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Alt 05.10.2014, 15:22   #1  
Servalan
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Standard Visual Novels / Serien

In den vergangenen Jahren habe ich eine Reihe von Texten veröffentlicht, wobei das Spektrum von meinem Schwerpunkt Comics über Film und Literatur bis hin gesellschaftspolitischen Themen reicht. Darunter befand sich auch das von Marcus Czerwionka und Heiko Langhans herausgegebene Lexikon der Comics (Corian Verlag, Meitingen), das ich schmerzlich vermisse.
Was ich vorhabe, ist keine Fortsetzung im engeren Sinne; wie ich die geplanten Themen angehe, orientiert sich jedoch an meinen Erfahrungen mit der Loseblattsammlung. Warum ich über ein bestimmtes Werk berichte, sollte aus meinem Kommentar hervorgehen. Fremdworte und hinderliche Termini werde ich möglichst meiden, damit auch Interessierte meinen Text lesen können, die keinen akademischen Abschluß haben (den habe ich übrigens auch nicht). Wo sich bestimmte Theorien nicht vermeiden lassen, werde ich sie nach Möglichkeit allgemein verständlich übersetzen. Ich möchte jedoch keine Einführungskurse in theoretische Seminare geben, deshalb werde ich dort, wo ich es für angebracht, notwendig und unvermeidlich halte, die entsprechenden Termini nutzen und gegebenenfalls beim ersten Mal kurz erläutern.

Mein Ziel läßt sich wie folgt verkürzen:
(1) Ich möchte Interessierten einen lesbaren Zugang ermöglichen.
(2) Wer die Werke schon kennt, könnte möglicherweise Dinge entdecken, die ihm oder ihr entgangen sind.
(3) Ich gehe von dem jeweiligen Werk aus, nicht von irgendeiner vorgefertigten Meinung. Für Korrekturen bin ich dankbar.
(4) Ich verstehe meine Kommentar als subjektiv. Es wird immer Leute geben, die anderer Meinung sind als ich; und eine letzte Wahrheit gibt es meiner Erfahrung nach nicht. Ich respektiere andere Meinungen, deshalb erwarte ich, daß meine Sicht der Dinge geachtet wird.
(5) Natürlich werden Comics eine wichtige Rolle spielen. Der Thread wird jedoch zahlreiche andere Medien miteinbeziehen: Film, Fernsehserien, Literatur, Theater usw. usf.
(6) Wann ich mich welchem Aspekt widme, wird auch davon bestimmt, wozu ich Zugang habe. Dezidiert äußere ich nur zu Werken, die ich greifbar habe.

Geändert von Servalan (01.04.2015 um 12:44 Uhr)
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Alt 05.10.2014, 16:39   #2  
Servalan
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Standard Allgemeines zum Thema

Läßt sich Qualität von künstlerischen Werken erkennen? Meiner Meinung nach: Ja.

Ich möchte niemanden durch Spoiler vergrätzen oder von der Lektüre abhalten, weil das Kennenlernen eines Werkes ein sinnliches Vergnügen ist. Pointen sind zwar schön und gut, wenn sich damit das Handwerk des Autoren erschöpft hat, ist das Werk meist ebenso rasch vergessen, wie es genossen wurde.

Eltern können vermutlich ein Klagelied von Kindern singen, die immer wieder dieselbe Geschichte vorgelesen bekommen wollen. Später hat der Nachwuchs dann meist Phasen, in denen er sich in bestimmten Werken verliert - quasi die Initiation zum Fan. Daran finde ich nichts Schädliches, solange der Prozeß irgendwann abgeschlossen wird.
Es ist nämlich etwas anderes, eine Geschichte nur zu kennen, oder sich in- und auswendig in ihr bewegen zu können. Dann lassen sich nämlich Dinge entdecken, die zuerst übersehen worden sind.
Am besten läßt sich das, glaube ich, mit dem vergleichen, was Kinder in der Grundschule erleben. Schreiben lernen, das Kleine und das Große Einmaleins zu büffeln, ist wirklich schwierig und kein Zuckerschlecken. Aber wer das geschafft und diese Grundkenntnisse verinnerlicht hat, dem gehen sie dann locker von der Hand. Die ersten Lektionen von Fremdsprachen haben dieselben Tücken.
Aber hier geht es nur um Unterhaltung, oder ...?

Auf künstlerische Werke trifft das in ähnlicher Weise zu. Werke müssen erschlossen werden, was manchmal ziemlich überwältigend sein kann. Ein gutes Werk sollte sich weder anbiedern, noch sollte es so kryptisch sein, daß es das Publikum verschreckt. Wer bei der ersten Lektüre nicht alles auf Anhieb versteht, ist noch längst kein Dummkopf.
Wer ein Werk verstehen will, muß zunächst einmal herausfinden, welche Maßstäbe das Werk sich selbst setzt. Solch eine Unbefangenheit findet sich aber selten, häufig werden Werke in Rezension für etwas abgekanzelt, das sie gar nicht vermitteln wollten. Zahlreiche klassische Werke wurden zunächst pauschal verrissen, bevor die Qualitäten im nachhinein erkannt wurden.
Dabei sollten Werke alle Möglichkeiten nutzen, die ihnen zur Verfügung stehen, wenn sie geschaffen werden. Falls ein Werk zunächst verstörend wirkt oder das Publikum überfordert, halte ich das keineswegs für einen Fehler. Ein Werk kann auch eine Herausforderung sein, an der das Publikum wächst.

Bevor ich mich in theoretischen Überlegungen verliere, verweise ich lieber auf Zitate aus drei Fernsehserien. Manchmal versteckt sich in kleinen Szenen so etwas wie eine Gebrauchsanweisung für das Publikum (und eine Kritik der Autoren respektive Showrunner an den Verantwortlichen in den Medien).

Dennis Potter: The Singing Detective (damit meine ich die britische Serie der BBC 1986, nicht das unselige Remake von Mel Gibson).
Der Pulp-Krimi-Autor P.E. Marlow liegt mit einer Nervenerkrankung auf der Männerstation eines englischen Krankenhauses. Sein Arzt geht davon aus, daß Marlows entstellter Körper, der manchmal ins Delirium gerät, nur das Symptom einer psychischen Ursache ist. Marlow ist von seiner gesamten Umgebung genervt und lenkt sich ab, indem er sich vorstellt, wie er seine U-Literatur in hochwertige Belletristik verwandelt.
Die Serie wurde sogar in den USA ein Erfolg, was sich niemand erklären könnte, weil da bloß ein Stinkstiefel wirres Zeug von sich gab. Mich verwundert der Erfolg nicht. Seit einigen Jahren dampfplaudern Leute aus dem Feuilleton über das neue Niveau von Fernsehserien, die vormals als Schmutz und Schund abgetan wurden, als billige Unterhaltung für die Massen. Kurz, da werden Vorurteile abgesondert, die nicht nur mir bekannt vorkommen dürften.
Potter hat sich schon vor fast dreißig Jahren über diese Gatekeeper des guten Geschmacks lustig gemacht.
Denn wie ich The Singing Detective verstehe, macht Potter dasselbe wie sein Alter Ego/Stand-in Marlow: Er veredelt das verachtete Genre der Fernsehserie durch subtile Nuancen, und in seinen ironischen Volten macht er seine Kritiker damit lächerlich. Marlows Pulp-Krimi entspricht dann dem, was sich die Kritik von einer handelsüblichen, leicht verdaulichen Serie versprochen haben.

Twin Peaks variiert dieses Motiv in Dick Tremaynes Weinprobe in Staffel 2.2. Der geckenhafte Herrenausstatter ist ironischerweise eine lächerliche Figur, damit das Gemeinte nicht zu offensichtlich wird. Es beginnt schon damit, daß der verkostete Rotwein zuerst nur geschwenkt und gerochen werden soll, nicht getrunken. Tremayne ermahnt Deputy Andy Brennan scharf. Danach soll ein Schluck gegurgelt und dann ausgespuckt werden, und schulmeisternd fragt Tremayne die Anwesenden, was sie geschmeckt haben. Femme Fatale Lana Budding Milford sagt dann: "Schokolade", und Andy ergänzt: "Banane." (Möglicherweise umgekehrt) Ziemlich enttäuscht, schlägt Lucy Moran vor, dann könne man doch gleich einen Banana Split trinken.
Zielgruppen-Serien entsprechen danach einem Banana Split, gute Serien einem gehaltvollen Rotwein.

Letztes Beispiel: The Wire: D'Angelo Barksdale kommt in die Pit und sieht, wie Bodie und Poot dort scheinbar Schach spielen. Erst als Poot mit seiner Figur einen scheinbar falschen Zug macht, wird er aufgeklärt, daß die beiden Dame spielen. D'Angelo kringelt sich schlapp. Die beiden Spieler nutzen seiner Meinung nach, die Möglichkeiten des Spielbretts nicht aus und begnügen sich mit einer minderwertigen Variante. Weil Poot mehr wissen will, erklärt er ihnen Schach.
Gewöhnliche Serien entsprechen einem Dame-Spiel auf einem Schachbrett, Serien wie The Wire einem Schachspiel. Einerseits wird dort mitdenken eingefordert, andererseits kann es anstrengend sein.

Genug für heute.

Geändert von Servalan (01.04.2015 um 12:51 Uhr)
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Alt 06.10.2014, 17:04   #3  
Servalan
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Standard Visual Novels

Nein, Visual Novels haben nichts mit den japanischen Light Novels zu tun.

