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Alt 04.02.2007, 16:29   #1  
nc-schmitt
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gold01 Sammlererlebnis: Blüten einer Freundschaft

Blüten einer Freundschaft (Erstabdruck in TREFFER Nr. 1/1998)

von Alfred Mühlenbach

Mein Vater war Schleusenwärter in Frankfurt. Und daher wohnten wir in unmittelbarer Nähe am Ufer des Mains. Ich wurde 1947 geboren und erlebte meine Kindheit in einer recht abenteuerlichen Umgebung. Die Spuren des letzten Krieges waren überall noch sichtbar in Form von weitläufigen Geländen mit Mauerresten, die gerade mal ein bis zwei Meter hoch waren. Diese Trümmer waren überwuchert mit Sträuchern und Gräsern, die der kindlichen Fantasie mehr zeigten, als sie verdecken konnten. Mit Ralf, meinem besten Freund, unternahm ich ausgedehnte Streifzüge, die meist bis zum späten Abend dauerten. Dann kam eine erschreckende Flut von braunen Nacktschnecken hervor, sodaß man aufpassen mußte, wohin man trat.

Mitte der 50er Jahre lernten wir uns in der Schule kennen und begründeten eine tiefe Freundschaft, nicht zuletzt durch unser gemeinsames Interesse an den kleinen Streifenheftchen. Wir waren große Fans von Sigurd. Und Ralf, der immer etwas mehr Geld zur Verfügung hatte, kaufte sie, sobald sie neu erschienen, bei einem alten, einbeinigen Mann, der in einem Wohnhaus mit renovierungsbedürftiger Fassade, in der Kellerzufahrt sein Lädchen hatte. Die zwei Flügeltüren an dem großen Einfahrtstor waren von früh Morgens bis spät Abends geöffnet. Und das sieben Tage die Woche. Dort gab es neben den Tageszeitungen und vielen großformatigen Wochenmagazinen auch die von uns bevorzugten Süßigkeiten in riesigen Gläsern mit schweren Deckeln, ab einem halben Pfennig pro Stück. Ich mochte die Muscheln, die mit einem süßen, honigähnlichen Inhalt gefüllt waren am liebsten. Und immer wenn Ralf und ich von der Schule kamen, holte er sich Dienstags und Freitags das neueste Sigurd Piccolo, welches wir dann sofort neugierig lasen. Wenn wir dann unsere Schul- und Hausarbeiten erledigt hatten, trafen wir uns -egal welches Wetter herrschte- an dem Walnußbaum, der in unserem Vorgarten stand. Von diesen Früchten hatten wir, nachdem sie kleingemahlen waren und unter reichlich Zugabe von Zucker und Butter, so manchen Brotaufstrich genossen. Und wir nahmen immer etwas zu Essen mit, wenn wir stundenlang in dem unübersichtlichen Gelände die Abenteuer von Sigurd und Bodo nachspielten. Dabei wurden wir nie Müde unseren Schatz zu verteidigen, den wir dann anschließend aufaßen.

Natürlich hatten wir noch einige Freunde mehr, aber die konnten der Philosophie der Sigurd-Abenteuer nicht so recht folgen. Ralf und ich funkten geistig auf der gleichen Wellenlänge. Da wir erst mit der Nummer 70 dieser Ritterserie eingestiegen waren, versuchten wir die ersten 69 Nummern auch zu bekommen. Niemand von uns beiden kam auf die Idee, diese Hefte beim Verlag nachzubestellen. Wer sollte das auch bezahlen?! Also suchten wir Gleichgesinnte oder ältere Jungs, die noch Sigurd Piccolos haben konnten. Auch besuchten wir einen An- und Verkaufladen, der einen zweifelhaften Ruf hatte. Denn mit dem Besitzer des Ladens war nicht gut Kirschenessen. Für den war jeder halbwüchsige ein potentieller Dieb, der dann auch vorsorglich so behandelt wurde. Man hörte dann auch öfters mal solche abfälligen Sprüche wie "Die Jugend von heute taugt auch nichts mehr!", wenn er sich mal mit anderen Erwachsenen unterhielt. Oder, wenn er mal einen besonders schlechten Tag hatte, beschimpfte er jeden, der sein Geschäft betrat. Eines Tages, als ihm mal irgendjemand in der Nacht zuvor die Schaufensterscheibe eingeworfen hatte, hätte er mich beinahe geohrfeigt, nur weil mir bei meiner Suche in den Heftstapeln, einige auf den Boden fielen. Nichts desto trotz wurden wir gerade bei diesem Ekel besonders fündig. Und nach monatelanger Suche fehlte uns dann nur noch ein einziges Heft. Die Nummer 7! Sie war nirgends aufzutreiben. Es war zum Verzweifeln.

