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Alt 26.10.2022, 12:46   #101  
Peter L. Opmann
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Ich denke, wir müssen uns hier nicht einigen. Ich kann gut damit leben, wenn andere sagen: Mit dem Film kann ich überhaupt nichts anfangen.

Lieber erzählen, was Ihr an anderen Filmen gut findet.

(Du hast recht, daß das Liebespaar Olivier - Monroe eigentlich nicht sehr überzeugend ist, es sei denn man stellt den 50er-Jahre-Rahmen in Rechnung. Aber Marilyn ist nach meinem Eindruck meistens so aufgetreten. Eine ganz andere Rolle hatte sie möglicherweise nur in "Misfits". Warum ist sie immer noch so beliebt?)
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Alt 27.10.2022, 11:35   #102  
Peter L. Opmann
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Kommen wir zu Billy Wilder. Ein Europäer, der von Anfang an nach Hollywood wollte und sich dort tatsächlich vom Drehbuchautor zum Regisseur hochgearbeitet hat. Seine allerersten Filme sind vielleicht noch nicht so gut, aber ansonsten hat er nur Filme gedreht, die alle Klassiker wurden. Ich möchte auf einen eingehen, der jedoch vielleicht doch nicht so bekannt ist. Wie „Sein oder Nichtsein“ ist es ein Anti-Nazi-Film, und es ist auch eine Satire, aber Wilder hat es doch ganz anders gemacht als Lubitsch, für den er anfangs als Drehbuchautor tätig war. Ich rede von „Fünf Gräber bis Kairo“ (1943). Man sollte diese beiden Filme nicht gegeneinander ausspielen, aber Wilder macht die Nazis nicht lächerlich (eher die italienischen Faschisten), und der Film ist dennoch sehr witzig.

Ein britischer Panzer fährt führerlos durch die Sahara; einer seiner Insassen (Franchot Tone) wird hinausgeschleudert. Mit letzter Kraft schleppt er sich zu einer Oase, in der sich ein Hotel befindet. Der Krieg ist in vollem Gange, und die Truppen von Feldmarschall Erwin Rommel rollen das Schlachtfeld vor sich auf. Bald werden sie auch das Hotel erreichen. Der Besitzer und ein Zimmermädchen (Anne Baxter) sind bereits in Deckung gegangen. Sie wollen keinen Ärger und sind nicht begeistert, daß sie nun einem britischen Soldaten einen Unterschlupf bieten sollen. Aber der übernimmt zur Tarnung die Rolle eines Hotelbediensteten, der vor kurzem umgekommen ist.

Bald darauf trifft Rommel (Erich von Stroheim) mit seinem Stab ein und beschlagnahmt das Hotel. Bei ihm ist auch ein italienischer General, der mehr für Verdi-Opern als für den Krieg übrig hat und von den Deutschen nicht für voll genommen und dauernd benachteiligt wird. Es stellt sich heraus, daß Rommel sich mit dem Toten treffen wollte. Er kennt ihn aber nicht persönlich, so daß Tone ihm gegenüber vorgeben kann, dieser Kontaktmann zu sein. Umgekehrt versucht er dahinterzukommen, was Rommel plant. Die Situation ist jedoch für ihn äußerst gefährlich. Das Zimmermädchen, eine Französin, will mit den Deutschen kollaborieren, um ihren gefangenen Bruder frei zu bekommen, und ist bereit, dafür auch den britischen Panzersoldaten zu verraten. Der deutsche Hauptmann, der versprochen hat, ihr zu helfen, will sie aber nur verführen.

Das führt zu einigen Verwicklungen. Zwischendurch wird auch der tote Spion entdeckt. Dennoch gelingt es Franchot Tone herauszufinden, was Rommel vorhat. (Achtung, Spoiler!) Auf seiner Nordafrika-Karte ist da, wo das Wort „E G Y P T“ steht, sein Nachschub im Wüstensand vergraben. Tone kann die Karte rasch abzeichnen, dann wird er von Rommel mit einem Auftrag nach Kairo geschickt. Dort weiht er dann die Briten ein, wie sie die deutsche Armee empfindlich treffen können. Das Blatt wendet sich; die Deutschen müssen sich zurückziehen, Rommel das Hotel verlassen, das nun wieder in die Hände der Briten fällt. Am Ende kehrt Franchot Tone dorthin zurück, um Anne Baxter wiederzusehen, in die er sich verliebt hat. Zunächst trifft er den italienischen General, der gerade mit einer schönen Arie auf den Lippen in Kriegsgefangenschaft geht. Dann erfährt er, daß Baxter nicht mehr lebt – die Deutschen haben sie kurz vor ihrem Abzug umgebracht.