Den Begriff habe ich zuerst aus dem Munde von David Simon gehört, auf dem Bonusmaterial zur dritten The Wire-Staffel. Der ehemalige Journalist der Baltimore Sun und Showrunner vergleicht seine Serie dort mit Melvilles Moby-Dick, was auf den ersten Blick ziemlich weit hergeholt scheint. Wer sich näher mit den beiden Werken beschäftigt, daß es da ziemlich viele Parallelen gibt:
(1) Zumindest anfangs spielen sie in benachbarten Gegenden (besonders deutlich in The Wire Staffel 2, die am Hafen spielt).
(2) Beide kreisen um Leute, die sich an unteren Rand der Gesellschaft befinden. Sowohl die allmählich verfallenden Viertel von Baltimore als auch die angeheuerte Mannschaft der Walfänger besteht aus Leuten, die buchstäblich den letzten Strohhalm ergriffen haben. Sie leben von der Hand in Mund, immer am Rande der Legalität, worauf auch die Namen deuten. Melville berühmter Einleitungssatz "Call me Ishmael." ("Nenn mich Ishmael.") weist drastisch darauf hin, daß das nicht der Taufname seiner Hauptfigur ist. Das ist ein Streetname wie Bodie, Poot oder Peanut in The Wire.

Trotzdem sollte das Publikum auf der Hut bleiben. Ein Audiokommentar ist schließlich keine eidesstattliche Aussage vor Gericht, bei der ein Meineid juristische Konsequenzen hat, und in der fünften Staffel stellt Simon ja plakativ das Thema Lüge in den Vordergrund. Ein Audiokommentar stellt bloß eine weitere Schicht der Geschichte dar und regt im besten Fall zum Nachdenken an.
Das funktioniert allerdings nur, wenn das künstlerische Werk nicht verstümmelt und entstellt wurde - und die ersten beiden Staffeln von The Wire bilden in dieser Hinsicht keine Ausnahme.
Wie ab der dritten Staffel mit dem ambitionierten Politiker Thomas Carcetti deutlich wird, verabscheut Simon Deus-ex-Machina-Auftritte von Figuren. Wer Figuren einer Geschichte erst dann aus dem Hut zaubert (nichts anderes bedeutet der Fachbegriff), wenn sie eine Lösung liefern, erzählt Simons (und meiner) Meinung nach schlecht. - Der Autor unterfordert das Publikum und geht möglichen Schwierigkeiten in seiner fiktiven Welt aus dem Weg. In der Rolle von Brianna Barksdale wird das deutlich, die zunächst nur einfach da ist, als Figur im Hintergrund; beispielsweise bei dem Barbecue, bei dem Avon D'Angelo beiseite nimmt und ihm oben auf der Treppe zu verstehen gibt, was er wissen muß und was nicht, und wann er gefälligst zu schweigen hat. Bis sie schließlich das erste Mal etwas spricht, erscheint der Name der Schauspielerin Michael Hyatt des öfteren im Nachspann. Deshalb gehe ich davon aus, in den gekürzten Szenen Auftritte von ihr enthalten sind, in denen sie allmählich in den Vordergrund tritt.
Falls das ein Verleih als Wink mit dem Zaunpfahl betrachtet, endlich eine Uncut-Version (wie Life on Mars beispielsweise) auf den Markt zu bringen, dann bin ich richtig verstanden worden.

Was meine ich nun damit?

Showrunner Simon und sein Komplize Ed Burns sind aus dem Alter raus, in dem sie sich selbst und anderen beweisen müssen, was sie auf dem Kasten haben. Außerdem berauschen sie sich nicht an ihren künstlerischen Freiheiten, sondern bleiben lässig auf dem Teppich und gehen subtil zur Sache. Sie erheben sich nicht über ihre Figuren oder verraten sie zynisch, um sie fotogen auflaufen zu lassen.
Bestimmte Sachverhalte erschließen sich in The Wire nämlich erst, wenn das Publikum die gesamte Geschichte kennt, also frühestens beim zweiten Sehen. Simon und Ex-Cop Burns wissen, wovon sie sprechen, aber die Zusammenhänge werden niemandem aufgedrängt.
Ein gutes Beispiel ist Omar Littles Pfeifen, wenn er durch Baltimore streift und einem Dealer seine Knarre unter die Nase hält. Selbst Leute, die sich nur ein rudimentäres Wissen über Filmgeschichte haben, dürften bei diesem Trademark an Fritz Langs M - Eine Stadt sucht einen Mörder denken. Dort weist sich der gesuchte Kinderschänder, gespielt von Peter Lorre, durch die Melodie In der Höhle des Bergkönigs aus Edvard Griegs Peer Gynt Suite aus. Nun ja, wer das erkannt hat, liegt richtig, aber Simon und Burns gehen subtiler vor, obwohl sie gerade deswegen mit dem Wort "subtil" ihre Späßchen treiben. ("There is a b in subtle?", fragt einer der Polizisten in der Kneipe, S05E01)
Wer die englischsprachigen Untertitel eingeschaltet hat, wird dort lesen können, daß sich bei dem Pfeifen um zwei Melodien handelt, die ihre spezifische Bedeutung haben und zugleich so ähnlich klingen, daß der Unterschied subtil bleibt: Nämlich zuerst The Farmer in the Dell und später The Grand Old Duke of York. Beides sind traditionelle Folksongs, Abzählreime und Kinderlieder.
In der englischen Originalfassung erleichtert dieses Wissen, vermeintlich lapidar gemeinte Sätze und Verhaltensweisen zu entschlüsseln, und dadurch erhalten sie einen lakonischen, staubtrockenen Witz (im Engl. wit).

Das Lied The Farmer in the Dell (siehe Wikipedia:The_Farmer_in_the_Dell) wird von Wiederholungen geprägt wie Ein Loch ist im Eimer, inhaltlich gleicht es eher einem Anti-Hans im Glück. Denn in jeder Strophe nimmt ein Stärkerer einem Schwächeren etwas ab oder macht ihn zu seinem Untergebenen, bis das System in der letzten Strophe kollabiert. Denn in der vorletzten Strophe "nimmt die Maus den Käse", aber "der Käse bleibt allein zurück". Wenn Kinder dieses Lied singen, umkreisen sie eine Person in ihrem Inneren, eben den Farmer.
Rhythmisiert wird das Lied unter anderem in der dritten Zeile jeder Strophe durch ein "Heigh-ho", und genau das nutzt Omar als Signal, als er sich einem Depot der Barksdale nähert. Und als er im Teaser (vor dem Vospann) einem korpulenten Straßendealer ausraubt, wobei der das $-Kettchen mit dem Lauf seiner Knarre anhebt, sagt er grinsend: "The cheese stands alone".
Dummerweise nennt sich nun Prop Joes Neffe Cheese, was ihm nicht gut bekommen wird. Im Finale S05E10, als er endlich glaubt, am Ziel seiner Träume zu sein, gerät er in die Mitte des Kreises, als er Anspruch auf die Krone des mächtigsten Kingpins erhebt und so Avon Barksdale, Prop Joe und Marlo Stanfield beerben will - aber er steht alleine da (wie im Song), und Slim Charles jagt ihm eine Kugel durch den Kopf.
Diese wiederholte Anspielung unterfüttert auch das (nicht nur) optische Motiv, bei der eine oder zwei Person im Zentrum eines Kreises stehen.

The Grand Old Duke of York (siehe Wikipedia: The Grand Old Duke of York) hingegen ist eher ein Pfeifen aus dem letzten Loch. Omar ist klug genug, um zu wissen, daß ihn irgendwann eine Kugel erwischen wird, wenn er sich nicht zur Ruhe setzt, irgendwo fern von Baltimore. Sein American Dream scheint sich zunächst erfüllt zu haben. Butchies grausame Hinrichtung durch Chris und Snoop lockt ihn allerdings hervor. Doch das erste Mal pfeift er die Melodie, als seinem Kollegen Brother Mouzone begegnet, der seine Konten in Baltimore ausgleichen will.
Dadurch werden seine Siege zu Pyrrhus-Siegen und Omar zu einem Toten auf Urlaub.

Simons Begriff Visual Novel klingt einer Graphic Novel verdammt ähnlich. Dahinter vermute ich eine klare Absicht, denn beide Medien bieten einem geschickten Autoren vergleichbare Möglichkeiten. Wer Simons Serie bloß für eine Modernisierung eines Dickens'schen Fortsetzungsromans hält, begreift eben nur die Hälfte (wenigstens nicht Alles). Wie im Comic bietet sich in einer Fernsehserie das Mittel eines Registerwechsels an - im vorigen Absatz habe ich einige Beispiele genannt.
Für das Medium Comic möchte ich auf die erste Seite aus Tim und Struppi: Kohle an Bord / MS Ramona funkt SOS (Tintin: Coke en stock) hinweisen. Die einzelnen Bildzeilen sind dort wie Liedzeilen angeordnet, und den Reim bildet Tims und Kapitän Haddocks alter Bekannter General Alcazar. Jeweils im letzten Panel der Reihe wird er erwähnt, bis er auf dem letzten Panel der Seite in Fleisch und Blut auf dem Bürgersteig steht, als hätte ihn das dauernde Reden magisch heraufbeschworen. (Es gibt einen Aufsatz von Benoît Peeters oder Thierry Groensteen, der das kleinteilig aufdröselt.)

Insofern lassen sich Comics auch als Schule des Sehens verstehen. Die (visuellen) Analphabeten sind dann ironischerweise solche Leute, die über Comics die Nase rümpfen und glauben, weil sie mit der Hochkultur vertraut sind, wären sie klüger als der Rest der sogenannten Massen.

