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Alt 28.07.2015, 17:25   #1  
Servalan
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gold01 Kurzgeschichten [Showthread]

Unter dem Motto "Zu schade für die Schublade" eröffne ich hiermit eine Sammlung kleiner Visitenkarten.

Bei Wettbewerben oder Ausschreibungen werden in der Regel unveröffentlichte Texte eingefordert. Damit keine kontraproduktive Konkurrenz entsteht, schlage ich den entgegengesetzten Weg ein.
Selbst wenn der Beitrag dann in einer belletristischen Zeitschrift, einer Anthologie oder auf einer Webseite erschienen ist, hat er höchstens ein überschaubares Publikum erreicht und gilt dennoch als verbrannt.
Wer nicht gerade zu den renommierten Autoren gehört, dessen kleine Werke fallen über kurz oder lang dem Vergessen anheim. Wer nun der Meinung ist, ihr oder seine alte Kurzgeschichte sollte neu entdeckt werden, ist hier richtig.

Die Regeln:
  • Mitmachen dürfen nur verifizierte Mitglieder.
  • Nur die Urheber dürfen ihre eigenen Werke einstellen.
  • Das Werk muß schon einmal veröffentlicht worden sein. Der Hinweis erscheint in der letzten Zeile.
  • Die Veröffentlichung muß mindestens 5 Jahre her sein.
  • Was mit den Werken geschieht, bestimmt der Urheber. Die Werke können jederzeit ohne Begründung gelöscht werden, wenn der Urheber das will. Eine Publikation stellt keine Konkurrenz zu besseren Veröffentlichungen (mit Honorar, als Einzeltitel zum Beispiel) dar.
  • Keine Romane, keine Fortsetzungsgeschichten. Länge: höchstens 50.000 Zeichen (entspricht 3 Posts).
  • Keine Anekdoten, keine Aphorismen, keine Haikus, keine Gedichte. Länge: mindestens 1.000 Zeichen.

Diese Vorlage mag auf den ersten Blick streng erscheinen, aber sie sorgt für Verbindlichkeit und schützt die Urheber.

Geändert von Servalan (20.08.2015 um 18:29 Uhr)
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Alt 28.07.2015, 17:41   #2  
Servalan
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Standard Der Tee des Poe

Der Tee des Poe


Abwarten und Tee trinken, denkt sich der schwindsüchtige junge Mann, als ihn gerade mal wieder die Angst überfällt, lebendig begraben zu werden.
Nur: welchen Tee, um die künstlichen Paradiese zu betreten? Darjeeling ist weit, und seit der Earl Grey 1776 im Hafenbecken landete, zweifelt unser Held an der beruhigenden Wirkung des Gebräus. Die Pforten öffnen, ja, das ist es: die Verbindung von Inspiration mit Transpiration - seine rotgeränderten Augen schauen durch die Butzenscheiben. Revolution in paradise? Nun ja, eine Ein-Mann-Sezession? Das ist die Dinte auf dem Gänsekiel nicht wert - Wien ist noch weiter entfernt als 1863.
Age, XTC? Die Varianten seiner Zeit heißen: Absinth und Laudanum, ach ja, und das Kraut der Eingeborenen: Tobacco. Also nein, und überhaupt: wie eng die Wände seines Verschlages sind: die Mauern einer Zelle, die Bretter eines Sarges. Wer da keine Beklemmungen bekommt, möge bitte einen Schritt vortreten!
Da lacht jemand, bestimmt, er hört es ganz deutlich. Ein rostiges, ein kehliges Lachen, so schwarz wie das Gefieder. In den Bäumen hockt er, der Chor der Zwinkernden, und lacht. Über ihn? Lachen sie ihn aus, die listigen Gesellen, die Nichten und Neffen Hugins und Mugins. Welch eine Schmach! Aber Rache ist ...
Ruhig Blut, denkt sich unser Protagonist, und läßt den spitzen Kiel ins schwere Blut der Erinnerung gleiten, während sich Worte zu Zeilen ordnen, zu den Zeilen eines Gedichts, das in den nächsten Sekunden das grinsende Weiß entjungfern wird.
(März 1998)
  • Britta Madeleine Woitschig: "Der Tee des Poe", in: rorschach. das copyzine der schreibwekstatt 'tintenstrahl' ausgabe zwei april april 1998, Kiel: Schreibwerkstatt 'Tintenstrahl', Auflage: 100 Exemplare

Geändert von Servalan (02.08.2015 um 13:44 Uhr)
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Alt 10.08.2015, 18:21   #3  
Servalan
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Standard Die Gartenlaube

Die Gartenlaube

1
„Übrigens, du bist heute abend, herzlich eingeladen, Harald.“
„Äh? Ja? Vielen Dank … Wozu eigentlich? Etwa ein Grillfest?“
„Daneben. Du darfst nochmal. Kleiner Tip: Ich sitze in der Jury.“
„Du alter Chauvi, dann kann es sich nur um eine Fleischbeschau handeln? Stimmt's oder habe ich recht?“
„Der Chauvi bist du, altes Haus. Rümmlingen im Kniesgau hat inzwischen Anschluß an die Zivilisation gefunden und strengt sich nach Kräften an, die Kulturmetropole im Kniesachtal zu werden.“
„Du und Kultur? Etwa so richtig mit Vernissagen, Theaterspektakeln und Operntenören? Soll ich mich in dir getäuscht haben? Was ist mit deinem Fußball-Kreisligisten und deinem geliebten Kleingarten? Vernachlässigst du die etwa? Oder hast du die aufgegeben?“
„I wo. Aber ich hab doch ein Buch geschrieben ...“
„Ja, Binswangers Herbarium, dein Ratgeber für Gartenfreunde. Was hat das mit der Sache zu schaffen?“
„Deswegen haben sie mich gebeten, in der Jury mitzumachen. Deswegen und weil ich als Kassenführer im Vorstand bin.“
„Nicht so hastig, Alfred. Du redest jetzt vom Schreberverein Kniesachtal, deiner Kleingärtnerkolonie, oder?“
„Wovon denn sonst, Harald?“
„Jetzt kapiere ich: Ihr prämiert den schönsten Garten mit der saubersten Laube und den rechtwinkligsten Beeten.“
„Irrtum, du Banause. Es geht um Literatur.“
„Ah ja. Ich verstehe.“
„Nichts verstehst. Schau es dir an!“