Wer den Film nicht kennt, könnte sich fragen: Was ist daran – abgesehen vom Spiel des italienischen Generals sowie des ängstlichen Hotelchefs (Akim Tamiroff) – eigentlich eine Komödie? Tatsächlich könnte man den Film auch unter Abenteuer, Thriller oder Suspense einordnen. Das liegt daran, wie die Rolle von Rommel angelegt ist. Stroheim stellt ihn intelligent, kultiviert, aber auch gefährlich dar. Jedenfalls vermeidet er die üblichen Nazi-Klischees. Der echte Rommel war einer der wenigen Deutschen, die im Zweiten Weltkrieg Achtung genossen, und ihn umgab sogar ein gewisser Mythos („Wüstenfuchs“). Er wird dadurch aber nicht sympathisch, sondern man nimmt ihn als Gegner ernst. Das gelingt Stroheim in eindringlicher Weise. Die Komödie liegt in den Verwechslungen und dem Kampf zwischen Tone und Baxter. Aber das Grauen des Krieges ist nie weit weg, was der ungewöhnliche, düstere Schluß des Films unterstreicht. Für mich ist „Fünf Gräber bis Kairo“ ein frühes Meisterwerk von Wilder.
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Alt 27.10.2022, 14:14   #103  
Nante
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Mhm, als Komödie hatte ich den eigentlich nicht in Erinnerung. Eher als guten Anti-Nazi-Film. Vor allem der Catch mit den Buchstaben auf der Landkarte fand ich genial, den Rest weniger. Allerdings ist es auch schon Jahrzehnte her, daß ich den Film gesehen habe.

Wilder hat ja speziell in seiner Anfangszeit als Regisseur zeigen wollen, daß er mehr als "nur Komödie" kann. Nicht umsonst kam ja als nächster Film mit "Double Indemnity" ein ganz schwarzer Klassiker.

Aber vielleicht muß ich ihn mir wirklich mal wieder anschauen, denn außer Stroheims Auftritten habe ich wirklich kaum noch was davon im Kopf.
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Alt 27.10.2022, 14:28   #104  
Peter L. Opmann
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Ich würde sagen, es ist wie bei guten frankobelgischen Comicalben (von Hergé, Franquin oder Tillieux): Ein Abenteuerstoff, aber mit lustigen Einsprenkseln und Untertönen. Ich könnte mir vorstellen, Wilder hat sich - anders als Lubitsch - gesagt: Der Krieg ist nichts, worüber man laut lachen sollte, aber es soll auch kein todtrauriges Drama werden.
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Alt 27.10.2022, 19:27   #105  
Nante
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Gut, nachdem Billy Wilder nun schon eingeführt wurde, muß ich wohl doch schon meinen „Wilder-Klassiker“ vorstellen. Eigentlich sind es zwei, aber „Some like it hot“ vorzustellen, hieße ja Eulen nach Athen zu tragen.

Den anderen, nämlich „1-2-3“ habe ich dagegen erst Anfang des Jahrtausends zum ersten mal gesehen. Und wie immer auch da natürlich zufällig und erst mal nur die zweite Hälfte.
Andererseits war das vielleicht auch nicht schlecht, denn auf der DVD, die ich mir dann deswegen zugelegt habe, war dann auch die Original-Fassung. Und die OE-Fassung sollte man sich in diesem Fall auch gönnen. Nur hier kommen viele Gags, die sich aus dem Zusammenspiel der amerikanischen und deutschen Schauspieler in ihrer jeweiligen Muttersprache bzw. dem Germano-Englisch der Deutschen ergeben, erst richtig zum Tragen.

Zum Inhalt: J. Cagney spielt den Leiter der örtlichen Coca-Cola-Niederlassung in (West)-Berlin kurz vor dem Mauerbau. Und im Gegensatz zu seiner Frau genießt er seine Vizekönig-Position in vollen Zügen incl. sehr attraktiver Sekretärin (Lilo Pulver). Sein ganzes Denken kreist um seinen Meister-Coup: Coca-Cola in den Ostblock auszuweiten. Seine Gespräche mit einem russischen Trio (u.a. mit „Sam Hawkins“ Ralf Wolter) , bei dem nie ganz klar ist, wer hier wen überwacht, sind schon recht fortgeschritten.
Sein oberster Boss in Atlanta lehnt den Deal aber ab und verdonnert ihn stattdessen dazu, auf seine Tochter aufzupassen, die gleich in Berlin landen wird. Er macht gute Miene zum bösen Spiel und ist froh, daß sich die junge (und offenbar nicht sehr intelligente) Dame offenbar ganz gut allein amüsiert.