Geändert von Servalan (15.06.2015 um 14:21 Uhr)
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Alt 07.10.2014, 17:44   #4  
Servalan
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Standard Warum ich britische Serien mag - oder: Nicht nur mein Säulenheiliger

Viele der Fernsehserien, die umjubelt werden, habe ich bisher nicht gesehen. Und bei den meisten aus God's Own Country frage ich mich, ob ich da so viel versäumt habe. Statt dessen ziehe ich britische Serien vor, wobei ich das nicht auf das Vereinigte Königreich im engsten Sinne begrenzen möchte.
Mir geht es dabei um eine britische Haltung, eine Mischung aus Understatement, Selbstironie, subtilen Humor (jenseits des Zynismus) und sparsam gesetzte Effekte. Meist stehen die Charaktere und deren Beziehungen untereinander im Vordergrund. Außerdem enthalten sich die Autoren in der Regel einer moralischen Wertung und begnügen sich damit, ein Dilemma aufzuzeigen, das jemanden rasch auf die Seite des Gesetzes abrutschen läßt.
Deshalb finde ich Jimmy McGovern sympathisch, den Autor von Cracker (Für alle Fälle Fitz), für den Verurteilte per se keine Monster sind, sondern bloß Leute wie du und ich, die das Pech hatten, sich bestenfalls in einer Notlage falsch entschieden zu haben - oder schlimmstenfalls bloß zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sind.
Natürlich weiß ich, wo The Wire produziert worden ist, aber ich persönlich betrachte sie trotzdem als britische Serie. Im Gegenzug gleicht Wire in the Blood eher den US-amerikanischen Standards.

An der laufenden Diskussion in den Feuilletons stört mich die Ignoranz, denn viele der Kritikerinnen und Kritiker ( Hallo, Frau Sichtermann ) scheinen stolz darauf zu sein, Fernsehserien bislang verachtet zu haben. In den Redaktionen scheint ein Niveau zu herrschen, wie Ende des letzten Jahrhunderts bei Comicrezensionen von irgendwelchen besserwisserischen Edelfedern. Denn in den vorschnellen Bewertungen fällt üblicherweise die historische Entwicklung unter den Tisch, da die Plappermäuler sich nur dumpf erinnern, daß es da mal was wie Twin Peaks und Kir Royal gegeben hat.

Dabei ist es wie in jedem Medium: Gutes und Schlechtes hat es zu jeder Zeit gegeben, und in der Regel hat billiger Schrott den Löwenanteil ausgemacht.

Wer sich ernsthaft mit der britischen Fernsehgeschichte beschäftigt hat (oder das Glück hatte, etwas von ihr live mitzuerleben), kommt um einen Namen nicht herum: Dennis Potter, oder Dirty Den, der für Drehbuchautoren und Fernsekenner zu einer festen Größe geworden ist, zu jemandem, der neue Standards gesetzt hat und mit seinen sperrigen Werken trotzdem beim breiten Publikum angekommen ist.

Wie Moebius, Stan Lee oder Art Spiegelman ist er rasch weltweit bekannt geworden ist. Sein The Singing Detective (und seine anderen Plays with Songs) gehörten Mitte der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre zu einer Reihe von internationalen Serien, die das Spektrum erheblich erweitert haben: zum Beispiel Kir Royal, Das Boot und Heimat aus einheimischer Produktion, der polnische Dekalog, Twin Peaks sowie Lars von Triers Riget I / Geister.
Aber meinem Säulenheiligen wurde rasch Reverenz erwiesen, und bis heute loben ihn Drehbuchautoren durch Anspielungen, die für Außenstehende rätselhaft bleiben müssen.

Zur Popikone wurde seine Serie The Singing Detective meines Wissens erstmals in der Fortsetzungserie Tales of the City (dt. Stadtgeschichten, mittlerweile selbst eine Fernsehserie) von Armistead Maupin. Im sechsten und letzten Band wundern sich die Figuren über den Publikumserfolg (in den USA):

Zitat:
Als Brian The Singing Detective zum ersten Mal gesehen hatte, war Mary Ann zum Kontakteknüpfen bei einer Cocktailparty gewesen.
"Es ist schon verblüffend", sagte er, als sie in der Küche waren. "Da liegt dieser häßliche alte Kerl im Krankenhaus in seinem Bett, hat ganz schiefe Zähne und ein total verschorftes Gesicht, und dann macht er den Mund auf, um zu singen, und dann kommt 'It Might As Well Be Spring' heraus. Nur halt mit so einer Schnulzensängerstimme ... du weißt schon, wie von dem Kerl, der's original gesungen hat ... und mitsamt der richtigen Instrumentierung und so."
"Ich versteh das nicht", sagte Mary Ann.
"Ich auch nicht", sagte Shawna.
"Wenn du dir's anschaust, verstehst du's schon", sagte er zu seiner Frau.
Sie war nicht sehr überzeugt. "Nicht, wenn das Ding sechs Stunden dauert."
"Na ja ... wir könnten es ja häppchenweise anschauen."
"Ohne mich", sagte Shawna.
Er drehte sich zu seiner Tochter um und kitzelte sie unter den Armen. "Du schaust dir das sowieso nicht an."
Das Kind wand sich kichernd. "Doooch."
"Auf keinen Fall. Du schaust dir in deinem Zimmer die Bill-Cosby-Show an."
"Wer sagt das?"

Armistead Maupin: Schluss mit lustig, Rogner & Bernhard 1994, Seite 90-91

Geändert von Servalan (07.10.2014 um 19:22 Uhr)
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Alt 07.10.2014, 20:02   #5  
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Standard Dirty Den: The Singing Detective, Teil II

Bevor sich allzu viele Leute am Kopf kratzen, weil sie die Serie nicht kennen, hier eine kleine Zusammenfassung:

Der Schriftsteller Philip E. Marlow liegt mit einer besonderen Art von Neurodermitis in einem britischen Krankenhaus der 80er Jahre. Jedesmal wenn sich seine Krankheit mit einem neuen Schub meldet, blättert seine Haut am ganzen Körper ab und sein Körper kann die Temperatur nicht kontrollieren; wenn das passiert, beginnt er zu halluzinieren. Sein Arzt hegt den Verdacht, seine Krankheit habe eine psychische Grundlage und bittet ihn, sich therapieren zu lassen.
Marlow ist ein Stinkstiefel, ein Kotzbrocken und vergrätzter Mann, der mit seinem Pulp-Krimi The Singing Detective zwar einen Bestseller gelandet hat, aber sich in letzter Zeit mit jedem in seiner Umgebung verkracht hat: Seine Frau Nicola (die ihn betrügt, denkt er), seinen Agenten Mark Finney (sein Rivale) und die anderen Männer, mit denen er die Station teilen muß.
Um sich wenigstens abzulenken, schreibt er in Gedanken seinen Roman um - versucht, ihn zur Höhenkammliteratur zu veredeln.
Wie gesagt, häufig verliert er die Kontrolle und deshalb erinnert sich plötzlich an seine Kindheit. Er stammt aus einem Bergarbeiterdorf im Forest of Dean, an der Grenze zu Wales, und was er als Neunjähriger erlebt hat, mischt sich seine Revision seines Pulp-Romans. Zuerst erinnert sich nur, wie irgendwo in einer Baumkrone saß und von dort oben mitbekommen hat, was zwei Erwachsene dort (miteinander) treiben. Und in seiner Klasse hat er seiner strengen Lehrerin einen Haufen auf ihren Tisch gesetzt und dann genüßlich zugesehen, wie sein Mitschüler Mark Binney in Verdacht geriet.

Potter hat den Stoff nicht erfunden, oh nein. Er hat in die beste Form gebracht.
Stephen Gyllenhaal, der Vater von Maggie und Jake, scheint den Wandel des Stoffes durchschaut zu haben, denn im Bonusmaterial zu Twin Peaks (bei einigen Folgen hat er Regie geführt) erwähnt er Federico Fellini als Vorbild. Er scheint die frappierenden Ähnlichkeiten zwischen Fellinis 8 1/2 (Otto e mezzo) und The Singing Detective ebenfalls erkannt zu haben.

Vor allem bei den britischen Kreativen lassen sich Anspielungen und Andeutungen auf The Singing Detective finden.
Die erste Staffel von Life on Mars, bei der sich Sam Tylers Erinnerung an seine Eltern mit den Fällen verknüpft, zitiert in seinen Flashbacks optisch regelmäßig The Singing Detective.
Und in der vorletzten Episode (E02S07 Filmriß) leistet sich DCI Gene Hunt einen extrem skurrilen Anwalt, gespielt von Corrine Wicks in Drag: Eine glatzköpfige Person mit einem runden Schädel und dicken Brillengläsern, der unverständliches Zeug brabbelt und plötzlich zu singen anfängt ... und Gene Hunt aus der Haft frei bekommt. - Ein Doppelgänger von Dennis Potter.

In der Serie The Hour findet der Potter-Doppelgänger in der ersten Folge (S01E01), Georgie, der kurz vor dem Abspann zum Telefon greift und jemandem sagt, Frederick Lyon wäre jetzt das Problem von jemand anderem.

(Am deutlichsten wird das in der BBC-Comedy-Serie W1A. Der Titel bezieht sich auf den Postleitzahlcode, in dem das reale BBC-Hauptquartier liegt. In dieser selbstironischen Mockumentary ist Dennis Potter in der Gestalt des Director of Strategic Governance Simon Harwood, gedoubelt von Jason Watkins, optisch präsent.)