2
Mir schwante Übles.
An sich war Alfred ja in Ordnung; ein lieber, netter Kerl, erdfest verwachsen und mit der zupackenden Hand eines Nebenerwerbsforstwirtes gesegnet; halt ein tatkräftiger Kumpel, der die seltene Gelegenheit genoß, sich über jemanden lustig zu machen, der nicht einmal den Unterschied zwischen einer Tanne und einer Fichte beschreiben konnte. Wir kannten uns schon, als wir in kurzen Hosen solange über die Hänge tollten, bis unsere Eltern, die schon am gedeckten Tisch auf uns warteten, vor lauter Sorgen ungeduldig wurden. Seine Eltern besaßen nämlich eine Pension in idyllischer Lage, in die mich meine Eltern jedes Jahr zu den Sommerferien verschleppten; Familienanschluß, den Gestank aus dem Saustall und das Brennen von Apfelmaische inklusive. Die historischen Ereignisse lagen in der Zeit vor MTV, was es mir ungemein erleichterte, mich über das Landei und seinen hinterwäldlerischen Geschmack lustig zu machen, während er sich über mich arroganten Schnösel aus der Großstadt mokierte, so daß wir uns gegenseitig aufziehen und verarschen konnten – also der typische Anfang einer richtigen Männerfreundschaft, frei nach dem Vorbild von Bogey in Casablanca.
Da uns der Jungbrunnen versagt bleibt, verurteilte uns das Schicksal auf grausame Weise zu Beruf und Familie, weshalb sich unser Kontakt auf banale Grüße zu den jeweiligen Geburtstagen und Weihnachten beschränkte. Erinnerungen an Streiche aus Kindertagen, die wie alte Fotografien allmählich vergilbten und verblaßten, mehr nicht – bis Dinge geschahen, die uns enger zusammenrücken ließen: Nachdem die Fassade meiner Ehe zerbröckelt war und die Beziehungsruine dahinter freigab, kam es vor den Schranken des Gesetzes zum Showdown um die Wohnung in Protzenbüttel, meinen durch rituelle Waschungen an heiligen Tagen von meinen Händen gesegneten Camaro und meine Sammlung langwierig in versteckten Antiquariaten sowie bei seltenen Auktionen ersteigerten Erstausgaben deutscher Literatur aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, um das Sorgerecht für den Pekinesen sowie die Alimentierung unserer beiden Sprößlinge, deren Namen mir im Moment leider entfallen sind, wofür ich um Nachsicht bitte. Alfred hingegen wurde zur selben Zeit auf polizeilich nie geklärte Weise zum Witwer.
Weil ich mich von den Strapazen erholen wollte, die es mich kostete, die Amputation meiner heilen Welt zu ertragen, klingelte ich vor wenigen Tagen bei ihm an, ob ich …
„Nur zu, der Hof ist groß genug.“

3
Neben dem Trachtenverein Kniesachtal, dem sämtliche Broschüren des Touristikverbandes Tieffinsterwalde frisch gewaschen und zackig herausgeputzt auf dem Silberteller präsentieren, also mit der seit Jahren wieder und wieder abgedruckten Fotoserie, die oben am Tennekogel zwischen dem Festzelt und dem vom sauren Regen angeknabberten Wald entstand, und als dessen Hausmeister Alfred sein hauptberufliches Einkommen bezieht, ist der SVK mit seinen Parzellen zwischen der Eisenbahntrasse von Sinzig-Kehlheim nach Kaiserknie-Vogesstuhl und der Mündung der Winzig in die Kniesach unter der Brücke am Tunnel der Umgehungsstraße die am dichtesten geknüpfte Seilschaft der kleinen Gemeinde mit dem Stadttor aus der Zeit Heinrichs des Löwen. Die entsprechenden Honoratioren samt Anhang und Claqueuren bevölkerten dicht jene Holzbankreihen, die sonst zu Volksfesten bei Bier und Schupfnudeln auf der Lichtung oben am Tennekogel ihren Dienst versahen und jetzt in Marschordnung auf dem Asphalt des Parkplatzareals vor dem Vereinsheim aufgestellt worden waren, das den sinnigen Namen Gartenlaube trug und von dem aus die unverkennbaren Hymnen Kniesgauer Bierseligkeit erklangen, die sich aus dem Schalmeiengesang des Chores der Grundschule Rümmlingen im Kniesgau, der Grund- und Hauptschule Sinzig-Kehlheim wie auch der Grund- und Hauptschule Kaiseknie-Vogesstuhl sowie dem Festzug des Trachtenvereins Kniesachtal zusammensetzten; Indizien, die meine Befürchtung nährten.
„Grüß Gott, darf ich dir Harald Mommsen vorstellen, einen alten Freund von mir, Professor für Literatur in Fläzburg. Und dies, lieber Harald, ist Urs Haemmerli jr., der Präsident vom SVK und Bürgermeister von Rümmlingen im Kniesgau in zweiter Generation.“
„Grüß Gott.“ Ich muß zugeben, daß mir diese biedere Floskel Mühe bereitet; trotzdem legte ich mich ins Zeug, um die gebotene Konversation nicht vesiegen zu lassen. „Sind Sie nicht Vorstandsvorsitzender der Württembergischen Waffelwerke in Sinzig-Kehlheim?“ In einer Randnotiz im Wirtschaftsteil der FAZ war mir dieses gebräunte Gesicht eines gelifteten Yuppies schon einmal begegnet, glaubte ich mich zu erinnern.
„Ah nein, da müssen Sie sich irren. Bei den WWW sitze ich im Aufsichtsrat, bei den Adler Uhrenwerken in Kaiserknie-Vogesstuhl bin ich zum Vorstandsvorsitzenden berufen worden“, korrigierte er mich unwissendes Nordlicht lächelnd.
Apropos Adler Uhrenwerke, sollten die nicht in die sogenannte Fernost-Affäre verwickelt sein? Ich entsann mich schemenhaft an Imitate aus Taiwan oder Hongkong, Fernflüge auf Kosten der Landesregierung, außerdem sollte laut TELEFON, einem Enthüllungsmagazin aus meiner Heimatstadt, ein Abgeordneter aus diesem Landkreis in die Affäre verwickelt sein, ein gewisser … wie hieß er denn noch?
„Andres Faischt, ebenfalls in unserer Jury.“
Alfred ließ mir keine Wahl, ich mußte ihm also die Hand schütteln wie dem Wirt des Schwarzen Wolpertinger, der die Viererbande der Jury komplettierte.
„Weißt, Harald – ich darf doch Harald sagen, oder?“ vertraute mir Urs an, nachdem wir es uns bequem gemacht hatten, „Der Andres, der schreibt auch Geschichten. Im letzten Jahr hat er den ersten Preis bekommen, den Gedüngten Sämling. Hier, warte mal, ja, hier hab ich sie. Das sind die drei Hefte der ersten Wettbewerbe. Hier, in der Gartenlaube 1996 muß er drin sein. Da haben wir ihn ja: Korsischer Schafhirte bei Sinzig-Kehlheim von Andres Faischt.“
„Ja, und im Wortbruch wurde das Werk auch gedruckt“, klärte mich Alfred wohlmeinend auf.
„Übrigens, unser Hansdampf in allen Gassen, der Urs, ist Herausgeber und Chefredakteur des Wortbruch.“

