich mit der Millenium-Trilogie beschäftigt habe, umso besser paßten die einzelnen Teile des Werkes zueinander. Was auf der Oberfläche zunächst plakativ und überzogen schien, machte auf einer anderen Ebene Sinn. Oft wurde ihm vorgeworfen, er habe die Thriller wie seine journalistischen Texte für das Expo Magazin auf Papier gerotzt.
Nun ja, bei mir stehen The Expo Files im Regal, bei denen ich gespürt habe, daß das Beiträge fürs profane Tagesgeschäft waren. Es gibt etliche Wiederholungen und Längen, manches ist umständlich ausgedrückt, und in erster Linie geht es darum, richtig verstanden zu werden. Sprachästhetik hat da keinen Platz.
Die Trilogie wirkt auf mich fast schon overwritten. Und ich hätte schwören können, wenn es Stieg Larsson gelungen wäre, dieses Konzept zehn Bände lang durchzuhalten, dann hätte es auch die Literaturkritik gemerkt.
Die einzelnen Elemente und Ebenen fügen sich zu einer Einheit zusammen, die nur durch wiederholtes Überarbeiten und Redigieren zustandegekommen sein kann. Ich bin mir sicher, ohne Eva Gabrielsson und ihre Schwester Britta hätte er vieles übersehen.

Um noch mal Jeopardy-mäßig mit dem Zaunpfahl zu winken, flechte ich zwei Hinweise ein.
Als mich eine Freundin gefragt hat, warum ich Millenium überragend finde, habe ich ihr geantwortet wegen Lisbeth Salanders Rückkehr aus dem Grab im zweiten Teil. Zum Dank habe ich einen verständnislosen Blick geerntet.
Worauf ich hinaus will, darauf habe ich schon in meiner Rezension für textem, Der Name der Rosenmyrte (6. Oktober 2011) dezent hingewiesen.

Im Prinzip funktioniert das wie bei Edgar Allen Poes "Der entwendete Brief | The purloined letter": Wenn du etwas verbergen willst, dann reibe es den Leuten direkt unter die Nase.

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Alt 26.12.2017, 02:47   #127  
Servalan
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Standard Das Buch-Buch

Im Juni erschien in Österreich ein kleiner Sammelband über das Verlegen, der sich den neuesten Entwicklungen widmet:

Alexandra Rotter, Alexander Groh und Daniel Resch (Hrsg.): Das Buch-Buch: Über das Verlegen (Edition Grünanger 2017), 124 Seiten, 14,90 € Ladenpreis (in Österreich*)

Sprachdientsleister Alexander Groh leitete 2013-2014 den zwei Semester laufenden Lehrgang „Werkstätte Buchverlag“, aus dem sich diese Anthologie entwickelte. Teilweise vertreten die Autoren und Autorinnen der Beiträge widersprüchlihe Ansichten, zum Beispiel in Sachen Amazon.

Der Band gliedert sich in drei Teile:
1. Erfahrungen rund um das Verlagswesen
2. Verlage und neue Medien
3. AutorInnen und ihre Sicht auf Verlage

Am 30. Mai 2017 wurde der Band im Literaturmuseum Wien vorgestellt.
Aufzeichnung online bei Idealism Prevails (79 min).

Interview mit der Herausgeberin Alexandra Rotter und Elmar Weixlbaumer in der Reihe Kamingespräche (30. Juni 2017, 44 min) auf dem youtube-Kanal Idealism Prevails.

* Eigentlich sollten wir in der EU einen gemeinsamen Markt haben. Ich habe es jedoch erleben müssen, daß Buchhändler in Deutschland Bücher aus österreichischen Kleinverlagen teilweise mit einem ordentlichen Zollaufschlag belegen. Deswegen kann es außerhalb Österreichs teurer sein.

Geändert von Servalan (05.01.2018 um 18:59 Uhr)
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Alt 05.01.2018, 18:45   #128  
Hondo
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Hallo zusammen, na das ist ja hier eine interessante Unterhaltung über Bücher, Autoren, Veröffentlichungen, Lesungen, Bucherfolge (oder auch nicht) ...
Werde wohl noch etwas brauchen, um alles nachzulesen. Nachdem ich nach zwei Lesungen aus meinem eigenen Werk "Der schwarzen Wölfe Schrei" (ISBN: 9783739220871) und einer Pause von einem Jahr nun doch weiter dran bleiben möchte und weitere Lesungen anstrebe.
So mancher Hobbyautor scheint ja gerade dadurch zum großen Erfolg gekommen zu sein, dass er von Verlagen abgelehnt wurde, die sein (oder ihr) Werk so umfrisieren wollten, dass es fast nicht wiederzuerkennen war. Hmmm ...
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Alt 06.01.2018, 18:13   #129  
G.Nem.
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Der Anfang von deinem 'Der schwarzen Wölfe Schrei' liest sich wirklich
gut. Aber Pierre Brice und Lex Barker waren zwar befreundet, aber nicht
die engsten Freunde. Der engste Freund von Brice war ein anderer ...

Zitat:
Zitat von Spiegel-Online

SPIEGEL ONLINE: War Lex Barker wirklich einer Ihrer engsten Freunde?

Brice: Wir waren Freunde, aber keine Blutsbrüder.

SPIEGEL ONLINE: Wer unter Ihren Kollegen hatte für Sie das Zeug zum Blutsbruder?

Brice: Sie werden lachen. Mein Mörder!

SPIEGEL ONLINE: Ihr Mörder?