Etwas subtiler, aber ebenfalls im ersten Fall (Cracker / Für alle Fälle Fitz S01E02: in der zweiten Folge der Originalepisode) gerät Eddie Fitzgerald während einer Zugfahrt ins Schwadronieren, als er den einzigen Verdächtigen zur Cherryhill Farm begleitet. Der leidet unter Amnesie, doch Fitz nimmt ihm das nicht ab. Also müllt er ihn mit Dingen voll, die in den letzten Jahren Allgemeingut gewesen sind.
Nach der verpatzten Identifizierung fahren beide wieder im Regionalzug nach Manchester zurück, und dabei spricht Fitz von einer Idee für eine Soap, die er (in der Originaltonspur) einleitet, indem er besagten "Dirty Den" erwähnt. Fitz fabuliert von einer Soap, die beim weiblichen Publikum ein riesiger Erfolg wäre, weil alle Rollen mit verurteilten Mördern besetzt wären.

Geändert von Servalan (01.04.2015 um 13:07 Uhr)
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Alt 08.10.2014, 16:03   #6  
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Standard Ein alter Lateiner, oder: Die Sprüche des Horaz

Während er zum Lehrer umschult, sagt Ex-Polizist Roland Przybylewski (in The Wire Staffel 4) seiner Kollegin, der Lehrerin Grace Sampson, daß seine Schüler gerade dann lernen, wenn sie glauben, sie würden nicht lernen. Dabei läßt er sie mit Würfeln zocken, ein vermeintliches Glücksspiel - wie sich herausstellt, die beste Methode, seinen Schülern die Wahrscheinlichkeitsrechnung zu vermitteln. (Mein alter Mathelehrer hätte ihm da zugestimmt, allerdings zog der Roulette vor.)

Für meine Begriffe wird heute ein Schmalspurkonzept von Unterhaltung verwendet, das sich krampfhaft bemüht, ja niemanden zu verschrecken oder zu (über)fordern. Das ewige Schielen auf Zielgruppen, das Zutodetesten im Marketing und das nach dem Munde reden, beleidigt meiner Meinung das Publikum. Entsprechend minderwertig ist dann das weichgespülte Zeug, das jeder (möglichen und unmöglichen) Kontroverse aus dem Weg geht und sofort aufgibt, falls etwas nicht auf Anhieb zum Publikumserfolg wird. Diese konzertierten Aktionen von Managern, Buchhaltern, Marketing und Public Relations-Leuten tragen zur allgemeinen Verflachung bei, und dann wundern sie sich über das schwindende Interesse ihre Publikums (siehe die Schwarzrückenpest bei den französischen Alben).
Leider sitzen diese Leute an den Schaltstellen und bestimmen so die Etats. Daß gerade ihr risikoscheues Verhalten in den Abgrund führt, diese Einsicht scheinen sie gut zu verdrängen.

Franquin hat sich darüber lustig gemacht, indem er für (die Zeitschrift) Spirou den Antityp schlechthin erfunden hat: Gaston Lagaffe.

Die meisten der mittlerweile klassischen Autoren, von Hergé bis zu Carl Barks und darüber hinaus, haben sich als Handwerker (nicht als Künstler) verstanden, die gute Qualität bieten wollten. Auch wenn die Alben, Hefte und Magazine in erster Linie für Kinder (mit einem hohen Anteil aus den unteren Schichten der Bevölkerung) gedacht waren.
Und dieser Anspruch fand sich in den "guten Comics" wieder. (Inwieweit das mit den Agendas von Jugendorganisationen wie den Pfadfindern zusammenhängt, wäre übrigens mal eine akademische Studie wert.)

Dabei haben diese guten Handwerker sich lediglich an ein bewährtes Rezept gehalten, das von Horaz stammt, aus seiner Ars poetica (dt. Dichtkunst). Davon gibt es zwei Versionen:
"Prodesse et delectare" - dt. "Nützen und erfreuen", beziehungsweise:
"docere, movere, delectare" - dt. "Belehren, bewegen, unterhalten".

Diese Klassiker sind deswegen so gut, weil sie nicht nur unterhalten, sondern nebenbei eine Menge Wissen über die Welt vermitteln, über Land und Leute. Selbst wenn das bedeutete, daß möglicherweise ein Teil des Publikums die Finessen nicht mitbekommt. Aber gerade diese Vielschichtigkeit hat den klassischen Werken (der Populärkultur, wie das an den Universitäten genannt wird) eine Komplexität beschert, die sie zu All-Age-Werken gemacht hat. Die können auch gern von Erwachsenen gelesen und goutiert werden, ohne daß die sich schämen müssen.

Der Nürnberger Trichter, mit dem die Zöglinge (ich benutze hier bewußt ein altmodisches Wort) traktiert werden, führt meiner Erfahrung nur zum Bulimie-Lernen. Nach der nächsten Prüfung ist wieder alles vergessen.
Das beiläufige Aufschnappen von Wissen scheint mir da nachhaltiger (modernes Plastikwort), weil es nach und nach ein Geflecht bildet, das sich im Gehirn festsetzt.

Geändert von Servalan (01.04.2015 um 13:08 Uhr)
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Alt 10.10.2014, 15:51   #7  
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Standard Tote Sprachen, lebendige Geschichten

Der Gedanke an etwas Effektives, ist in der Geschichte der Menschheit eine ziemlich junge Erfindung. Vieles davon hängt mit der Erfindung der Uhren und einem mechani(sti)schen Menschenbild zusammen, in der Marionetten und Maschinen zum Vorbild werden. Außerdem wird durch diese Vergötzung des Nützlichen (Utilitarismus) ein Klippschulmodell der ehrwürdigen Mathematik vermittelt.

Ja, gewisse Dinge lassen sich berechnen.
Bestimme Schlußfolgerungen lassen sich ziehen.
Aber ziemlich häufig hat eine Ursache mehrere Folgen, und einzelne Folgen lassen sich selten auf eine einzige Ursache reduzieren.

Ja, die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten, A und B, ist eine gerade Strecke.
Allerdings nur auf einer Fläche.
Je mehr Dimensionen dazukommen, desto komplexer wird die Berechnung. Deswegen liegt in der Trigonometrie die Lösung manchmal in einer geschwungenen Linie, die wie ein immenser Umweg aussehen kann.

Manchmal erweist sich gerade das als besonders effektiv, was beiläufig daherkommt und wie groteske Unterhaltung wirkt: die antiken Mythen haben schließlich Jahrtausende überlebt. Die alten Sprachen sind untergangen, und was die Kulturen hinterlassen haben oder was von ihnen übrig geblieben ist, das müssen Altphilologen und Althistoriker mühsam aus ihren Funden rekonstruieren.
Selbst wer überhaupt keine Ahnung hat, kennt zumindest als Jugendlicher die Namen der mythischen Helden und Gesänge: Ödipus und Ariadne, Herakles/Herkules und Siegfried, Isis und Horus. Welche Taten die vollbringen oder erleiden mußten, ist in groben Zügen bekannt und kann vorausgesetzt werden, wenn Autoren ihre eigene, (post)moderne Version der Sagen entwickeln.

Wirtschaftswissenschaftler beklagen sich häufig, das Menschen nur schwer durchschauen, wie sich Zahlen entwickeln, und kaum jemand ein Gespür für die logarithmische Struktur dieser Muster hat. Entsprechend geringschätzig äußern sich die Ökonomen dann über Stories und das Storytelling. Ich halte ihre Einschätzung für einen Fehler, denn gerade Stories beschäftigen sich mit der Entwicklung, und Mythen haben wie (kirchliche) Liturgien eine ziemlich feste Struktur. Klar, die läßt sich ändern - aber damit ändern sich dann auch die Bedeutungen.
Joseph Campbells berühmte Queste des Helden mit ihren klaren Etappen dürfte mittlerweile Allgemeingut sein.

Eine glaubwürdige Entwicklung erfordert jedoch eine gewisse Zeit, an einem Abend läßt die sich nicht abwickeln.
Deshalb halte ich es für keinen Zufall, daß die klassischen Epen einen festen Rahmen besitzen. Homers Ilias und Odyssee weisen jeweils 24 Gesänge auf, und ich glaube nicht, daß es jemals einen Menschen gelungen ist, diese Epen in einem Rutsch durchzulesen. Wer diese Epen erzählt, braucht Unterbrechungen, damit sich der Erzähler und die Zuhörenden erholen und das Gehörte verarbeiten können. In den Beitexten zu meiner Ausgabe (dtv Artemis Bibliothek der Antike) wird darauf hingewiesen, daß sich Homer (wer auch immer das konkret gewesen ist) von Rhapsoden inspirieren ließ, wandernden Geschichtenerzählern, und etliches wird er einfach abgekupfert oder für seine Zwecke veredelt haben. Etwas verwegen interpretiert, gleichen die Epen von der Struktur einer Maxi-Serie in 24 Heften, und die Odyssee wäre dann die erste Spin-Off-Serie.
Die Römer haben das Konzept leicht abgewandelt: Vergils Aeneis hat zwölf Bücher und Ovids Metamorphosen 15 Bücher. Dieses Prinzip, sich längere Geschichten zu erzählen, ist äußerst hartnäckig und dennoch extrem flexibel. Im Mittelalter werden aus den Gesängen oder Bücher Tage, an denen sich Figuren gegenseitig Geschichten erzählen: Beispielsweise in Boccaccios Decamerone (10 Figuren x 10 Tage = 100 Geschichten) oder das Heptameron von Margarete, Königin von Navarra (das sollte eigentlich ein französisches Decamerone werden, aber Gevatter Tod hinderte sie an der Fertigstellung).