4
In dem Glauben, es könne nicht schlimmer kommen, liegt einer der folgenschwersten Irrtümer menschlichen Denkens. Für jemanden wie mich, der sich auf die geschriebenen Wort anderer einläßt, um sich damit den Lebensunterhalt zu sichern, konnte sich der Abend nur als Desaster entpuppen. Angeblich sollen achtundsiebzig Beiträge zum diesjährigen Wettbewerb eingereicht worden sein, von denen die besten – nach dem offensichtlich und selbst für Laien erkennbaren fehlbaren Geschmack der unbeschlagenen Jury, muß hier einschränkend vermerkt werden – mit Präsentkörben, frischem Schinken und Flaschen von Selbstgebranntem prämiert wurden. Ich zögere, in jene Details zu gehen, bei denen ein altes Sprichwort in meinen Augen unvermutete Konturen gewann, verwies es doch auf Böcke, die sich auf das Gärtnern verlegten. Anstatt den Mangel sowohl an Talent als auch an Sprachgefühl unter ein Licht zu stellen, das nur enttäuschende Schatten werfen kann, decke ich doch lieber den Mantel des Schweigens über die folgenden Ereignisse, deren Mittelpunkt die von Kerzen beleuchtete Bühne war, die der Trachtenverein dem SVK gnädigerweise zur Verfügung stellte.
Etwas peinlich ist mir allerdings das Angebot, im nächsten Jahr selbst in der Jury zu sitzen. Aber da ich jedes Jahr einige Monate im geschniegelten Rümmlingen im Kniesgau verbringen möchte, muß ich wohl oder übel in diesen sauren Apfel beißen, den mir außer dem Wirt des Schwarzen Wolpertinger, der auch die Gartenlaube schmeißt, Andres und Urs vor allem Alfred, dieses Schlangenaas, untergejubelt hat.
  • Britta Madeleine Woitschig: "Die Gartenlaube", in: Der poetische Füssling 1999, hrsg. von der Fachschaft Literatur / Germanistik / Medien an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, c/o Institut für Literaturwissenschaft, Kiel: agimos-Verlag 1999, S. 21-27. (Dritter Preis; eingereicht anonym unter Amy N.O. Namy)
Kleine Anmerkung: Wenige Monate vorher brachte Der Spiegel (12/1999) eine Geschichte über Schriftstellerinnen in süffisant-jovialem Tonfall mit einer entsprechenden Bildstrecke (sic!):
Zitat:
Literarisches Fräuleinwunder
Es sind vor allem die jungen Frauen, die in diesem Frühjahr dafür sorgen, daß die deutschsprachige Literatur wieder ins Gespräch kommt. Schriftstellerinnen wie Susanna Grann, Karen Duve und Judith Hermann widmen sich weitaus unverkrampfter der Erotik und der Liebe als ihre verzagten männlichen Kollegen.
Wenn ich die Sache im Rückblick betrachte, wurde die Story getriggert, weil mich mit einem der Namen eine flüchtige Bekanntschaft verband. Einer der Lokalmatadoren der Kunst- und Literaturszene, Arne Rautenberg (Der Sperrmüllkönig. Hoffmann und Campe 2002) hatte in einem Szene-Lokal in Kiel-Gaarden eine Lesung mit vier jungen Autorinnen aus Schleswig-Holstein und Hamburg arrangiert. Bei der Gelegenheit bot mir die damals wenig bekannte Karen Duve nach der Show einen Joint an.

Geändert von Servalan (12.08.2015 um 13:01 Uhr)
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Alt 17.08.2015, 13:18   #4  
Servalan
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Standard Plädoyer für Alexander Brener 1/2

Plädoyer für Alexander Brener


Hohes Gericht! Euer Ehren!
Werte Damen und Herren Geschworene!
Liebes Publikum!