Brice: Ich meine meinen italienischen Kollegen Rik Battaglia, der mich
als Bandit Rollins im dritten Teil von "Winnetou" 1965 den Filmtod
sterben ließ. (...)
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Alt 08.01.2018, 12:28   #130  
Hondo
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Freut mich, dass dir der Anfang meines Buches gefällt. Du darfst es gerne zuende lesen. Du wirst es wahrlich nicht bereuen! Dass Barker trotz enger Freundschaft nicht der beste Freund von Pierre Brice war, weiß ich. Die besten Freunde, so hatte Brice unter anderem geäußert, hatte er beim Militär. Ich habe für mein Buch akribisch recherchiert, hatte mehrfach mit dem Freund und Berater von Brice, Thomas Claaßen, Kontakt und er hat meine Beiträge korrigiert.
Im Wesentlichen geht es auch um Freundschaft allgemein und viele die es bis jetzt gelesen haben, waren extrem dankbar für das Buch und hinterfragen die Freundschaften in ihrem eigenen Leben! Ich werde dieses Jahr mit Lesungen aus meinem Buch und dem Thema Freundschaft unterwegs sein!
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Alt 08.01.2018, 12:30   #131  
Hondo
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Gibt es von Dir eine Homepage? Du bist schon länger (und aktiver als ich?) als Zeichner und Autor unterwegs?
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Alt 08.01.2018, 14:10   #132  
G.Nem.
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Hab dir eine PN geschickt.
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Alt 26.10.2019, 17:28   #133  
Servalan
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Standard Warum soll das Wissen in die Geschichte? (Teil 3)

Nachdem ich das Publikum habe lange schmoren lassen, folgt hier meine Interpretation von Stieg Larssons Millenium-Trilogie. Die Lagercrantz-Fortsetzungen lasse ich mal außen vor. Bei Larsson entwickeln sich Figuren, allerdings ziemlich subtil, so daß diese ihr Verhalten ändern; bei den Fortsetzungen handelt es sich bloß um ein Fall für Lisbeth Salander, die Meisterdetektivin. So primitiv hätte Larsson seine Serie nie fortgesetzt.

Natürlich habe ich nicht die Wahrheit mit Löffeln gefressen, aber meine Erklärung läßt einige Vorgänge im anderen Licht erscheinen. Außerdem paßt sie in das Schema feministischer Verweise, die gut das Bild von Larsson erklären. Wir sollten nicht vergessen, daß der erste Band im schwedischen Original "Männer, die Frauen hassen" heißt. Larsson nutzt dazu Wissen, das übersehen wurde, weil es von den 1970er Jahren bis vor wenigen Jahrzehnten üblich war, Männer per se aus feministischen Debatten auszuschließen. Es gab feministische Buchhandlungen, die männlichen Lesern kategorisch den Zutritt verweigerten. Dadurch ist dieses Wissen heute obskur und verfemt. Vieles gerät durch diese Barriere in einen blinden Fleck, der bei den meisten Interpreten unbemerkt bleibt; denn diese Leute sind sich des blinden Flecks nicht bewußt und so bleibt vieles rätselhaft. Es geht mir um einen Begriff, der einiges erhellt und eine neue Perspektive zuläßt.

Die Schlüsselszene dafür ist Mikael Blomkvists Gespräch mit Holger Palmgren über Lisbeth Salanders Vater, den kriminellen Zalachenko (die gibt es im zweiten Band der Romane sowie in beiden Filmfassungen). Palmgren sagt, daß Lisbeth Salanders Mutter ihren Namen aus Liebe zu Zalachenko von Sjölander in Salander geändert hat. Blomkvist raunt dabei gedankenverloren "Sala, Zala ...". Diese jeweils zwei Silben klingen überflüssig und kryptisch, dabei haben sie eine tiefere Bedeutung. Daß Sala ein konkretes Wort ist, ein exakter Begriff, wissen nur die wenigsten.
Um niemanden zu verprellen, verschwindet mein Beitrag nun hinter Spoilerkacheln.




Geändert von Servalan (06.04.2023 um 18:05 Uhr)
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Alt 01.11.2019, 17:49   #134  
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Standard Warum soll das Wissen in die Geschichte? (Teil 4)

In der populären Kultur gibt es auffällige Ähnlichkeiten und Strukturen, die über einzelne Bücher, Autoren und Genres hinausreichen. Das sind keine sonderbaren Zufälle, sondern eher unbewußte Strömungen, in denen sich gemeinsame Ideen und Gedanken widerspiegeln. Vieles davon ergibt sich aus dem Zeitgeist und wächst organisch wie von selbst. Die einzelnen Autorinnen und Autoren brauchen sich dessen nicht bewußt zu sein; eher sind es Redakteure, Chefredakteure und Herausgeber von Reihen oder Serien, die übergeordnete Konzepte entwickeln und entscheiden, ob ein Manuskript im Verlagsprogramm erscheint oder abgelehnt wird, die dafür verantwortlich sind.

Mir geht es um die Gnostik in der populären Kultur, vor allem im Genre von Fantasy und Science Fiction sowie in den Comics, dort insbesondere im Superheldengenre. Gnostik ist eigentlich ein religionswissenschaftlicher Begriff, der eine bestimmte Art des Christentums meint. Darum geht es hier nicht.
Es geht mir um gnostische Ideen, die ähnlich wie Joseph Campbells Heldenreise, in mal kleineren, mal größeren Versatzstücken in erfolgreichen Büchern, Filmen und Serien auftauchen - der religiöse Weihrauch hat sich dabei verflüchtigt.

Bestimmte Elemente kommen dabei häufiger vor als andere, einige Elemente fallen komplett unter den Tisch; ich zeichne nur eine grobe Skizze mit den Kernelementen, die zum Verständnis notwendig sind.