Menschen haben sich ständig Geschichten erzählt, lange Geschichten.
Zwar haben sich die Mittel verändert, und die Autoren haben ihr Handwerk verfeinert, so daß sie jetzt subtiler vorgehen können. Holzhammer und gereckte Zeigefinger sind zum Glück adé.
Auf diese Weise haben sich die ehrwürdigen Mythen in Archive verwandelt, in Schatzkammern, von denen sich Kreative inspirieren lassen können. Manche Geschichten sind einfach nicht totzukriegen, in immer neuen Verwandlungen leben sie fort und bereichern unser Leben.

Ich mag Geschichten.

Geändert von Servalan (01.04.2015 um 13:13 Uhr)
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Alt 22.10.2014, 14:58   #8  
Servalan
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Wie bei den meisten Dingen, gibt es auch hier einen Haken: Wer etwas erzählt, muß einen Draht zu seinem Publikum haben. Auf einer ganz allgemeinen Ebene müssen sich beide Seiten verstehen, damit der Geschichtenerzähler seine Hörerschaft in den Bann ziehen kann.

Explizit kommen diese Bedingungen eigentlich nie zur Sprache.
Damit sich beide Seiten auf das Erzählte einlassen können, muß das Erzählen an einem verhältnismäßig geschützten Ort stattfinden: Solange sich jemand vor dem Überfall einer feindlichen Horde oder dem Angriff eines Raubtieres wappnen muß, solange jemand um sein nacktes Überleben kämpft, wäre das eine Ablenkung, die das eigene Leben kosten könnte.
Deshalb ist das Erzählen von Geschichten etwas, das Menschen verbindet. Wer sich über, durch und mit Geschichten verständigen kann, erkennt damit etwas an, das Sprecher und Hörer verbindet. Geschichten schaffen Gemeinschaften. Am deutlichsten wird diese Qualität in Insiderwitzen.
Eine Rahmenerzählung bietet die Gelegenheit, diesen Umstand sichtbar werden zu lassen. Im Decamerone flüchten zehn Adlige auf einen Landsitz und erzählen sich dort die Novellen; im Heptamerone sorgt ein Unwetter für verschüttete und verschlammte Straßen und überflutete Wege, so daß eine Gruppe von Adligen festgehalten wird; und in den Geschichten aus 1001 Nacht erzählt Scheherazade buchstäblich um ihr Leben.

Geschichten erzählen, ist nichts Selbstverständliches, und leicht ist es schon gar nicht. Nur ein Bruchteil der Leute, der ständig sagt, sie oder er könne eigentlich einen Roman schreiben, tut es letztlich auch. Geschichten erzählen will gelernt sein. Dabei kann viel schiefgehen.
Meist geschieht das autodidaktisch durch Versuch und Irrtum. Die meisten Ergüsse auf Papier bleiben peinlich wie pennälerhafte Liebesbriefe an den Klassenschwarm oder eine andere Dorfschönheit. Spätestens nach einigen Jahren fallen den meisten Autoren ihre offensichtlichen Fehler und Mängel ins Auge, und dann sind sie froh, daß dieser und jener stümperhafte Versuch in der Schublade geblieben ist. Dabei müssen Fehler gemacht und selbst erkannt werden, um sie künftig meiden zu können. Nur durch ein ständiges Training wird das Gespür für die Fähigkeiten, Möglichkeiten und Lücken der Sprache geschult, nur wer hart übt, verinnerlicht die Prinzipien, die eingehalten werden müssen, um eine Geschichte erzählen zu können.

Es muß erlaubt sein, eine Geschichte erzählen zu dürfen.
Schließlich wird ja schon die damit verbundene Muße häufig scheel angesehen. Wer sich ein wenig in der Kulturgeschichte auskennt, wird fast unvermeidlich über religiöse Asketen stolpern, die ihren Mitmenschen dieses Vergnügen vergällen wollen und die jeweils populären Medien mit allerhand Vorurteilen diffamieren.
So haben die Puritaner über die Puppenspiele (motions) und Theaterspiele zuerst gelästert. Nach der Glorious Revolution gelang es ihnen, all das zu verbieten, was sie als gottlos betrachteten. Wenige Jahrhunderte später wurde über die Romansucht der Dienstboten gelästert, über die Penny Dreadfuls der Hausierer und die Kolportageromane. Sobald ein neues Medium die Bühne betrat, wurde es fast zwanghaft als jugendgefährdend und sittenverderbend dargestellt, vom Kintopp (Kino) über Radio, Fernsehen und Videospiele bis zum Internet. Die Schmutz-und-Schund-Kampagnen, bei denen Comics gegen vermeintlich bessere Literatur getauscht und dann vielleicht öffentlich verbrannt wurden, fallen also ins übliche Reiz-Reaktions-Schema.
Das Publikum muß lernen, was es bei Geschichten erwarten kann. Und da scheint jedes Medium das Rad neu erfinden zu wollen, indem ein schon etabliertes Medium einfach übertragen wird: Beim Roman als Lesedrama, beim Kino als gefilmtes Theater, beim Comic als gezeichneter Film ...

Je besser das Publikum mit den verschiedenen Erzählweisen vertraut ist, desto mehr Möglichkeiten bieten sich, Geschichten zu erzählen und allzu bekannte Muster, die womöglich langweilen könnten, dürfen unterlaufen oder ironisch gebrochen werden.
Insofern leben wir in einem Goldenen Zeitalter des Geschichtenerzählens.
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Alt 26.10.2014, 16:03   #9  
Servalan
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Standard Bühne frei für Neil Gaiman

Zur Zeit befindet sich Neil Gaiman auf einer Lesereise quer durch Europa. Den Anlaß liefern die jeweiligen Übersetzungen seines Romans Der Ozean am Ende der Straße (The Ocean at the End of the Lane), der als Meisterwerk gefeiert wird.
Seine Lesung in Paris verband er mit einer Vernissage der Galerie Martel, in der Dave McKean gerade ausstellt.

Seine französische Fassung des Romans erschien in dem 2000 gegründeten Kleinverlag Éditions Au Diable Vauvert, der als kostenlose Beigabe für Gaimans Publikum ein kostenloses Heft gedruckt hat: Pourquoi notre futur dépend des bibliothèques, de la lecture et de l'imagination (dt. Warum unsere Zukunft von Bibliotheken, vom Lesen und der Vorstellungskraft abhängt).
Der Text ist die gekürzte Fassung einer Rede, die Gaiman am 14. Oktober 2013 im Barbican Centre, London, hielt. Eingeladen wurde er von der Reading Agency (die britische Version der Stiftung Lesen). Sein Plädoyer für das Lesen nannte er Reading and Obligation (dt. Lesen und Pflichten).
Der ungekürzte Text findet sich auf den Seiten der Reading Agency.

Die 25 Minuten lange Veranstaltung wurde auch auf Video dokumentiert. (Achtung: Das ist Steinzeitfernsehen! Die Kamera bewegt sich keinen Millimeter und der Ton ist grauenhaft leise!)

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Alt 30.10.2014, 15:22   #10  
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Standard Es gibt mehr als eine Art, eine Geschichte zu erzählen

Geschichten erzählen will gelernt sein.
Geschichten genießen zu können, das muß geübt werden.
Je länger und komplexer eine Geschichte ist (oder werden soll), desto schwieriger wird es, sie so zu gestalten, daß das Publikum nicht die Lust verliert, daß der roten Faden nicht aus dem Blick gerät und sich die Geschichte in ein unübersichtliches Gewirr von Anekdoten zerfasert, oder das Geschriebene irgendwann als Fragment endet, als gescheiterter Entwurf.
Dabei wächst der Schwierigkeitsgrad exponential: Eine doppelt so lange Geschichte, erfordert den vierfachen Einsatz; eine zehnmal lämgere Geschichte den hundertfachen Einsatz.
Jede künstlerische Aktivität verlangt eine gewisse Disziplin, und wie bei den Artisten unter der Zirkuskuppel gilt auch hier der Grundsatz: Weil dem Publikum etwas leicht erscheint, heißt das noch lange nicht, daß das Kunststück mühelos von der Hand gegangen ist. Blut, Schweiß und Tränen über mißlungene Ansätze bleiben am besten verborgen, denn die gehen das Publikum nichts an.
Über weite Strecken der Geschichte führte der Prozeß von kürzeren zu längeren Geschichten, wobei das eine das andere nicht ausschließt, schließlich läßt sich beides kombinieren. Eine vor sich hinwuchernde Geschichte kann über kurz oder lang außer Kontrolle geraten, was verhindert werden muß, und geschieht am leichtesten durch Klammern, die einen Rhythmus vorgeben.

In den mittelalterlichen Novellenzyklen Decamerone und Heptameron gliedert die Rahmenerzählung die Folge der einzelnen Novellen, wobei jeder Tag unter einem bestimmten Motto steht, daß der König oder die Königin des Tages vorschlägt. Wie in einem Gemälde der Zeit richtet sich die Größe der Personen nicht nach ihrer physischen Gestalt, sondern nach ihrer Macht und ihrem Einfluß. Der Duktus ist trotz der vermeintlich lockeren Atmosphäre autoritär, verbindlich und wird in einen nachgereichten Kommentar offensichtlich, der festlegt, welche Interpretationen legitim sind und welche nicht.
Die Novellen liegen wie eine zweite Schicht über dem Rahmen.
Moderne Erzähler können gut und gern auf solche unbeholfen wirkenden Konstruktionen verzichten: Verschiedene Spannungsbögen lassen sich nämlich in story arcs staffeln, darüber hinaus kann es Leitmotive geben, die subtil über den gesamten Verlauf von verschiedenen Figuren aufgegriffen und variiert werden, wodurch sich voneinander abweichende Ansichten gegenseitig kommentieren. Geschichte und Rahmen verflechten sich dadurch zu einem Zopf, in dem zwei oder mehr Ebenen ineinander über gehen.