Erlauben Sie mir, Ihnen die Zusammenhänge zu erläutern, die mich dazu veranlassen, heute, an diesem denkwürdigen Tag, dem 24. Februar 1997, jene Worte zu verwenden, die vor knapp einhundert Jahren einer der bedeutendsten französischen Romanciers, der Mittelpunkt der Groupe de Médan, Émile Zola, verwendet hat, um auf die juristische Unhaltbarkeit der Anklage und Verurteilung des Soldaten Dreyfuß aufmerksam zu machen: J'accuse! Jawohl, ich klage an, ich klage Sie an, die Sie meinen Mandanten vor die Schranken dieses Gerichts gezerrt haben. Dreyfuß war unschuldig, er verfing sich im klebrigen Netz einer Intrige aus Feigheit und Fälschung. Wie ich erfreut feststellen kann, stimmen Sie mir zu. Zum jetzigen Zeitpunkt besitzen die Ankläger des Museums zweifellos ein juristisches Fundament, das es ihnen gewährt, meinen Mandanten jenes Verbrechens zu bezichtigen, das ihm zur Last gelegt wird. Die Zukunft wird mir jedoch Recht geben, selbst wenn dieses Gesetz noch nicht verbrieft ist, daß die Begriffe von Kunst einem rasanten Wandel unterliegen, wofür ja schon der Wechsel der Strömungen der Bildenden Kunst im Laufe des vergangenen Jahrhunderts spricht. Jenes Werk, das hier zur Debatte steht, Malewitschs Suprematismus ragt ja selbst als Gipfel aus diesem Packeisgebirge heraus. Werfen Sie meinem Mandanten nur weiter vor, er habe dieses Werk zerstört, dann verkennen Sie, daß die eigentliche Zerstörung, die mangelhafte Beseitigung des angeblichen Schadens, erst jetzt durch die Hände der Restauratoren vollzogen wird. Denn diese tilgen nicht nur ein grünes Dollarzeichen, das mein Mandant bewußt gesprüht hat, nein, vielmehr vernichten sie ein Gemeinschaftskunstwerk zweier Künstler, die über die Epochen hinweg Kontakt aufgenommen haben, deren Rede und Gegenrede, These und Kommentar sich auf einer Leinwand vereinigen. Die wahren Feinde der Kunst sind diejenigen, die sie in einem Dornröschensarg verstecken, sie durch ein Tabu des Berührens und unverschämt hoher Preise verstecken, die den notwendigen Dialog unterbinden, den ein Kunstwerk benötigt, um leben zu können, um überhaupt als Meistewerk wirken zu können!

Ein Kunstwerk, das niemand mehr in Frage stellen darf, kann kein Kunstwerk mehr sein, nicht in unserer Zeit. Verletzt nicht der Umgang mit dem Bild schon die Rechte eines freien Kunstwerkes? Steril, keimfrei, staubfrei, am liebsten fern von Menschen, weil deren Atemluft die Farbpartikel zerstören und die Staubteilchen in der Luft sich als dunkle Schicht auf den Werken ablagern. Wie absurd! Welch versponnene Idee, wahrhaft eines Baron Münchhausen oder eines Thyl Ulenspiegel würdig! Seht wie die Bürger von Schilda ihre Schätze verwalten, sie hocken auf einer verschlossenen und mit sieben Siegeln gesicherten Truhe und wagen nicht, sie zu öffnen. Daß ihre Superbia, ihre Hybris nicht schon längst durch den Olymp bestraft wurde! Wissenschaftler wollen sie sein, aber was sind sie anderes als gemeine Diebe! Ja, ihre Pfründe ist ihnen sakrosant, wehe, die Hände eines einfachen Menschen nähern sich ihnen! Bilder sind wie jedes Artefakt auf den Kontakt mit Menschen angewiesen; auch? nein, erst recht weil es ihren Verlust bedeutet. Was geht denn verloren? Doch bloß die Materie, in die die Gilde der Restauratoren nach Gusto reinpfuschen darf. Lassen wir Kunstwerke altern, Bilder ihre Risse bekommen, befreien wir sie aus dem kryotechnischen Schlaf der Kunstfunktionäre! Aber die Schlafmützen weigern sich zu verstehen, was um sie herum abläuft. Die Objekte der Künstler, was sind sie denn anderes als eine Erweiterung unserer mangelhaften Sinne, Prothesen unserer Wahrnehmung, und eben weil erst die Kunst sie uns zugänglich macht, müssen wir die Kunst nutzen, soll der Schweiß der Wagemutigen nicht vergeblich vergossen worden sein. Daß es uns dabei häufig ergeht wie jemandem, der Zeit seines Lebens blind gewesen ist, und sich jetzt, von einem Moment auf den anderen, in der Welt der Sehenden zurechtfinden muß, erstaunt mich nicht. Durch seine Aktion gab uns der Moskauer Radikale Alexander Brener die Chance, sehen zu lernen! Nur zu, reiben Sie sich Ihre Augen und schauen Sie genau hin, ohne sich von dem hysterischen Geschwafel der Gestrigen blenden zu lassen!

Wie jedes andere Hilfsmittel, wie Brillen oder Möbel, auf dieselbe Weise verschleißen auch Kunstwerke, wenn sie halten, was sie zu versprechen scheinen. Einige von ihnen bringen uns zum Grübeln, sie verstören uns, und erst Generationen später werden wir uns bewußt, was diese Objekte dem Publikum bieten. Sie reifen heran, gären vor sich hin, bis sie ein köstlicher Geschmack sie zu einem Genuß werden läßt, der die Sinne anregt. Aber für die Ewigkeit sind sie nicht bestimmt. Sie haben ihre Zeit, ihre Blüte, nur irgendwann welkt ihr Charme, und sie wirken altbacken. Als Motor des Wandels haben sie ihre Funktion im Gefüge der Gesellschaft. Aber Vorsicht! Wir dürfen sie nicht blockieren, indem wir sie zu ihren eigenen Gespenstern, zu ihren eigenen Vampiren werden lassen. Denn auf die Ideen, die sie für einen gewissen Zeitraum verkörpern dürfen, kommt es an, zum Volumen ihrer Materie geronnen. Wie radioaktives Material verfügen sie über eine Halbwertzeit, in der sie am intensivsten strahlen und in den Regungen des Publikums, einschließlich der Künstler der Gegenwart, ihr Echo finden. Sie hinterlassen Eindrücke, verschaffen Erlebnisse, lassen sich als Spiegel unserer Emotionen deuten, und darauf kommt es letztlich an. Ein Kunstwerk geht erst dann verloren, wenn ihm das Publikum vorenthalten wird, ganz gleich, welche Risiken diese Verpflichtung mit sich bringt. Diejenigen, die es hegen dürfen, sollten sich bewußt sein, was diese Objekte für sich einfordern. Ob durch natürlichen Verfall, durch Krieg oder andere Einflüsse, die die Textur eines Werkes unkenntlich werden lassen, die Spanne ihres Wirkens ist begrenzt und jeder vorsätzliche Verschluß, mag er nun im Tresor eines privaten Sammlers stattfinden oder in den Archiven und Lagern der Museen, verstümmelt diese Objekte nachhaltiger als jener Eingriff, den sich mein Mandant erlaubt hat. Die Kunst- und Wunderkammern der Citizen Kanes dieser Welt platzen aus den Nähten, sie bersten über und sind kaum in der Lage, neue Elemente in sich zu integrieren. Damit amputieren sie die Funktionen der Kunst, bringen den Dialog der Generationen zum Erliegen, indem sie die Gegenwart aussperren. Warum werden Künstler hofiert, sobald ihr Leben endet? Kein unscheinbares Detail, nein, ein systematischer Fehler, der zu bizarren Verzerrungen im Spiegelkabinett der Selbstbeweihräucherer führt.