Die gnostische Interpretation der Welt, geht von einer klaren Unterscheidung in gut und böse. Die materielle Welt ist böse, weil sie nicht vom ursprünglichen Gott geschaffen wurde, sondern von einer schadhaften Gottkopie, dem Demiurgen. Der ursprüngliche Gott hat sieben Kinder, Aeonen genannt, von denen der höchste der (männliche) Logos ist und die niedrigste die (weibliche) Sophia. Sophia wollte beweisen, daß sie so gut ist wie der ursprüngliche Gott und schuf dabei den Demiurgen, doch das ging schief. Nur das Wissen hilft in dieser korrupten Welt.
Jesus Christus ist in dieser Version nicht der einzige leibliche Sohn Gottes und letzte Instanz für alle Gläubigen, sondern bloß ein Beispiel für die Menschheit, die dadurch zu einem rettenden Weg inspiriert wird. Danach muß jeder sich wie im leuchtenden Vorbild und Beispiel selbst durch Wissen befreien.

In der populären Kultur sind das normale Menschen, die durch ein Ereignis zu Superhelden werden. Diese Superhelden haben etwas Göttliches an sich und in sich. Durch ihre Taten wird die Welt besser, weil die Bösewichte vernichtet oder besiegt werden. Diese Superhelden werden zu Vorbildern, zu Rollenmodellen, mit denen sich das Publikum identifizieren kann.

Es gibt allerdings auch Leute, die solche Ideen ablehnen: Leute, die antignostisch sind. Ein Teil von denen stammt aus christlich-religiösen Kreisen, Pfingstler, Adventisten und andere Bibelkundige, die in gnostischen Ideen etwas Böses sehen und Gnostik vehement ablehnen. In diesen Kreisen existiert eine Art Literatur, die wie ein Gegenmodell funktionieren soll. Diese Fiktionen gedeihen im Schatten des Mainstreams. Teilweise sehen sie in gnostischer Populärkultur ein Zeichen für eine Endzeit, für die Apokalypse.

Literaturtipp:
Bernd Gräfrath: Es fällt nicht leicht, ein Gott zu sein. Ethik für Weltenschöpfer von Leibniz bis Lem (Ethik im technischen Zeitalter, hrsg. von Vittorio Hösle, Beck'sche Reihe 1265), München: C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck) 1998

Geändert von Servalan (05.02.2020 um 20:08 Uhr)
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Alt 10.04.2022, 18:08   #135  
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Standard Erfolg ist nicht alles

Stefan Zweig war nach Thomas Mann der populärste deutschsprachige Schriftsteller seiner Zeit und wurde quer über den Globus gelesen. Nach dem sogenannten Anschluß wurde der erklärte Pazifist 1934 denunziert, woraufhin sein Haus durchsucht wurde. Zweig reiste mit dem Zug nach London und nahm die britische Staatsbürgerschaft an. Über New York, Argentinien und Paraguay gelangte er 1940 nach Brasilien, das von dem antisemitischen Diktator Getúlio Vargas regiert wurde. Weil Zweig ein lobendes Buch über Brasilien verfaßte, erhielt er ein Dauervisum.

Vor kurzem lief der biographische Spielfilm Vor der Morgenröte (Deutschland / Frankreich / Österreich 2016), Regie: Maria Schrader, im Fernsehen und war in der Mediathek abrufbar. Der österreichische Kabarettist, Regisseur und Schauspieler Josef Hader - er verkörperte den Simon Brenner in den Wolf-Haas-Verfilmungen von Wolfgang Murnberger - stellt Stefan Zweig im Exil sehr sachlich und zurückhaltend dar.
Wegen seines finanziellen Erfolges und seiner zahlreichen Kontakte zählte er einerseits zu den privilegierten Flüchtlingen. Andererseits wandten sich zahlreiche Bekannte in Not an ihn, darunter auch alte Rivalen. Um ihnen diese Hilfe zukommen zu lassen, mußte sich Zweig zu Gegenleistungen für seine Unterstützer verpflichten, meist waren das Lesungen, Vorträge oder Feste, auf denen mit seiner Anwesenheit gerechnet wurde. Der Film zeichnet diese Zerrissenheit im Exil in sechs Episoden zwischen 1936 und dem Doppelsebstmord des Ehepaars Zweig 1942 in vier Episoden sowie einem Prolog und einem Epilog nach.

Eine bittere Ironie der Geschichte ist, wie ich finde, die Tatsache, daß er heutzutage für sein letztes zu Lebzeiten erschienenes Werk berühmt ist: Aus Zweigs Sicht war die Schachnovelle zu lang für einen Zeitungsartikel und zu kurz für einen Roman, eine ungeliebte Veröffentlichung aus purer Not. Heute ist sie Schullektüre.