Wieviel Aufmerksamkeit eine Geschichte bekommt, hängt davon ab, wie sie erzählt wird. Leider halten sich bildungsbürgerliche Vorurteile hartnäckig, und danach wird alles, was Kinder und Leute ohne Abitur verstehen können, kategorisch als minderwertig abgetan, als billige Massenware verachtet. Den Lackmustest bildet dabei der Unterschied zwischen E und U. (Was ich jetzt an Begriffen erwähne, läßt sich bei Gustav René Hocke nachlesen, in dessen Die Welt als Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur.)
Grob gesehen, lassen sich zwei Arten von Geschichten unterscheiden: Die eine erzählt linear; erlaubt dem Publikum, sich mit der Hauptfigur zu identifizieren; und schließt mit einem definitiven Ende. Schon in der Antike wurden solche Geschichten erzählt; allgemein werden sie als Griechischer Roman kategorisiert. Hocke spricht vom attischen Roman (also einem Roman, wie er in Athen erzählt wird), dem konservativen Modell (U).
Das Gegenmodell bildet der asianische (sic! nicht asiatische!) Roman, der sich in endlosen Abschweifungen verliert, die Sprache zum Delirium oder zum Tanzen bringt und sich keinen Deut um Konventionen schert (E).

Das ist die Theorie, und die läßt sich zurechtbiegen.
Die Praxis ist komplizierter.
Was gestern als unversöhnlicher Gegensatz gegolten hat, läßt sich heute geschmeidig als eine Einheit fassen.
Schrittmacher im Comicbereich dürften im Vereinigten Königreich die Miracleman/Marvelman-Zyklen von Alan Moore und Neil Gaiman gewesen sein, des weiteren der Swamp Thing-Zyklus von Alan Moore, Rick Veitch und John Totleben, sowie Cerebus von Dave Sim und Gerhard.

Geändert von Servalan (01.04.2015 um 13:25 Uhr)
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Alt 03.11.2014, 15:59   #11  
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Standard Folge um Folge

Bei einem bestimmten Limit sind die geistigen Kapazitäten ausgeschöpft, und dann mistet das Unterbewußtsein rigoros aus. Was nicht mehr abgerufen wird, verschwindet im Vergessen. Damit etwas als Fortsetzung einer Geschichte verstanden werden kann, muß die nächste Folge in einer überschaubaren Frist erscheinen, am besten in einem festen Rhythmus, der sich den regulären Schemata orientiert (Tage, Wochen, Monate).
Solange kein verläßlicher Rhythmus gewährleistet ist, verbieten sich größere Bögen. Der Vertrieb wird deshalb zum Nadelöhr, an dem sich das Schicksal eines Stoffes entscheidet. Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß die klassische Dramaturgie, bei der jede wichtige Information dreimal aufgerufen werden muß, sich aus solchen Erfahrungen entwickelt hat. Falls sich mal sein Sender oder eine Zeitung aus einem syndikalisierten Strip ausgeklinkt hatte, mußte das Werk trotzdem verständlich und die Handlungen der Figuren nachvollziehbar bleiben. Außerdem konnte es passieren, daß jemand mal eine Folge verpaßt oder versäumt hat.
Comicfan Groucho Marx erwähnt in den Briefen* an seine Tochter Miriam, die den Strip Tillie the Toiler geschätzt hat, welche Plackereien er auf sich genommen hat, um in der Provinz die richtigen Zeitungen zu ergattern. Solange eine verläßliche Fortsetzung Glückssache ist, bleibt es bei kurzen Geschichten und Gags.

Früher hat der Kiosk eine gewisse Verläßlichkeit garantiert, heute können das die Autoren in Blogs oder online selbst organisieren. Aus der Sonntagsseite hat sich allmählich das frankobelgische Album entwickelt (48, 56 oder 64 farbige Seiten), das eine komplette Geschichte bietet. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg galten solche Veröffentlichungen als Auszeichnungen für Werk und Autor, mittlerweile hat sich dieser Effekt auf Gesamtausgaben (Intégrales) verschoben. Falls die Serie zu umfangreich ist, bieten sich auf mittlerer Ebene Zyklen von zwei bis sechs Folgen an (selten mehr). Für DVD-Boxen von Fernsehserien gilt das gleiche, denn auch dort finden sich Komplettboxen.

Unter dieser Voraussetzung läuft die Dramaturgie anders ab: zuviel könnte negativ empfunden werden. Eine bombastische Effektorgie sorgt im Kino für anderthalb bis zwei vergnügliche Stunden. Sobald sich die Geschichte episch über sechs oder mehr Stunden ausbreitet, muß darauf geachtet werden, daß sich Effekte nicht vorzeitig abnutzen und im Finale bloß noch ein müdes Gähnen ernten. Weniger ist mehr.
Zudem muß das Fandom berücksichtigt werden, das sich in die Werke vergräbt und Deutungen zutage fördert, von denen die Autoren nicht einmal geträumt haben. Jede bessere Serie plant von vornherein eine wiederholte Sichtung ein, bei der Details eine ungeheure Wirkung entfalten können. Diese Details sollen zwar entdeckt werden, aber nur von den wenigsten beim ersten Mal. Bestimmte Zusammenhänge werden erst nach und nach deutlich, und wenn die Geschichte gut ist, verdichten sie sich zu etwas Schlüssigem, das im Gedächtnis haften bleibt.

In The Wire läßt sich ein üppiges Bündel solcher Elemente entdecken, die sich als Knoten durch die Geschichte ziehen und sich zu einem Netz verbinden. Ständig werden dort Figuren von anderen Figuren belehrt, was wie geschrieben wird, und bestimmte Sätze wandern über die Staffeln von einem Mund zum anderen ("What's wrong with this picture?" / "Was stimmt nicht an diesem Bild?").
Den Insiderwitz der Serie schlechthin bilden die drei Charlies, von denen immer mal wieder geredet wird, eine Hommage an die Stimme des ominösen Charlie, der seine drei Engel losgeschickt hat.
Den ersten, den Gentleman-Trickdieb Charlie Smollet, erwähnt Kima Greggs bei ihrem Damenabend, als sie gefragt wird, warum sie Polizistin geworden ist. In der Hafenstaffel läuft der Grieche, der gesuchte Kingpin an ihrem Wagen vorbei, als sie das Parkhaus verläßt - ihr geht also wieder ein Charlie durch die Lappen.
Als die Schauerleute das Stadtgefängnis verlassen, erwähnt einer von ihnen Charlie Valchek, den älteren Bruder des Polizeioffiziers Stan Valchek.
Als Oldface Andre nach seinem Knastaufenthalt zu Prop Joe flüchtet und ihn darum bittet, ihn vor Marlo Stanfield zu retten, druckst der Don der Eastside verlegen herum und verrät den Flüchtling an Chris und Snoop. Spätestens bei Prop Joes Gespräch über Brother Mouzone dürfte klar sein, daß Joseph Stewart genauestens unterrichtet ist und buchstäblich jeden kennt. Gegenüber Stringer Bell erwähnt er nun Charlie Sollers, der in den sechziger Jahren Drogen wie Wasser verkauft habe. Keine Gangsterattitude, keine Vorstrafen, er hat nur für zehn Cent gekauft und für die doppelte Summe verkauft. Wenig später hört das Publikum, wie Spiros Vondas in der Hafenkneipe einen ähnlichen Spruch vom Stapel läßt. Und von Spiros bekommt Prop Joe seinen Nachschub. In der letzten Folge der Hafenstaffel sagt Spiros lächelnd, die Polizei wisse nur von einem Spiros und das sei nicht sein Name. Und der Grieche bemerkt süffisant, er sei ja kein Grieche.
Marlo Stanfield sorgt letztlich dafür, daß dieses Wissen von den Behörden nicht mehr ermittelt werden kann. Der geschichtsbewußte Prop Joe wäre der einzige gewesen, der Spiros hätte enttarnen können, aber Marlo bringt ihn um.

* in Miriam Marx Allen (Hrsg.): Love, Groucho. Letters from Groucho Marx to His Daughter Miriam, Faber and Faber 1997.

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Alt 08.04.2015, 16:12   #12  
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Standard Zweite Staffel: "Traffik" und die Folgen

Wer sich das Making-of der Serie The TEAM in der ZDF Mediathek angesehen hat, konnte dort hören, wie die Macher ihr Werk über alle Maßen priesen und als etwas völlig Neues darstellten: Ein europäisches Projekt quer über alle Grenzen (Dänemark, Belgien, Deutschland) hinweg, das aktuelle Probleme unterhaltsam im Genre-Format präsentiert.
Ich verstehe die Großspurigkeit durchaus, denn die muß mittlerweile sein, um das knappe Gut Aufmerksamkeit zu erheischen. Wie oben schon erwähnt: Was die Kreativen von sich geben, sollte niemand auf die Goldwaage legen. Die sind nicht zur Wahrheit verpflichtet. Im Gegenteil, die müssen ihr Werk unter die Leute bringen. Skrupel in der Wahl der Mittel sind da fehl am Platze.
Und außer den (semi-)professionellen Rezensenten und den Medienwissenschaftlern im Dunstkreis der Universitäten kennen sich bloß verschrobene Nerds und Midriffs wie meinereine gut genug in der Geschichte aus, um die Vorbilder zu erkennen - besonders wenn die schon mehr als 30 Jahre auf dem Buckel haben.