Die Monumentalwerke etablierter Künstler wie Baselitz oder Lüpertz sind Markenprodukte, die keine Konkurrenz neben sich dulden. Von den Kunstverständnissen dieser Meister abweichende Konzepte werden verhöhnt; statt sich produktiv mit anderen auseinanderzusetzen, werden sie von den Spielmeistern in die Peripherie verbannt und aus dem Markt gedrängt. Die Wände und Flure der Museen sind Territorien und Reviere von röhrenden Platzhirschen, deren Komplexe sich in gepflasterten Quadratmetern ausdrücken. Wer wie die Moskauer Radikalen statt biedermeierlicher Beschaulichkeit die offene Konfrontation sucht, wer die eigene physische Präsenz in die Kunst miteinbringt, wessen eigentliche Spielwiese die absolute Gegenwart ist, der wird ausgestoßen. Der feierliche Ernst der Geschäfte duldet keinen Schweiß, kein Blut und keine Tränen, denn in der Quasi-Religion Kunst wird der echte, unvermittelte Körper ausgeblendet. Doch Rebellen geben sich mit ihren Nischen nicht zufrieden, sie brechen aus dem Dickicht des Alltags aus und werfen uns bei ihren Guerilla-Aktionen ihren Dschungel vor die Füße: unseren Dschungel, den wir Zivilisation nennen, christlich und abendländisch. Ein Geschenk, vor dem wir zurückschrecken. Auch sie beanspruchen ihren Platz im Gemurmel der Stimmen. Wir dürfen ihnen keinen Knebel in den Mund schieben und sie böswillig zum Verstummen bringen! Sicher verstehe ich Ihre Angst, daß ihre spitzen Schreie und ihr zorniges Brüllen in unseren Trommelfellen schmerzen, aber unterschätzen Sie nicht die leise Gewalt sogenannter harmloser Kunstwerke. Jedes Objekt verletzt, während wir den Umgang mit ihm erlernen, es dringt durch seine Forderungen in uns ein. Freuen wir uns auf einen lebendigen Fluß der Kunstwerke durch die Museen, zertrümmern wir die schroffe Eisdecke widerspenstiger Objekte!

Wir befinden uns in der Morgenröte einer neuen Epoche, in einer Zeit des Umbruchs, die uns eine andere Art von Orientierung abverlangt als jene Welt, in der wir gestern noch zu leben glaubten. Die Erkenntnisse der Technik, die aufgestoßenen Türen in die unbekannten Spielräume, mögen sie einige als Fortschritt zum Götzen erheben und andere sie als Fluch verteufeln, so wedelt doch der Besen des Zauberlehrlings in seinen eigenen Bahnen, störrisch und durch niemanden zu bremsen. Was den Menschen möglich ist, werden sie in der Tat umsetzen, von Gesetzen werden sie sich nicht hindern lassen, an Kategorien wie Gut oder Böse werden sich diese Vorgänge nicht messen lassen. So wie ein Wort das andere gibt, koppeln sich die untereinander vernetzten Errungenschaften zurück, sie beschleunigen sich und fordern von uns, sich darauf einzustellen. Wie viele Jahre hat es gedauert, bis die Phantasien eines Jules Verne Realität wurden? Wir sollten uns darauf vorbereiten, denn die Ausblicke von William Gibson und Aldous Huxley sind wesentlich schneller Teil unseres Alltags geworden, als wir es begreifen wollten und als wir es verkraften konnten. Fast beiläufig ist heute die Nachricht durch die Weltpresse gesickert, daß es offiziell möglich ist, Lebewesen zu klonen. Jetzt geben sich die Forscher noch mit Nutztieren zufrieden, aber Leute mit weniger Skrupel werden dafür sorgen, daß nach der In-vitro-Fertilisation und dem Retortenbaby menschliches Leben zu einer von einflußreichen Konzernen patentierten Ware wird, die sich beliebig kopieren läßt! Ich frage Sie, wenn nicht einmal der Mensch selbst seine eigene Individualität vor sich selbst bewahren kann, wird dann nicht die Deklarierung eines Originals in der Kunst zu einer billigen Farce? Was ist überhaupt ein Original? Was unterscheidet es von einer Kopie? Verlangt denn eine Kopie weniger Achtung als ein Original?

Kunst an sich ist allem Aberglauben zum Trotz keineswegs auf ein Original angewiesen, das sich eindeutig bestimmen läßt. Wie die Gebeine in den Reliquiaren so beruht auch dieser Trugschluß auf einem Dogma der Kunstwissenschaft, das mit derselben Vehemenz und Intoleranz gegen Andersdenkende wie die Unfehlbarkeit des Papstes vertreten wird. In der Kunstgeschichte genügt ein Verweis auf Marcel Duchamp, dessen Readymades und objets trouvés sich allein durch eine kryptische Signatur und ihre Ausstellung in Kunsträumen von den banalen Gebrauchsgegenständen unterscheiden, als die sie ursprünglich fabriziert wurden. Die Idee, ein alltägliches Ding aus dem vorgesehenen Rahmen des Benutzers zu lösen, den Gebrauch systematisch zu sabotieren, und die Aktion, ein Zeichen des eigenen Namens auf das gefundene Objekt zu setzen, lassen sich als künstlerische Substanz kondensieren. Doch falls sich kein übermütiger Restaurateur, von seinem auf sein Prestige bedächtigen Direktor dazu vorsätzlich angestiftet, daran wagt, die Filzstriche auf dem Emaille des Porzellans nachzukritzeln, wird der Schriftzug langsam verblassen und irgendwann völlig vom Pissoir verschwunden sein. Wer entscheidet über diesen weitreichenden Eingriff? Welches Veto besitzt der Schöpfer eines Kunstwerkes? Ein Stichwort für Joseph Beuys, der das Wachsen und Werden ebenso wie den Verfall in sein Oeuvre integriert hat, der bewußt auf verderbliches Material wie Margarine zurückgegriffen hat. Wer hier dazwischenfunkt und den Prozeß aufzuhalten versucht, den der Künstler initiiert hat, der ist derjenige, der das Kunstwerk zerstört.