Geändert von Servalan (11.07.2022 um 16:41 Uhr)
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Alt 26.06.2022, 21:12   #136  
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2003 erschien von Meg Wolitzer ein Roman mit dem schlichten Titel The Wife; darin geht es um Joan Archer, die 1958 von ihrem Professor Joseph Castleman fasziniert ist und ihm ihren ersten Schreibversuch zeigt. Natürlich ist der junge Englischprofessor, der auch Kreatives Schreiben unterrichtet, nicht zufrieden zu stellen und schlägt weitere Überarbeitungen vor. Darüber hinaus unterbreitet er seiner Studentin das Angebot, sein Kind zu hüten. Joan verarbeitet ihr Erlebnis zu einer weiteren Kurzgeschichte. Joan und ihr Professor haben eine Affäre, die bekannt wird; Castleman wird deswegen entlassen.
Zwei Jahre später arbeitet Joan Archer als Verlagssekretärin und kann beobachten, wie die Männerrunde der Redakteure, Manuskripte von Frauen verächtlich aussortiert. Einen weiteren Dämpfer bekommt sie bei der Lesung einer ehemaligen Kommilitonin in der Universitätsbibliothek, die ihr zynisch klarmacht, daß Joans literarische Werke im Regal der weiblichen Alumnis landen werden, wo sie ungelesen Staub sammeln. Das könne Joan hören, wenn ein Buch zum ersten Mal geöffnet werde.
Joseph Castleman hat literarische Ambitionen und bittet Joan, sich "Die Walnuß" einmal anzusehen. Sie kritisiert offen die Schwächen seines Textes, was er als persönlichen Angriff auffaßt. Joan muß ihn erstmal besänftigen und versichert ihm, daß sie ihn schätzt. Dann bietet ihm an, sein Manuskript gründlich zu überarbeiten. Zu ihrer beiderseitigen Verwunderung nimmt ein Verlag das Manuskript an, und der Roman wird ein Bestseller.
1992 erhält der inzwischen wohlhabende Joseph Castleman einen Anruf aus Stockholm, er habe den Literaturnobelpreis gewonnen, weil er den Roman auf eine neue Stufe gehoben hat. Mittlerweile versucht sich auch David Castleman, der Sohn, literarisch und wünscht sich nichts sehnlicher, als die Anerkennung seines Talents durch seinen Vater.
Auf der Reise ins winterliche Stockholm hat die Familie einen Stalker, den Möchtegernbiographen Nathaniel Bone, der eine fixe Idee hat. Er kennt das Frühwerk sowohl von Joseph Castleman als auch von Joan Archer, deren literarische Qualitäten er schätzt. Bone ist davon überzeugt, daß Joan in Wahrheit die Ghostwriterin von Joseph Castleman ist, und will seine These am liebsten öffentlich machen. Joan, die zweite Frau des Nobelpreisträgers, ist jedoch kategorisch dagegen ...

2017 wurde der Roman von dem schwedischen Regisseur Björn Runge mit Glenn Close in der Hauptrolle verfilmt: Die Frau des Nobelpreisträgers heißt er auf deutsch.
Mir gefällt er, weil er keine einfachen Lösungen bietet. Der feministische Grundtenor bietet zwar eine Baseline, die Musik selbst wird jedoch von einem ruhigen Rhythmus und leisen Tönen bestimmt. Vor dem historischen Hintergrund hätte Joan Archer bestenfalls ein Werk veröffentlicht, dann wäre sie in Vergessenheit geraten; Joseph Castleman allein wäre ohne fremde Hilfe wohl jemand geblieben, der für die Schublade geschrieben hätte. Mit all dem Vorwissen ist der Nobelpreisträger "Joseph Castleman" ein Amalgam von Joan und Joseph, etwas Drittes, das über die beiden menschlichen Komponenten des Erfolges hinausreicht.
Auf der Ebene wird "Joseph Castleman" zu einer Marke, einem Logo, bei dem Joseph Castleman nur die öffentliche Fassade ist. Sein lüsternes Verhalten gegenüber jüngeren Frauen ist dabei weniger ein Makel, sondern erfüllt eher ein Klischee.
Der entscheidende Schritt liegt hier zwischen dem eigenen zwanghaften Schreiben, um ein elementares Bedürfnis auszudrücken, und dem Erscheinen des physischen Buches im Handel, auf dem Markt, wo es ein Publikum findet. Insofern bestimmt die Konferenz der Verlagsredakteure als Mise en abyme ständig das Geschehen: obwohl sie abwesend sind und unsichtbar bleiben, bestimmen letztendlich sie, was Literatur ist und was nicht.

Geändert von Servalan (31.05.2023 um 19:09 Uhr)
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Alt 08.07.2022, 18:31   #137  
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Standard Sprechen wir mal über Uwe Tellkamp

Wer mit seinen Mauskripten einen Hausverlag gefunden hat, dem wird trotzdem kein roter Teppich ausgerollt: Uwe Tellkamp zum Beispiel kann darüber ein Lied singen.
Seine Anfänge teilt er mit jedem gewöhnlichen Talentierten. Der Arztsohn und zeitweise Hilfspfleger auf einer Intensivstation veröffentlichte seinen ersten satirischen Text noch in der DDR, nämlich 1987 im Eulenspiegel. Fünf Jahre später trat er in Dresden das erste Mal als Schriftsteller auf. Sein erster Roman Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Café fiel 2000 beim Publikum durch.
In den Fokus der Öffentlichkeit geriet Tellkamp 2004 als er den Hauptpreis der Tage der deutschsprachigen Literatur im österreichischen Klagenfurt gewann, den mit 22.500 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis. Dort las er einen Auszug aus einem Roman, der im Herbst 2008 bei Suhrkamp unter dem Titel Der Turm erschien und in Niedersachsen umgehend Pflichtlektüre bei der Abiturprüfung in Deutsch wurde.
Der gefeierte Wenderoman entwickelte sich zu einem Bestseller, der in mindestens 15 Ländern übersetzt und für das Fernsehen zu einem Zweiteiler mit prominenter Besetzung verfilmt wurde. Weitere Buchpreise runden das Bild ab. Die erste Kröte, die Tellkamp schlucken mußte, ist der Umstand, daß der Verlag Faber & Faber 2009 sein Romandebüt gegen seinen Willen ein zweites Mal auflegt.