Leider stimmt das alte Klischee, daß es nichts Neues unter der Sonne gibt.
Aufgemerkt: Ich spreche von einem Vorbild, keinem Plagiat. The TEAM bedient sich großzügig bei einer Reihe von Vorbildern: Von den Eurocops und Lauterbachs Faust (an den mich Lars Mikkelsens Kommissar erinnert) bis hin zu jener Serie, die ich in den Mittelpunkt meines Beitrags stellen werde: Traffik.
Damals, also Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre litten Serien unter einem schlechten Ruf, und wenn sie aus mehreren europäischen Ländern finanziert wurden, war der Ruf komplett ruiniert: Das gängige Schimpfwort lautete "Europudding". Kritiker ging von vornherein davon aus, daß dieser Pudding niemandem schmeckt, bestenfalls galt der Pudding als neutrale Masse, die die Sinne verstopft. Allerdings gab es eine Ausnahme.

Die ursprüngliche Serie Traffik wurde für sechs britische Fernsehpreise (BAFTA) nominiert und gewann in drei Kategorien. Hinzu kam ein Emmy als beste internationale Serie. Die sechsteilige Staffel des öffentlich-rechtlichen Senders Channel 4 aus dem Jahre hinterließ in der Filmbranche einen gewaltigen Eindruck, obwohl die Zweitauswertung, beispielsweise durch DVD-Boxen, eher zu wünschen übrig ließ.
Steven Soderbergh drehte 2000 einen Kinofilm, der sich aber nur einem der drei erzählten Stränge widmet, obwohl er als US-Remake vermarktet wurde. 2004 strahlte der Kanal USA Network ein dreiteiliges Serien-Remake aus, das sogar für drei Emmys nominiert wurde.

Zurück zum eigentlichen Thema: Traffik irritiert das Publikum in den ersten Minuten der sechs Stunden durch eine schier endlose Kamerafahrt im Hubschrauber durch eine weite Landschaft. Im Laufe der ersten Viertelstunde (so lange muß sich das Publikum gedulden) werden die Stories angerissen: Irgendwo im Hamburger Hafen wickeln zwei Polizisten undercover einen Drogendeal ab. Im Grenzgebiet zu Afghanistan muß der Farmer Fazal miterleben, wie eine pakistanische Anti-Drogen-Einheit sein Mohnfeld abfackelt und seine Lebensgrundlage ab. Der aus Schottland stammende britische Innenminister Jack Lithgow hat sich dem Kampf gegen den internationalen Drogenhandel verschrieben, muß aber ohnmächtig erkennen, wie seine Tochter Caroline über studentische Drogenparties in Junkie-Milieu abrutscht.

Traffik buhlt nicht um sein Publikum, und gerade darin liegt seine Stärke. Die Story läuft extrem langsam an, entwickelt aber einen Sog, dem ich mich bald nicht mehr entziehen konnte. Dabei gibt es keinen Helden, auf den alle Stränge zulaufen, stattdessen berühren sich die Geschichten nur teilweise, so daß hier ein Ensemble entsteht.
Diese Distanz wird noch durch die Wahl heimischer Teams vor und hinter der Kamera unterstrichen, eine wirklich internationale Ko-Produktion: Großbritannien, die Bundesrepublik Deutschland (kurz vor dem Mauerfall) und Pakistan. Im deutschen Part agieren Tilo Prückner und Fritz Müller-Scherz als Polizisten, während die pakistanischen Darsteller (Jamal Shah als Opiumfarmer Fazal und Talat Hussain als Drug Lord Tariq Butt) im eigenen Land Stars sind, sind sie außerhalb ihrer Heimat Unbekannte.

Aber britische Serien sind nicht perfekt. Häufig geht irgendwann der (finanzielle) Atem aus und zurück bleiben unvollendete Geschichten. The Hours und Utopia erwischte es nach der zweiten Staffel, und beide konkurrieren in der Filmgeschichte um den Platz der britischen Serie mit dem atemberaubendsten Cliffhanger. Deshalb kann ich das Kreativ-Team von Life on Mars (Matthew Graham, Tony Jordan und Ashley Pharoah) nur zu der Entscheidung beglückwünschen, ihre Story auf zwei Staffeln zu beschränken.
Traffik hätte weitere Staffeln verdient, und mit jeder Staffel hätte die Serie weitere Meilensteine setzen können. Aber vor gut 30 Jahren waren solche Ideen utopisch. Die Qualität zeigt sich in anderen Serien, die den Geist aufgegriffen und ihm ein neues Zuhause gegeben haben.

David Simon munkelt im Audiokommentar der zweiten Staffel von The Wire, daß er gern den internationalen Drogenhandel, also die Connections von dem Griechen und Spiros Vondas, näher beleuchtet hätte. Ich verstehe das als Wink mit dem Zaunpfahl, zumal es zwischen seinem Entwurf (in der Wire-Bibel) und Traffik bedeutende Ähnlichkeiten gibt.
The Wire beginnt mit dem verlorenen Prozeß gegen D'Angelo Barksdale, in Traffik wird der Drogenhändler Karl Rosshalde freigesprochen. Bei Traffik kommt der deutsche Polizist Dieter um, was seinen Kollegen aus der Bahn wirft. Der dringt später besoffen bei Rosshalde ein und droht ihm, er werde ihm das Handwerk legen. Bei dem Undercover-Einsatz kommt Kima Greggs in der Wire-Bibel-Fassung um, und Jimmy McNultys Manie, Avon Barksdale und Stringer Bell matt zu setzen, ähnelt Ulis Zustand verdammt.
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Alt 15.06.2015, 14:08   #13  
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Standard Kill Your Darlings, Teil I

Ehrlich gesagt, habe ich mich gewundert, daß überhaupt kein Widerspruch (im Quasselthread) gekommen ist, als D'Angelo Barksdale seinen beiden Untergebenen Bodie und Wallace Schach als das bessere Spiel verkauft und den beiden ihre Dame-Züge madig gemacht hat. So selbstverständlich ist das nämlich nicht. Selbst wenn den wenigsten auf Anhieb stichhaltige Argumente eingefallen wären, nehme ich an, daß viele hier im Forum jene Passagen gelesen haben, vielleicht vor langer Zeit, irgendwann in der Schulzeit.
Eines der Ghettos in Baltimore heißt Poe Homes, eine Tatsache, die David Simon und sein Team für eine sarkastische Szene in der zweiten Staffel benutzen. Vor einem Drogenlager der Barksdale-Gang feixen die beiden Bodyguards auf der Veranda offensichtlich über einen Touristen, der das Haus von einem "Edward Allen Poe" gesucht habe.
Der Gründervater der modernen Kriminalgeschichte, der Klassiker der amerikanischen Literatur, nutzt die Schach-oder-Dame-Frage nämlich, indem er mit ihr eine der berühmtesten Geschichten des Genres einleitet - und diese Geschichte gehört mittlerweile zur Weltliteratur.

Ich meine Edgar Allen Poes Die Morde in der Rue Morgue (The Murders in the Rue Morgue), die 1841 zum ersten Mal gedruckt wurde. (Meine Zitate stammen aus 10-bändigen Werkausgabe von 1966/1979, die Arno Schmidt und Hans Wollschläger übersetzt wurde.)

Die Erzählung beginnt mit einer ausführlichen Erörterung, worin sich gewöhnlicher Scharfsinn und analytische Fähigkeiten unterscheiden. Um den Unterschied deutlich zu machen, vergleicht er Schach und Dame (einen kleinen Schlenker über Bridge erlaubt er sich darüber hinaus). Doch bei den Unterschieden bleibt es nicht, denn die Struktur verlangt jeweils andere Strategien, um die besten Züge zu erkennen und über den Gegner triumphieren zu können. Bei Poe (will sagen bei dem Erzähler) heißt es:
Zitat:
Nun schreibe ich hier keine Abhandlung, sondern schlicht das Vorwort zu einer einigermaßen absonderlichen Erzählung, indem ich durchaus zufällige Beobachtungen mitteile; ich will daher einmal Gelegenheit nehmen zu verfechten, daß die höheren Kräfte des denkerischen Intellekts weit entschiedener und fruchtbarer vom bescheidenen Damespiel in Anspruch genommen werden als von der berühmten Nichtigkeit des Schachs. Bei diesem letzteren, worin die Figuren verschiedene und durchaus bizarre Bewegungen haben, wird fälschlich (ein nicht ungewöhnlicher Irrtum) für tiefgründig verstanden, was nur verwickelt ist. Mächtig wird hier die Aufmerksamkeit ins Spiel gerufen. Wenn sie nur einen Augenblick erschlafft, ist schon ein Versehen begangen, das Nachteil oder Niederlage bringt. Da die möglichen Züge nicht nur mannigfaltig sind, sondern vielfach voneinander bedingt, vervielfältigen sich die Folgen solcher Versehen; und in neun von zehn Fällen ist es eher der angespannt aufmerksamere denn der scharfsinnigere Spieler, der gewinnt. Beim Damenspiel hingegen, wo die Züge gleichförmig sind und nur geringe Abweichung haben, sind auch die möglichen Folgen von Unachtsamkeit geringer, und da die bloße Aufmerksamkeit vergleichsweise unbeschäftigt bleibt, gehen alle Vorteile, die von den Parteien errungen werden, einzig auf höheren Scharfsinn zurück.
(Band 2, Seite 724, alle Hervorhebungen von Poe)
Wer sämtliche Staffeln von The Wire gesehen hat, wird gemerkt haben, daß bei Simon & Company kein platter Sozialrealismus gepredigt wird. Ähnlich wie bei Poe läßt sich die Wahl zwischen Schach und Dame auch als subtiles Mittel verstehen, um zwei Arten von Menschen voneinander zu trennen.
Dame-Liebhaber wie Preston 'Bodie' Broadus sind aggressiv, reagieren schnell und passen sich den Gegebenheiten an, um zu überleben. Wer wie Wallace oder D'Angelo Schach bevorzugt, sucht seine Vorteile eher in Hierarchien und Institutionen, vielleicht, weil er sich von dort Schutz erhofft.
Insofern fehlt Malik 'Poot' Carr hier nicht ohne Grund, denn das Schach-Dame-Spektrum als Persönlichkeit hat fließende Übergänge. Im The Wire-Universum wählt ein "soldier", ein Gangster nämlich Dame, während Schach - im Rückblick betrachtet - tödliche Konsequnzen hat. In Logik des Ghettos und des Knasts sind Schachspieler zu weich, zu menschlich, nicht hart und männlich genug, um bitterste Nachteile (20 Jahre bei D'Angelo) inkauf zu nehmen, wenn das von ihnen verlangt wird.
Bei der Säuberung in der ersten Staffel killen Bodie und Poot ihren Kumpel Wallace. Bodie steht in der Gang-Hierarchie höher, also muß er den ersten Schuß auf seinen Freund abfeuern, was ihm sichtlich schwerfällt. Seine Hand zittert, und erst als nachdem ihn Poot getriezt hat, drückt er ab. Aber Bodie verletzt Wallace nur schwer. Poot hingegen nimmt Bodie die Waffe ab und feuert die beiden tödlichen Schüsse rasch hinterher.
Letztlich überletzt nur Poot die Saga, Bodie zieht gegen drei von Marlos Killern im Finale der vierten Staffel den kürzeren.