Doch über diesen schmalen Streifen des kreativen Spektrums hinaus wird es lächerlich, an so etwas wie ein Original zu glauben. Was sind Medien anderes als Träger, als Vehikel, die nur so kostbar sein können wie die Fracht, die ihnen anvertraut wird? Als gläserne Wand trennen Moleküle den Schöpfer von seinem Publikum, isoliert sich das Kunstwerk nicht dadurch vom Akt des Werdens? Gleich einem Kind gewinnt es ein eigenes Leben, der Zögling emanzipiert sich, Verlust und Gewinn zu gleichen Teilen. Kunstwerke entschlüpfen ebenso listig der Kontrolle, enthalten sie doch mehr Zeichen, als ihre Schöpfer wahrnehmen können. Wer das verhindern und den Dialog lahmlegen will, stellt die Materie unter seine Käseglocke, in einen Tempel musealer Abgeschiedenheit. Als Unikate unter Denkmalschutz gestellt, befinden sich die Kunstwerke in einer Welt neben der eigentlichen Welt. Jede Kopie wird als minderwertig bekrittelt und aus dem hehren Zirkel der Seilschaften der Verwaltenden ausgesperrt, obwohl gerade sie ein Mittel der Verständigung ist. Statt sich über hochwertige Kopiertechniken zu freuen, mit denen sie auch diejenigen erreichen können, die es nicht wagen, die hohe Schwelle Ihrer Institute zu übertreten, jammern sie, weil sie ihren bildungsbürgerlichen Status als kulturelle Elite gefährdet sehen. Sind die Techniken der Vervielfältigung jedoch erst einmal überholt, sind die beschworenen Originale im Laufe der Geschichte vernichtet worden, erhalten auf einmal die bisher verachteten Kopien, die Kupferstiche und Radierungen, die Lithographien und rohen Skizzen ihre ihnen allzu lang verweigerte Weihe. Den gegenwärtigen Stand der Technik zu würdigen, dazu fehlt diesen Hilfsarbeitern auf ihren majestätischen Thronen die notwendige Kompetenz. Wieviel wissen Sie denn über die Entstehungsweisen der vielfältigen Objekte, mit denen Sie Ihre Besucher konfrontieren? Wieviele Prozesse, wieviele präparierende Verfahren haben denn die vermeintlichen Originale durchlaufen? Was gilt als Vorlage, was als Original und was als Kopie? Ihre haarspalterische Scholastik treibt prächtige Sumpfblüten hervor, die wir beispielsweise in Ausstellungen verfolgen können, die sich mit den Bandes Dessinées oder Comics befassen. Denn auf diesem Feld schöpferischen Treibens sind es die Druckvorlagen, die in prächtigen Inszenierungen präsentiert werden, gleich ob es sich um den Vater der ligne claire, Hergé, oder den Ziehvater der Duck-Sippe handelt. Als ob zunächst nur ausgegrenzt wurde, um später zu vereinnahmen, was mit fadenscheinigen Argumenten verteufelt wurde. Doch die Möglichkeiten, Datenmaterial technisch zu bearbeiten, es zu manipulieren und so Bilder zu erfinden, die eben nicht die Wirklichkeit abbilden, sind ja nichts anderes als eine bestimmte Anordnung von Daten, ein definiertes Feld strukturierter Informationen, und diese Möglichkeiten weiten sich von Tag zu Tag aus. Die Begriffe der Datenautobahn, des Internets und des Modems verblassen zu Allgemeinplätzen, inzwischen gang und gäbe wie Waschmittelwerbung und Autoschlüssel. Laptop und Handy werden in absehbarer Zeit zu einem Medium fusionieren, Mikroprozessoren und neuronale Netze werden unser Leben beschleunigen. Bisher werden künstliche Objekte nur Kranken implantiert, ich erinnere dabei an Herzschrittmacher und künstliche Hüftgelenke, doch die Sender und Empfänger werden auf mikroskopische Maßstäbe schrumpfen, dann ist es nicht mehr weit, bis diese Geräte Teil des menschlichen Körpers werden. Cyborgs erobern die Welt, Mensch und Technik verschmelzen miteinander, und diejenigen, die dies mit wachen Augen und schrägem Blick, halb verängstigt, halb fasziniert verfolgen, das sind Künstler wie Orlan oder Stelarc mit seiner dritten Hand.

Nein! Verschließen wir nicht mehr unsere Augen! Etwas als Original zu bezeichnen, etwas als Unikat zu schützen, dieser Gedanke gehört der Renaissance an, unsere Enkelinnen und Enkel werden uns auslachen, uns verspotten wegen unserer nostalgischen Motive. Was wir heutzutage mitvollziehen, hat sich über Jahrhunderte angekündigt, ist in Generationen herangereift. Unsere multiplizierten Sinne haben gleichgezogen, ja, unsere Prothesen fügen sich ineinander und wachsen zu einem zweiten Körper zusammen, einem Referenzkörper, der auf uns als Individuen verweist und uns gleichzeitig miteinander verbindet, ein ungeheurer Metakörper, der singende Behemoth. Sprache und Schrift als menschliche Erfindungen nehmen wir nicht mehr wahr, so selbstverständlich sind sie uns geworden. Dabei hat selbst das simple Instrument der Schrift eine langwierige Evolution hinter sich und variiert in den Kulturen zwischen phonetischen Zeichen eines Alphabets und Codes aus Symbolen. Die Schrift löste die Worte aus der Gegenwart, aus dem Hier und aus dem Jetzt, ähnlich wie das rituell aufgeladene Bild. Aber mit der Erfindung des Drucks, mit einem Verfahren, Texte in hoher Zahl zu multiplizieren, entfesselt sich das Wort aus der Zwangsjacke der Manuskripte, die in den Klosterbibliotheken von blinden Jorges sorgsam unter Verschluß gehalten wurden. Die Auflagen der Bücher konnten erhöht werden, Flugblätter eigneten sich als Medium in der Fläche, und ein gewaltiger Prozeß setzte ein, der das Weltbild umkrempelte und sich nicht mehr umkehren ließ, geschweige denn unterbinden, so ähnlich wie heute in den elektronischen Medien. Mit Telefon und Radio zog die Stimme des Menschen nach, und jetzt endlich, mit der Fotografie, dem Kino, dem Fernsehen, dem Video und dem Internet holt das Bild, um Jahrzehnte verspätet, den Vorsprung der anderen Prothesen auf. Brechen wir aus unseren autistischen Käfigen aus, nutzen wir den durch die fiktiven Entwürfe der avantgardistischen Medien, des Romans und des Films, geebneten Weg in eine virtuelle Welt. Was uns hier willkommen heißt, ist weder Hölle noch Himmel, sondern ein weiteres Werkzeug, dessen Fähigkeiten und Grenzen allein wir bestimmen. Wie eine Lupe vergrößern sie unsere Potentiale, aber sie werden aus einem Idioten kein Genie machen können, denn unsere kreative Vision liefert den Rahmen jenes Schauspiels, durch das wir das Gesicht der Welt ändern.