Von den Medien wird Tellkamp hofiert, weil er ein ostalgiefreies und dissidentes Image der "neuen Bundesländer" personifiziert, das dem Zeitgeist entspricht und vom Feuilleton abgefeiert wird. Das läuft gut, solange sein Verhalten und seine Äußerung als politischer Kommentar zum Zeitgeschehen den Erwartungen entspricht. 2018 setzt er sich dann bei einer öffentlichen Debatte mit seinen Äußerungen in die Nesseln und erntet heftigen Gegenwind. Sein Verlag Suhrkamp distanziert sich von ihm, setzt ihn jedoch nicht vor die Tür. Obwohl er die Nähe von Leuten sucht, über die der Stab gebrochen wurde und die seinem Ansehen schaden, folgte in diesem Frühjahr die Fortsetzung seines Erfolgsromans, Der Schlaf in den Uhren, wieder bei Suhrkamp.
In den letzten Jahren hat sich auf diese Weise ein Image gefestigt, das Tellkamp eher widerwillig als politisch unzuverlässiger und undankbarer Zeitgenosse verkörpert.
Dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen war die Person der Zeitgeschichte Uwe Tellkamp sogar einen abendfüllenden Dokumentarfilm wert, für den sich der Regisseur zwei Jahre Zeit nehmen durfte. Die 3sat-Doku Der Fall Tellkamp - Streit um die Meinungsfreiheit geht subtil vor, indem sie weitgehend auf eingesprochene Kommentare verzichtet und einen Autor zu zeichnen versucht, der sich politisch hoffnungslos verrannt hat. Vor der Kamera darf sich Tellkamp gern um Kopf und Kragen reden, denn weitgehend kommen seine Gegner zu Wort. Daß jemand Tellkamp verteidigt, geschieht selten, zum Beispiel wenn die Autorin und Journalistin Jana Hensel sachlich feststellt, vor 2015 haben gewisse Stoffe über die ehemalige DDR keine Nachfrage bei den Medien gefunden.

Nun ja, daß Tellkamp schreiben kann, gestehen ihm seine eingestandenen Feinde zu. Dabei fällt auch auf, wie diese Kritik an Tellkamp inszeniert wird. Beim letzten Literarischen Quartett im ZDF, der Neuauflage mit der Moderatorin Thea Dorn, wurde Der Schlaf in den Uhren nämlich von Dorn vorgestellt. Durch diese exponierte Weise, denn eine Moderation garantiert von vornherein eine neutrale Position, wurde klargestellt, daß es "nur" um literarische Kritik ging - und die Runde sich keineswegs als politisches Tribunal verstand, das über Tellkamp persönlich richtete.
Trotz allem Gegenwind steht Der Schlaf in den Uhren mittlerweile auf Platz 3 der Spiegel-Bestsellerliste, die eine immense Bedeutung für den Buchhandel hat und implizit bedeutet, daß Buchläden vor Ort den Titel wohl im Sortiment führen werden und er nicht umständlich bestellt werden muß. Laut Suhrkamp sind seit dem 16. Mai 50.000 Exemplare ausgeliefert worden. Die 3sat-Doku kam in den ersten fünf Tagen nach der linearen Ausstrahlung auf erstaunliche 38.000 Sichtungen.
Bei meinem Fazit fällt mir auf, wie häufig der grantelnde Tellkamp, der sich an den aktuellen Verhältnissen reibt und scheuert, quasi automatisch als Unsympath dargestellt werden sollte, was ich unfair finde. Ich kenne nur wenig hochwertige Literatur, die zu allem Ja und Amen sagt und geistlos applaudiert. Ich finde eher, daß er sich mit Nörglern und eigenwilligen Käuzen wie Thomas Bernhard oder Arno Schmidt in guter Gesellschaft befindet.
Wer seine eigene Weltsicht bestätigt wissen will, sollte woanders suchen. Und selbst für Leute, die Tellkamp politisch nahestehen, wird sein Buch ein harter Brocken sein, dessen Buchrücken im Regal ein Statement darstellt. Wie hoch der Anteil der Käufer ist, die ihren neuen Tellkamp von vorne bis zur letzten Zeile lesen, steht auf einem anderen Blatt.

Ich bin gespannt, wie es mit Uwe Tellkamp und seinem Werk weitergeht.

Geändert von Servalan (11.07.2022 um 00:39 Uhr)
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Alt 21.02.2023, 17:08   #138  
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Standard Niemand ist davor gefeit, von den Falschen rezensiert zu werden

Walter Moers' Figuren wie Käpt'n Blaubär und seine Geschichten aus Zamonien stehen kaum im Verdacht, rechts zu sein. Der anarchistische, respektlose Ton seiner Erählungen und Comics weist eher in die andere Richtung.

Und trotzdem schützt ihn nichts und niemand davor, von Personen rezensiert zu werden, die sich ziemlich weit rechts außen positioniert haben.
Götz Kubitschek mit seinem Verlag Antaios und seinem sogenannten "Institut für Staatspolitik" auf dem Rittergut Schnellroda in Sachsen-Anhalt hat zurecht einen schädigenden Ruf. Etwas anderes ist, wenn dort Leute auf Tagungen und Kongressen dort persönlich auftreten, Vorträge halten oder an Diskussionen teilnehmen, denn diese Organisationen werden vom Verfassungsschutz als Extremisten beobachtet.

Auf dem youtube-Kanal kanal schnellroda, der seit sieben Jahren besteht, gibt es ein Pendant zu Formaten wie Druckfrisch und Das Literarische Quartett: Unter dem Titel Vorlesen präsentierten die Buchhändlerin Ellen Kositza und Dr. Caroline Sommerfeld Lesetipps für ein konservatives und reaktionäres Publikum.
Dabei geht es nicht nur um die eigene Lektüre, sondern auch um Bücher für Kinder und Jugendliche aus oder in konservativen Familien. In diesem Rahmen empfahl Dr. Caroline Sommerfeld (vor drei Jahren) zum Vorlesen Die 13½ Leben des Käpt'n Blaubär von Walter Moers (3:12 min).