Geändert von Servalan (14.02.2020 um 16:14 Uhr)
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Alt 16.06.2015, 13:58   #14  
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Standard Kill Your Darlings, Teil II

Die Redewendung aus dem Titel ist eben das - eine Redewendung, eine Metapher, ein Sinnbild für etwas anderes. Sie wörtlich zu verstehen, das ergibt natürlich einen hübschen Kalauer; aber wenn alle Autoren sich daran hielten, löst sich der Effekt in Luft auf. Wenn Autoren ihre Figuren umbringen, muß das eine Bedeutung haben und im Rahmen der Geschichte Sinn machen. Charaktere sind erst dann "wirklich gestorben", wenn sie dann von der Bühne abgetreten sind - mit allen Konsequenzen.
Falls beliebte, wichtige Figuren oder gar der Protagonist ins Fadenkreuz gerät und mitten aus der Geschichte gerissen wird, kommt die Erzählung ins Schwanken. Sobald Marion Crane in Alfred Hitchcocks Meisterwerk Psycho (USA 1960) im Bates Motel unter der Dusche erstochen wird, kippt die Erzählung aus den klassischen Genremustern eines Hardboiled Noir Krimis heraus. Dem Publikum wurde mitten in der Vorstellung der Teppich unter den Füßen weggezogen, und jetzt suchen die Füße auf dem unvertrauten Terrain neuen Halt. Der Noir hat sich in einen Horror-Thriller verwandelt. Besonders das Kino der 1970er Jahre, das Kino der Post-Nixon-Ära nach Watergate und im Vietnamkrieg ist von solchen Brüchen geprägt.

Bis sich das Fernsehen solche Schocks erlauben konnte, dauerte es einige Jahrzehnte. Das hing auch mit dem Vorurteil zusammen, die "Glotze" wäre im Vergleich zur großen Kinoleinwand ein minderwertiges Medium. Als der Damm einmal gebrochen war, haben sich viele Serien daran versucht, dennoch haben nur wenige Fernsehgeschichte geschrieben.
Damit der Tod zu einer schmerzhaften Zäsur wird, muß dieser Verlust sowohl für andere Figuren als auch für das Publikum Konsequenzen haben. Das heißt, sogar abwesend wirkt der Tote auf das übrige Ensemble weiter.
Den Tod des Polizisten Dieter im Einsatz (Traffik) habe ich oben schon erläutert.

Ein Fanal der modernen Fernsehgeschichte bildet der Mord an D.C.I. David Bilborough in der dreiteiligen Episode Cracker: To Be a Someboy (Für alle Fälle Fitz: Kalte Rache) im Einsatz. Am Ende der zweiten Episode wird Bilborough von Albie Kinsella nach einer Jagd durch Manchesters Hinterhofstraßen erstochen. Die gesamte Wache hört über Funk mit, und kommt doch zu spät. Dadurch entsteht eine Dynamik, die weitere Tode und Verbrechen in den Reihen der Polizisten nach sich ziehen wird.
Rückblickend wird der erste Polizistenmord an DS George "Giggsy" Giggs durch das Liebespaar Sean Kerrigan und Tina Brien in der zweiten Folge zu einem Menetekel, einem bösen Omen. Bilboroughs Nachfolger, D.C.I. Charlie Wise aus Liverpool, folgt ihm schon im Laufe der Ermittlungen und trifft mit DS Jane Penhaligon, DS Jimmy Beck und Fitz an der frischen Leiche ein. Der Kleinkrieg zwischen Penhaligon und Beck eskaliert sprunghaft, als Beck Penhaligon maskiert vergewaltigt. Penhaligons bisheriger Bonus für ihre Beförderung bei ihrem Vorgesetzten hat sich in Luft aufgelöst, bei D.C.I. Wise muß sie wieder von vorn anfangen. Durch ihre Vergewaltigung erlebt sie eine Folge von Traumata: sie erlebt sich als Opfer einer Straftat (das hat Fitz ihr ständig unter die Nase gerieben), niemand glaubt ihr (außer Fitz) und in der Wache begegnet sie dem Täter auf Schritt und Tritt. Sobald Penhaligon Beck entlarvt hat, gerät sein Selbstbild ins Trudeln, Beck versucht, sich durch einen provozierten Unfall umzubringen, was mißlingt. Weil Penhaligon Beck eine Lektion erteilen will, dringt sie in seine Wohnung ein, überfällt ihn und nötigt ihn mit dem Lauf eines Colts.
Beck landet in der Psychiatrie. Penhaligon kann aufatmen.
Daß der entlassene Beck zurückkommt, trifft Penhaligon in der Magengrube: sie muß sich übergeben. Danach legt sie sich optisch eine Rüstung an, bindet ihre Haare streng und schützt sich durch eine dicke Jacke. Es gelingt ihr, D.C.I. Wise zu übertölpeln, indem sie einen gemeinsamen Einsatz mit Beck vorschlägt, bei dem sie Beck überführen will. Doch Beck wittert die Falle und zerschmettert das Aufnahmegerät. Zur Rache ignoriert Penhaligon Becks Hilferufe und läßt ihn krankenhausreif prügeln.
Als der Mörder David Harvey durch seine Frau Maggie Harvey, die sämtliche Verbrechen auf sich nimmt, entlastet wird, spürt Beck seine Machtlosigkeit. Sein Zorn und der Wunsch, seinem Ideal eines guten Polizisten aus der Nachbarschaft gerecht werden zu können, treiben ihn in eine verzweifelte Art der Selbstjustiz. Er verschleppt David Harvey und springt mit ihm vom Dach des Ramada Inn in den Tod, aber nicht, ohne Penhaligon in den letzten Sekunden seines Lebens zu gestehen, daß er ihr Vergewaltiger gewesen ist.

Ein anderes Beispiel aus einem anderen Medium zeigt, daß diese Konsequenzen nicht immer realistisch sein müssen: Alan Moore, Stephen Bissette, Rick Veitch und John Totleben haben Mitte bis Ende der 1980er einen neuen Maßstab gesetzt, indem sie die Prämisse von Swamp Thing konsequent zu Ende gedacht haben.
Aus dem Forscher Alec Holland ist durch das Experiment ein vegetativer Symbiont aus Sumpfpflanzen geworden.
Zum einem weiteren Wendepunkt im Leben des Sumpdings kommt es, als Swampie auf einen Überlebenden des nuklearen Unfalls des Reaktors Three Mile Island trifft. Moore & Co. nutzen die historisch verbürgte Katastrophe in Harrisburg, Pennsylvania (28. März 1979), um das klassische Schema von gutem Superhelden und Superbösewichten aus dem Takt zu bringen - siehe das dritte TPB The Curse (Swamp Thing #35-42/1985)
Denn eigentlich ist Nukeface ein netter Mann, der gern Leuten hilft, die etwas Unterstützung brauchen. Leider ist Nukeface so stark verseucht, daß alle, denen er geholfen hat, kurz darauf verstrahlt zugrundegehen.
Und zunächst sieht es so aus, daß sogar Swamp Thing gegen Nukeface machtlos ist, denn er verkümmert auch. Swampie braucht einige Ausgaben, bis er kapiert, daß er sich regenerien kann. Nach und nach macht er sich mit seiner Fähigkeit vertraut und spürt irgendwann, daß er mehr kann, als sich bloß zu regenerieren: Durch diese Fähigkeit kann er Raum und Zeit überwinden. Bis er sich damit vertraut gemacht hat, bis er diese Fähigkeit als Teil seines Ichs anerkannt hat, durchläuft er eine langwierige und oft auch schmerzhafte Transformation.

Geändert von Servalan (14.02.2020 um 16:19 Uhr)
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Alt 16.06.2015, 16:01   #15  
Schlimme
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Kill Your Darlings - Manchmal ist es bei Serien nötig. Francois Bougeon hat im zweiten Band von "Reisende im Wind" eine Nebenfigur getötet, weil sie zu wirkungvoll war. Sie hätte sonst die Hauptfiguren in den folgenden Alben an den Rand gedrängt.
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