An einem Sonntag fand dann in der Innenstadt ein Trödelmarkt statt. Und während Ralf mit seinen Eltern in die Kirche mußte und natürlich auch den Rest des Tages mit seinen Eltern verbringen sollte, sprang ich auf mein Fahrrad und besuchte diesen Markt. Es wurde soviel Zeug angeboten, mit dem ich nichts anfangen konnte. Von Comics war eigentlich überhaupt nichts zu sehen. Da traf ich auf zwei Jungs, die auf einem mit Wulsten verschnörkelten Zaun aus Gußrohren saßen und Sigurd Piccolos lasen. Ich begann zaghaft ein Gespräch. Wie sie Sigurd fanden. Wie ihnen das ein oder andere Abenteuer gefiel. (Ich kannte damals alle Geschichten inklusive der jeweiligen Gegenspieler auswendig) Ob sie noch mehr Hefte hätten. Ob sie die Nummer 7 hätten. Nach anfänglichen Mißtrauen blühten die beiden förmlich auf und zu guter letzt bekam ich dann, nachdem ich mir fast den Mund fusselig geschwafelt hatte und einem weinerlichen bitten, das Piccolo Heft Nummer 7 sogar geschenkt. Ich wollte es Ralf zum Geburtstag schenken. Bis dahin waren noch zwei Wochen hin.

Dann, in diesem Jahr 1958, passierte ein tragisches Unglück in folge dessen ich zur Vollwaise wurde. Da sich meine ältere Schwester, die schon auf die 30 zuging, in Amerika befand, sollte ich auch zum neuen Kontinent folgen, zumindest bis ich 21 war.

So fiel in meine Zeit der Trauer und des Abschieds Ralfs Geburtstag, den ich nicht besuchte. Dann, am Vorabend meines Abfluges trafen wir uns wieder unter dem Walnußbaum und ich zeigte ihm das Heft. Wir packten es dick in Zeitungspapier, dann in Ölpapier und legten es in eine verbeulte Metallkiste. Diese vergruben wir dann feierlich auf unserem Abenteuerspielplatz. Es sollte als Treuepfand unsere Freundschaft besiegeln. Wenn ich wiederkäme würden wir es ausgraben.

Ich blieb in Amerika bis 1988. Die Firma, für die ich tätig war, suchte einen Supersurvisor im Außendienst in "good old Germany". Obwohl der Sitz des Autoteilezulieferers in Stuttgart war, fuhr ich bei der nächsten Gelegenheit nach Frankfurt. Die Enttäuschung war groß. Dort war nichts mehr, wie es mal war. Die ganze Stadt hatte ihr Gesicht verändert. Hier war ich wohl noch nie gewesen. Nach einigem Suchen fand ich das Haus meiner Kindheit wieder, erkannte es aber nur an dem Walnußbaum im Garten. Auf dem altbekannten Gelände war nun eine Reihenhaussiedlung. In 41 Jahren hatte sich auch hier die Welt weitergedreht. Was hatte ich denn erwartet?? Nur der Blick in ein Telefonbuch half mir meinen damals besten Freund ausfindig zu machen. Auch er war umgezogen. Da wo er früher gewohnt hatte war nun eine Autobahntrasse. Als wir uns an diesem Nachmittag dann trafen hatten wir beide die Tränen der Rührung in den Augen. Zwei alte Säcke, die Rotz und Wasser heulten. Dann lachten wir schon wieder über den gemeinsamen Verlust der Haarpracht. Zuerst erzählten wir von unseren Jobs und unseren Familien. Dann kamen wir unweigerlich auf die gemeinsamen jugendlichen Jahre und das Piccolo Nummer 7 zu sprechen.

Ralf erzählte mir, daß er schon in der folgenden Nacht die Nummer 7 wieder ausgegraben hatte. Beim Umziehen, Jahre später, waren plötzlich alle Piccolos irgendwie verschwunden. Bis auf die Nummer 7. Dann bat er mich, ihm in das Schlafzimmer zu folgen. Mit einem beinahe schelmischen Grinsen öffnete er die Schublade seines Nachttischchens und holte das Sigurd Heft Nummer 7 heraus. "Das ist alles, was noch übrig ist" sagte er fast entschuldigend. "Und das reicht vollkommen" erwiderte ich stolz. Dann zeigte er mir einen Regalschrank, in dem sich nicht nur die Nachdrucke der Sigurd Piccolos befanden, sondern die Nachdrucke aller LEHNING Hefte. Schließlich outete er sich als Sammler und steckte mich gleichzeitig mit an. Und immer, wenn irgendwo in unserer gemeinsamen Nähe eine Comicbörse stattfindet, dann treffen wir uns wieder. Nicht nur Ralf und ich, sondern Ralf, Sigurd, Bodo, Cassim und ICH!

E N D E
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Alt 04.02.2007, 17:38   #2  
Pilgrim
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Eine ergreifende Geschichte! Schön, dass du sie nochmal ausgegraben hast.
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Alt 04.02.2007, 21:06   #3  
user01
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Die gute Mutter Kempowski würde jetzt sagen: "Ach Kinder, wie is es nu bloß möchlich!"
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Alt 05.02.2007, 15:54   #4  
Pilgrim
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Zitat:
Zitat von Raro
Die gute Mutter Kempowski würde jetzt sagen: "Ach Kinder, wie is es nu bloß möchlich!"
Tadellöser!!!!
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Alt 05.02.2007, 17:36   #5  
user01
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Beiträge: 2.990
Gutmannsdörfer !
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