Niemand kann wissen, von wem das eigene Buch gelesen wird.
Dieses Risiko geht jeder ein, der sein Werk veröffentlicht ...
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Alt 13.04.2023, 15:47   #139  
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Standard Vom Schlüsselroman zum Dechiffrierkartell

Wer schreibt, muß sich mehreren Herausforderungen stellen.
Zum einen sollte der eigene Name im Gespräch bleiben, damit er gleich in den Köpfen ist, wenn ein neues Buch erscheint. In der Hinsicht ist es wichtig, daß das Werk beim ersten Lesen mehr bietet als nur eine Pointe am Schluß; gut, die schadet nicht, kann aber bestenfalls die Kirsche auf der Torte sein.
Anderswo habe ich ja schon Mythen erwähnt, und bei Klassikern hat das Publikum ebenfalls ein gewisses Grundwissen, selbst wenn die konkreten Werke gar nicht gelesen wurde. Das Wie ist dabei fast wichtiger das Was oder Wer; und besonders bei unzuverlässigen Erzählern läßt sich prüfen, wie die eigene Wahrnehmung auf eine falsche Spur gelockt wurde und welche Bluffs bei einem gewirkt haben.

Wenn ein Buch den Nerv der Zeit trifft, ist das ein Jackpot, fast ein garantierter Bestseller.
Neben einem Gespür für bestimmte Ereignisse und Zusammenhänge gehört eine gelungene Atmosphäre zu einem runden Werk. Bei einem Schlüsselroman sind diese Verschlüsselungen relativ eindeutig und bieten Eingeweihten ein amüsantes Kreuzworträtsel. Aber zu platt und zu präzise sollte die Verfremdung auch nicht sein, denn bestimmte historische Ereignisse mögen in der Gegenwart plakativ und allgemein bekannt wirken; doch spätestens in einigen Jahren kann sich niemand mehr an das konkrete Vorbild erinnern.
Uwe Tellkamp hat mich auf diesen Gedanken gebracht, denn Der Turm ist noch ein klassischer Schlüsselroman mit all seinen Vorzügen und Nachteilen; bei seinen neueren Lesungen und erst recht bei seinem Roman Der Schlaf in den Uhren geht er subtiler vor, was mich in den Ausschnitten der 3sat-Doku an Arno Schmidt erinnert hat. Im Rahmen seines Worldbuilding nutzt er ein größeres Konzept, das er sich wie eine Landkarte skizziert hat. Abgesehen davon, daß mich auch Tellkamps Motive und seine Wortwahl an Schmidt erinnert haben, weicht Tellkamp seine Verfremdungen auf und löst sie aus eindeutigen Zusammenhängen. Auf diese Weise gelingt es ihm im Einzellfall das Allgemeine zu sehen, das zutiefst Menschliche, das sich je nach Situation wandelt und doch etwas ewig Gleiches verkörpert.

Mit seinen Verschlüsselungen hat Arno Schmidt seinem Publikum Material geliefert, das immer wieder zum Neuentdecken einlud; jede weitere Lektüre konnte mit dem Vorwissen tiefere Einblicke gewähren. Bei Schmidt hat sich dieses Spiel zwischen dem Worldbuilding und dem Publikum verselbständigt, indem eine kleine Gemeinde seiner Jünger herausgemendelt hat, die als Kartell sein Werk dechiffrieren, um sich selbst und anderen einen Spaß zu bereiten.
Auch wenn Arno Schmidt einigen Kritikern als provinziell galt, seine Art der Verfremdung hat einen Maßstab gesetzt, weshalb er in diesem Sinne ein Vorbild für Autoren sein kann.
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Alt 18.04.2023, 16:34   #140  
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Standard Denis Scheck: Die zehn meistverkauften Bücher aller Zeiten

Seit 20 Jahren gibt es die Sendung Druckfrisch, und dieser Anlaß wird mit einem Best of der bisherigen Beiträge gefeiert. Zur Krönung des Ganzen gibt es einige extra produzierte Filmchen wie dieses hier. In seinen regulären Sendungen liefert Denis Scheck ja im Wechsel bissige Kurzkritiken zu den Top Ten des Sachbuchs und der Belletristik ab.

Zur Feier des Tages widmet er sich den All Time Bestsellern "seit Erfindung des Buchdrucks", und da finden sich unter den Top Ten natürlich bekannte Namen wie Paulo Coelho, Henry Rider Haggard, Agatha Christie, Dan Brown, J.D. Salinger, C.S. Lewis, Antoine de Saint-Exupéry, J.R.R. Tolkien (mit zwei Titeln) und Charles Dickens.
Interessant finde ich die Auswahl der Titel, weil ich persönlich bei den Klassikern und den Genregrößen andere Favoriten habe. Das beweist mir eher, daß der deutschsprachige Buchmarkt nicht repräsentativ für die gesamte Welt ist. Ein weiterer Spin dürfte durch den langen Zeitraum der Vergangenheit hinzukommen; andere Generationen hatten andere Vorlieben und Abneigungen.

Scheck liefert eine recht persönliche Sicht, mit der nicht jeder übereinstimmen muß. Die Geschmäcker sind verschieden; was Scheck verschmäht, kann anderen umso besser gefallen.

Geändert von Servalan (18.04.2023 um 16:42 Uhr)
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Alt 18.04.2023, 17:13   #141  
Peter L. Opmann
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Diese Liste der zehn meistverkauften Bücher aller Zeiten (es scheint sich doch ausschließlich um Belletristik zu handeln) finde ich zweifelhaft. Ich habe mal nach ähnlichen Listen gesucht, finde aber immer nur die Aussage, daß die Methoden, Bestsellerlisten zu erstellen, stets umstritten sind.

Komisch, daß mit Ausnahme von Agatha Christie keine Autorin dabei ist. Ich hätte da zum Beispiel noch Nora Roberts vermutet. Andererseits wundert mich, daß Rider Haggard mit "She" dabei ist. Hätte ich nicht sooo erfolgreich eingeschätzt.