Wie ich bemerke, versucht die Vertretung der Anklage, die sich im Vorteil wähnt, meine Arie durch Einsprüche zu bremsen. Lassen Sie sich nicht davon irritieren! Weder habe ich vor, von jener Tat abzulenken, die mein Mandant frei gesteht, obwohl sie ihm zur Last gelegt wird und ihm eine Strafe droht, die sich von niemandem rechtfertigen läßt. Ja, Alexander Brener hat zur besagten Zeit das im Protokoll vermerkte Gemälde des russischen Avantgardisten, das sich im Museum der anklagenden Partei befindet, mit einem grünen Dollarsymbol besprayt. Doch das ist alles andere als eine mutwillige Zerstörung, dieser Akt symbolisiert einen überlegten Dialog, dessen Stil die Wahrnehmung der Ankläger sprengt. Derselbe Akt, vollzogen an einer Kopie im Internet, an einem Poster, an einer Postkarte oder den Seiten eines Katalogs wäre unbemerkt vor sich gegangen. Kopien sind Freiwild, die jedes menschliche Wesen ungestraft manipulieren darf, eben weil sie wertlos sind. Originale hingegen sind die Parias künstlerischer Gestaltung: unberührbare Brahmanen, erst recht wenn sie aus einer anderen Zeit stammen, von einem fremden Künstler, der schon das Zeitliche gesegnet hat. Über die Aussage des potentiellen Zeugen Kasimir Malewitsch könnte das Gericht nur spekulieren, wenn es erlaubt wäre. Daß der kanonisierte Künstler seinen lebenden Kollegen unterstützt und ihm grünes Licht gegeben hätte, diese Möglichkeit existiert nicht einmal in der Vorstellung der Ankläger, sie übersteigt ja deren geistigen Horizont.

Verzeihen Sie mir meine Deutlichkeit,
aber die Sache verlangt drastische Mittel von mir!
Welche Situation ergäbe sich, hätte Alexander Brener ein anderes Werk zerstört,
beispielsweise eines seines vertrauten Mitstreiters Oleg Kulik,
mit der ausdrücklichen Erlaubnis seines Schöpfers?

Die Lage läßt sich noch zuspitzen: Hat mein Mandant die Freiheit, sein eigenes Kunstwerk einem Museum, einer Galerie oder einem Sammler in der festen Absicht zu verkaufen, um es nach Ablauf einer von ihm gesetzten Frist von eigener Hand, für den Besitzer jedoch völlig unvermutet, nach Belieben zu zerstören? Endet die Freiheit eines Künstlers, sobald er sein Werk feilbietet, oder reicht sein Einfluß über die Grenze dieser Sphäre hinaus? Ist dieses listige Verständnis eigener Kompetenz Vandalismus? Oder Betrug? Oder Teil eines künstlerischen Prozesses, der sowohl von dem Opfer als auch von der Justiz anerkannt sein will? Offene Fragen, die gestellt werden wollen, über die in der Gesellschaft diskutiert werden muß.

Geändert von Servalan (17.08.2015 um 15:25 Uhr)
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Alt 17.08.2015, 13:25   #5  
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Standard Plädoyer für Alexander Brener 2/2

Hohes Gericht! Euer Ehren!
Werte Damen und Herren Geschworene!
Liebes Publikum!

Ich danke Ihnen hiermit für Ihre Geduld, bevor ich mein Plädoyer mit der einzigen Forderung schließe, die ich für sinnvoll halte: Ich appelliere an Sie, sich Ihr eigenes Urteil zu bilden. Wägen Sie ab zwischen den Worten des Anklägers und den Argumenten einer advocata diaboli, die ich auf dieser Bühne zu spielen das Vergnügen habe. Denken Sie nach, und Sie werden meinen Spuren folgen, die nur eines zulassen:

Sprechen Sie Alexander Brener frei!
Sprechen Sie die Kunst frei!

(1997)
  • Britta Madeleine Woitschig: "Plädoyer für Alexander Brener", in: Papillon. die neue molli. Politische Zeitschrift für Literatur # 3 (1/99), Bochum: VAPET-Verlag 1999, 115-118
Anmerkung: Zum zeitgeschichtlichen und kunsthistorischen Hintergrund findet sich folgender Beitrag in der deutschen Wikipedia: "Alexander Brener":
Zitat:
1997 wurde er verhaftet, nachdem er im Stedelijk Museum in Amsterdam ein grünes Dollarzeichen auf das Bild Suprematisme von Kasimir Malewitsch malte. Bei der Verhandlung sagte Brener zu seiner Verteidigung:

Das Kreuz ist ein Symbol des Leidens, Das Dollarzeichen ist ein Symbol für den Handel. Humanitär gesehen sind die Ideen von Christus bedeutender als die des Geldes. Meine Tat war nicht gegen das Bild gerichtet. Ich sehe meine Tat eher als Dialog mit Malewitsch.

Er wurde verurteilt und erhielt eine Haftstrafe, während der er sein Werk Obossany Pistolet schrieb und seine Position zu seinen Aktionen zusammenfasst.