Dabei ist mir klar, daß beliebte Bücher in anderen Ländern nicht dieselben sein müssen wie hierzulande. Bei Charles Dickens hätte ich auf "Oliver Twist" getippt. "A Tale of Two Cities" habe ich mir auch mal besorgt, aber nur als 70seitige Nacherzählung auf der Basis von 1400 "headwords", also zum Englischlernen. Ich hätte das für ein weniger bekanntes Werk gehalten.
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Alt 18.04.2023, 17:54   #142  
Servalan
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Ich finde es schwach, daß Scheck keinen Link geliefert hat, woher seine Liste stammt und wer die nach welchen Kriterien zusammengestellt hat. In der heutigen Zeit mit verdeckten Karten zu spielen, halte ich für mangelhafte Qualität.

Nicht nur die wenigen Frauen finde ich seltsam, auch daß außer dem Autoren von Der kleine Prinz keine frankophonen oder deutschsprachigen Autoren auftauchen, hat einen seltsamen Beigeschmack.
Denis Scheck ist sehr US-affin, um es mal schmeichelhaft auszudrücken, und deshalb verwundert mich die fast rein angelsächsische Zusammenstellung wenig. Ich nehme an, seine Quelle für seine Top Ten stammt eher aus den USA als aus dem alten Europa.

In der Hinsicht hat Scheck meine Erwartung an ihn erfüllt.
Er liefert damit meines Erachtens einen Ansporn, sich selbst auf die Suche nach weiteren, nach besseren und überzeugenderen Listen zu begeben.
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Alt 18.04.2023, 18:23   #143  
Servalan
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Denis Scheck scheint ein fauler Hund zu sein. Auf der Suche nach weiteren Listen bin ich auf eine von ihm gestoßen, die er 2013 (also vor zehn Jahren!) für den Deutschlandfunk zusammengestellt hat:

Die Top Ten der meistverkauften Bücher seit Erfindung des Buchdrucks

Die sieht nicht nur exakt so aus wie das, was er in seiner Jubiläumsausgabe abliefert, teilweise sind das dieselben Sätze. Ich bezweifle stark, daß in den letzten zehn Jahren keine Bücher verkauft worden sind.
Und in anderen Listen finden sich nicht-angelsächsische Titel, deren hohen Platz ich für überzeugend halte. In der Liste Weltbestseller: Die meistverkauften Bücher aller Zeiten taucht auf dem ersten Belletristik-Platz nämlich Miguel de Cervantes: Don Quijote (500 Mio.) auf, dann finden sich noch Joanne K. Rowling: Harry Potter und der Stein der Weisen (120 Mio.) und Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita (100 Mio.) - und alle vor Dan Brown: Sakrileg - Der Da Vinci Code (57 Mio.) auf Platz 15.
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Alt 18.04.2023, 18:25   #144  
Peter L. Opmann
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Die halbe Welt ist anglophon. Deshalb leuchtet mir schon ein, daß englischsprachige Autoren absolut dominieren.

Da man viele Buchmärkte zusammenzählen muß, läßt sich die Weltauflage von Büchern sicher nur schätzen.

Oh, jetzt war ich etwas zu spät dran. Also daß Scheck die Liste schon mal verwendet hat, macht sie für mich noch nicht unbedingt überzeugender.
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Alt 18.04.2023, 18:37   #145  
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Heute ist die halbe Welt anglophon, aber Französisch und Spanisch werden auch in weiten Teilen der Welt gesprochen. Bei Cervantes zählt wohl die Tatsache, daß der Roman über mehrere Jahrhunderte lieferbar war und sich unter den Bestsellern tummelte.
Mit Cao Xueqin: Der Traum der roten Kammer findet sich auch ein asiatischer Klassiker unter den Top Ten, denn Chinesisch wird von Milliarden gesprochen. Den gibt es in der Übersetzung meist nur drastisch gekürzt.
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Alt 18.04.2023, 18:50   #146  
Peter L. Opmann
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Da muß man viele Dinge in Rechnung stellen. Zum Beispiel auch, daß zu der Zeit, als noch Französisch oder Spanisch dominierten, Bücher generell selten Millionenauflagen hatten. Das kam sicher erst (so allmählich) zur Zeit des britschen Empires.

Wie der chinesische Buchmarkt aussieht, kann ich schwer beurteilen. Eventuell müßte da aber mehr als ein Alibi-Titel in den Top Ten sein.
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Alt 18.04.2023, 19:49   #147  
Servalan
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Na ja, bis zum Durchmarsch der 68er gab es ja auch einen literarischen Kanon, also Bücher, die jemand gelesen haben mußte. Und in der Zeit vor Wikipedia und Kindlers Literatur Lexikon oder den Literaturverfilmungen bedeutete das, jemand mußte sich tatsächlich an die Lektüre wagen, um Mitreden zu können.
In den bildungsbürgerlichen Haushalten bildete sich irgendwann die Privatbibliothek, in denen etliche der geforderten Titel von Generation zu Generation weitervererbt wurden.

Das hängt auch davon ab, welche Titel verpflichtende Schullektüre sind oder in anderen Prüfungen verbindlich abgefragt werden. Soweit ich weiß, trifft das auf Der Traum der roten Kammer zu, denn die Mandarine im alten China mußten sich ihren Rang durch gestaffelte Tests erwerben, und in denen war der Klassiker Pflicht.

Seitdem diese Verbindlichkeit so langsam flötengeht, verliert der Kanon an Bedeutung und die absolute Beliebtheit wird wichtiger. Weil es heute eine so große Bevölkerung gibt, schlägt der Erfolg bei aktuellen Werken stärker zu Buche. Es wird zwar allgemein weniger gelesen; falls ein Titel zum Bestseller wird, sind mittlerweile Millionenauflagen möglich, von denen frühere Generationen nur geträumt haben.
Deshalb hatte ich zumindest Harry Potter in den All Time Top Ten erwartet, aber Scheck hat nur eine olle Kamelle von 2013 online gestellt. Wie gesagt, der scheint das Arbeiten nicht erfunden zu haben.
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Alt 18.04.2023, 21:23   #148  
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Naja, immerhin hat er die Bücherkiste durch Jerusalem geschoben. Ist auch harte Arbeit.

Die Liste ohne Harry Potter und Don Quixote finde ich auch seltsam.
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Alt 04.05.2023, 13:07   #149  
Servalan
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Gerade habe ich mir die arte-Doku über Agatha Christie angeschaut. Die ist aus dem Jahr 2020 und dort wird kurz vor dem Abspann erwähnt, daß ihre Bücher insgesamt zwei Milliarden mal über den Ladentisch gewandert sind. Agatha Christie hat eine Menge Titel geschrieben, bei der knapp einstündigen Doku haben sie zehn Titel ausgewählt, die alle etwas Besonderes sind. Einer ihrer Titel hat es denn ja auch in die All Time Top Ten der Bellestristik geschafft - ich meine die von Dennis Scheck.
Deswegen nehme ich an, daß fast alle ihre Krimis Millionenauflagen haben.
Und durch Verfilmungen wie zuletzt durch Kenneth Branagh bleibt ihr Name im Gespräch, so daß nachwachsende Generationen sie in jungen Jahren für sich entdecken können. Irgendwas muß ja passieren, damit es nicht völlig still um einen wird und allmählich das Vergessen droht ...
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Alt 31.05.2023, 14:50   #150  
Servalan
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Zu den großen Werken, die über den Weg vom Schreiben zum Veröffentlichen erzählen, gehört sicher Jack Londons autobiographischer Roman Martin Eden (in Fortsetzungen im The Pacific Monthly 1908/1909, Erstausgabe bei Macmillan 1909).
Gelesen habe ich ihn zwar nicht, aber 1979 habe ich den Adventsvierteiler im ZDF gesehen, der mich schwer beeindruckt hat, vor allem der Selbstmord ist mir im Gedächtnis geblieben. Und jetzt gerade habe ich mir die italienische Verfilmung von 2019 angeschaut, der bei den Filmfestspielen in Venedig seine Weltpremiere hatte und zurecht ziemlich gute Kritiken bekommen hat; irgendwo ist er dann auch in Listen unter den besten 10 oder 20 besten Filmen des Jahres gelandet.

Der Künstlerroman beschreibt nicht nur, wie aus einem jungen, freundlichen Mann mit groben Lücken in der Allgemeinbildung ein erfolgreicher Schriftsteller wird, vielmehr legt er die damit verbundene Entwicklung der Persönlichkeit offen. Am Beginn ist Martin Eden ein einfacher Seemann, der gerade erst das Lesen für sich entdeckt hat.
Durch einen Kontakt mit der Oberschicht kommt er in eine für ihn neue Welt, in der Bücher geschätzt werden. Weil er dazugehören möchte, begeistert er sich fürs Lesen und hegt Ambitionen, Schriftsteller zu werden. Gegen die Widerstände in seinen persönlichen Umfeld besorgt er sich eine Schreibmaschine und schreibt die ersten Manuskripte, die er an Verlage schickt. Doch lange Zeit kommen die eingesandten Stücke umgehend zurück zum Absender, und wenn er keine wohlmeinenden Förderer hätte, müßte er zum Geldverdienen arbeiten.
Nach einer langen Strecke wird endlich sein erstes Manuskript bei einer Zeitschrift angenommen, für das er eine stattliche Summe bekommt. Sein erster Erfolg motiviert ihn, weiter durchzuhalten, und eine geraume Weile später fragt tätsächlich bei ihn nach Manuskripten an. Obwohl er jetzt endlich sein ersehntes Ziel erreicht, stößt ihm die Heuchelei der Oberschicht auf, die ihn so lange zurückgewiesen hat. Er wird zynisch und reagiert heftig, wenn er persönlich gekränkt wird. Seine Bücher werden veröffentlicht, er tritt bei Lesungen vor sein Publikum und doch verspürt er einen Ekel, der ihm seinen Erfolg so sehr verleidet, daß er sein Leben unerträglich findet.

Literatur im allgemeinen und Belletristik im Besonderen ist hier ein Vergnügen der oberen Schichten, ein formidabler Luxus, den sich jemand leisten können muß, und da gehört der Mann von der Straße eben nicht dazu. Häufig ist die Literatur für das Publikum nur ein leichter Zeitvertreib, mit der es unterhalten werden will, also sollte sie leicht genießbar sein.
(Ver-)störende Elemente und traurige Atmosphären sind in der Hinsicht zunächst ein Hindernis; nachdem sich Martin Eden als Schriftsteller etabliert hat, sind jedoch auch diese Manuskripte plötzlich gefragt.
Ob ein Mauskript angenommen oder zurückgesandt wird, erscheint als Glücksspiel, weil es keine formellen Kritieren für eine gelungene Geschichte gibt. Vielmehr muß Martin Eden durch Versuch und Irrtum langwierig herausfinden, was auf positive Resonanz stößt und was nicht. Für jemanden aus der Unterschicht, aus breiten Masse der gewöhnlichen Bevölkerung, erscheint der Literaturbetrieb als Black Box. Wer hingegen in der Oberschicht aufwächst, lernt dort schon die informellen Maßstäbe, nach denen Literatur beurteilt wird. Die italienische Verfilmung mit ihrem postmodern-zeitlosen Ambiente vermittelt den Eindruck, daß sich an diesen Rahmenbedingungen in all den vergangenen Jahrzehnten wenig bis gar nichts geändert hat.

Geändert von Servalan (31.05.2023 um 15:13 Uhr)
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