Geändert von Servalan (26.08.2015 um 14:44 Uhr)
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Alt 26.08.2015, 14:51   #6  
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Ehrmann Almighurt Mohn-Marzipan 500g

1
„Unterschreiben Sie bitte hier?“
„Oh? Ja! Vielen Dank!“
„Innerhalb von sieben Tagen können Sie die Ware reklamieren.“
„Ist so etwas schon einmal vorgefallen?“
„Wir können nicht ausschließen, daß Teile falsch zusammengestellt werden: hier zu wenige, da zu viele. Aber jetzt ich dringend zu einem Kunden auf den Olymp. Wiedersehen.“
„Ja? Ja! Wiedersehen!“
Das Energiewesen des cps, caos parcel service, verflüchtigte sich und ließ ihn stirnrunzelnd zurück, den Protagonisten der Protagonisten: den Großen Dilettanten von Wolke Sieben. Die Winzigkeit der Wundertüte, die als erbsengroßer Krümel im Sammetschleifchen vor ihm lag, verblüffte ihn. „Ja? Ja!“ Mit tattrigen Fingern zog der vergreiste Lümmel an dem Schleifchen. Vorsichtig – aber nicht vorsichtig genug, denn der Krümel urknallte unversehends und warf ihn auf seinen Hintern. „Ja?“ Selbstgesprächig glotzte der Solipsist den Klotz an, der sich aus dem Krümel entwickelte: einen Suppenwürfel, dessen Kantenlängen der Große Dilettant nicht abzuschätzen vermochte.
Wie es sich für Solipsisten ziemt, schwebte er inspizierend die quecksilbrig schimmernden Kanten entlang. Oben und unten gab es noch nicht, ebensowenig wie Zeit – deshalb erfolgte die Lieferung ja so prompt: sobald er sich etwas vorstellte, nahm dieses Etwas Gestalt an. Eine lästige Eigenschaft, urteilte er; denn er wußte nicht, was er anrichten wollte. „Ja?“ Keine Antwort – verstandlich, er war ja erst dabei, ein Etwas zu schaffen oder zu schöpfen, das sich Leben nannte. Dabei fragte er sich, was der Bote unter Tagen verstand.
„Es wird Zeit“, monologisierte er, und noch bevor seinen Satz ausgesprochen hatte, ward es Zeit. Die sieben Tage Frist liefen nämlich ab. „Oh? Nein!“

2
Die Kanten des Würfels blubberten ihn an, als der Große Dilettant einen seiner Gichthaken hineinstippte, um das Gebräu zu kosten. „Ja?“ Ein Tropfen berührte seine Zunge, doch das reichte schon: „Pfui! Bäh!“ Eine ekelhafte Brühe. Er hätte es sich denken können, war dieser Würfel Ursuppe doch ein mehrdimensionaler Baukasten, mit dem er seine beiden wunderbaren Hobbies verband: Technik und Sex.
Leider fand er in den ersten sechs Tagen keine noch so mangelhafte Gebrauchsanweisung: der übliche Service der Caos SA. Die abstrakten Schlawiner scherten sich nur selten um die Anweisungen ihres besten Klienten, lieber neckten sie ihn mit ihren anarchistischen, selbstähnlichen Präsenten. Also blieb ihm die einzige Möglichkeit, durch die der Große Dilettant sich selbst erschöpfte: die Methode von Versuch und Irrtum.
Inzwischen brach der letzte Tag des Ultimatums an – und nichts war geschehen. Zunächst optimierte er seine Arbeitsbedingungen. „Licht aus! Spot an!“ Dann legte er los. Doch der Zeitdruck beeinträchtigte seine Konzentration, als er die Steinchen der Desoxyribonukleinsäuren zusammensteckte. Was da an komischen Wesen entstand? „Ja? Ja!“ Mehr brachte er an Kommentar nicht zustande.
Die ersten Zellen. Einzeller. Mehrzeller. Trilobiten. Quastenflosser. Echsen. Insekten. Dabei variierte er die Modelle: streckte hier etwas und stauche dort jenes, ab und zu vergrößerte er sie, soweit es das Material zuließ – und amüsierte sich dabei köstlich. Manchmal verlor er den Überblick; und dann begann er, hastig das zu zerlegen, was ihm lästig wurde: auf diese Weise starben die Dinosaurier aus. Er verlor sich so in dem Spiel, daß er dabei vergaß, daß inzwischen seine Reklamationsfrist um die geringe Zeitspanne von einigen Milliarden Jahren verstrichen war.

3
Er empfand es jetzt als angemessen, sein Meisterwerk zu schaffen – leider waren nur noch wenige Teile übrig. Unter seinem Mikroskop betrachtete er das Gewimmel, zwinkerte sich in seinem erblindenden Spiegel zu, und entschied sich dann: „Ja? Ja! Ein Wesen nach meinem Ebenbild, die Krone der Schöpfung. Es wird sich die gesamte Welt untertan machen.“
So griff er sich sechs Beine, den Leib eines Kerbtieres und hauchte ihm seinen dilettantischen Odem ein. Und er ward zufrieden mit seinem Werk, das er mit einem Namen ehrte: „Ich nenne dich Kakerlak! Gehe und vermehre dich!“
Millionen Jahre verrannen, bis der Große Dilettant einen Haufen Bausteine entdeckte, die er übersehen haben mußte. Lustlos pfuschte er in Sekunden den Schrott zusammen, aus dem ein häßlicher Primat entstand. Der Große Dilettant taxierte ihn ein zweites Mal: „Ja? Ja! Wozu sollst du nütze sein?“
So fiel ihm der Kakerlak ein, der sich mühsam durchschlagen mußte. Sollte es sein Liebling nicht leichter haben? Und so beschloß er, den Primaten – „Ja? Ich nenne dich Mensch! Ja!“ – zu befördern: „Und die Aufgabe des Menschen soll es sein, dem Kakerlak seinen Garten Eden zu errichten! So sei es. Ja!“

ENDE
  • Britta Madeleine Woitschig: "Lego®", in: Stefan Lippok / Sabine Lippok (Hrsg.): Wortwahl. Zeitschrift für kreative Literatur Nr. 10 Dez – Feb 1999, Kiel: Faustkeil-Verlag Stefan Lippok 1999, S. 28-29.
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