Nach ein paar Wochen allerdings platzt die Bombe. Sie stellt ihm erstens ihren frisch angetrauten „Otto“ (Horst Buchholz) vor, der zweitens knallharter Ostdeutscher Kommunist ist und mit dem sie drittens noch am gleichen Tag nach Moskau abreisen will.
Mit einer improvisierten Intrige und seines Assistenten Schlemmer schafft es Cagney zwar, den unwillkommenen Bräutigam als „Klassenfeind“ von der ostdeutschen Polizei verhaften zu lassen. Aber der nächste Schock folgt: Die Dame ist schwanger und ihre Eltern landen in weniger als einem Tag in Berlin!
Wie Cagney nun den Bräutigam mit Hilfe seiner russischen Kontakte erst aus dem Gefängnis und über die Sektorengrenze lotst und dann den kommunistischen Proleten Otto gegen dessen Willen in einen Dandy mit adligerm Stammbaum verwandelt, kann man nicht beschreiben. Das muss man gesehen haben.
Nur das unvermeidliche Ende, an dem Cagney zugunsten der Familie in der Karriere zurück steckt, mindert für mich den Film etwas. Aber wirklich nur etwas.
Ansonsten lebt der Fim neben dem irrwitzigen Tempo, daß Cagney vorgibt vor allem von dem Zusammenprall von ihm und den als unheilbar kriecherisch dargestellten Deutschen, wobei auch mehr als einmal auf deren nicht ganz rühmliche Vergangenheit angespielt wird. („Was waren Sie im dritten Reich, Schlemmer?“ – „Ich war im Untergrund“ – „Im Widerstand?“ – „Nein, Schaffner bei der U-Bahn.“)

Das der Film im Osten nicht gezeigt wurde, war klar. Aber auch im Westen floppte er eher, was wohl auch aber sicher nicht nur am Mauerbau lag. Der jüdische Emigrant Wilder nahm nun mal keine Rücksicht auf Empfindlichkeiten der Deutschen Wirtschaftswundergesellschaft.
Was mich selbst angeht, ist das in der Chronologie der letzte Wilder-Film, den ich als Klassiker bezeichen würde. Die danach kamen sind auch noch gut bis sehr gut, aber total begeistert hat mich von denen keiner mehr.
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Alt 27.10.2022, 20:49   #106  
Peter L. Opmann
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Danke für den Beitrag, Nante!

Ja, warum wurde "Eins, zwei, drei" kein Erfolg? Was Deutschland betrifft, stimme ich Dir sofort zu, daß die Deutschen einfach zu unvorteilhaft porträtiert werden. Aber warum erging es dem Film in USA genauso? Es erschien wohl auch unvorteilhaft, daß die Amerikaner anscheinend nur ihre Geschäfte im Kopf haben, wo es doch um den - auch moralischen - Konflikt zwischen West und Ost ging.

Heute spielt das alles keine Rolle mehr. Man erkennt mit etwas Abstand, daß er zeigt, daß jegliche Ideologie durch menschliche Schwächen untergehen muß. Sehr scharfsinnig. Ich hoffe nur, daß sich diese Weisheit auf Putins Rußland und Xis China irgendwann auch anwenden läßt.

Das Urteil, daß das Wilders letzter guter Film war, finde ich hart - aber es sei Dir natürlich unbenommen. Ich würde zumindest "Irma la Douce" und "Der Glückspilz" noch gelten lassen. Und zudem gefallen mir auch noch die Remakes "Extrablatt" (Journalismus!) und "Buddy Buddy" - ich finde, Lemmon und Matthau schaffen es, daß der Film zumindest mit Ach und Krach an "Die Filzlaus" herankommt.
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Alt 27.10.2022, 20:57   #107  
Nante
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Ich habe ja geschrieben, daß auch danach noch gute Filme kamen.
Aber es waren eben keine mehr, die Maßstäbe gesetzt haben, wie "Some like it hot" und "1-2-3" für die Komödie, "Zeugin der Anklage" für ein Gerichtsdrama oder auch "Das Appartement" als Mileuschilderung des kleinen Angestellten.
"Irma La Douce" hat sicher auch das Zeug zum Klassiker, aber hier stört mich einfach diese überdeutliche Studio-Atmospäre.
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Alt 27.10.2022, 21:42   #108  
Peter L. Opmann
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Also, da habe ich Dich etwas mißverstanden. Aber es erhebt sich wieder die Frage: Was ist hier ein Klassiker?

Ich lege da jedenfalls weniger strenge Maßstäbe an. Weil man eben nie objektiv sein kann und persönliche Vorlieben immer eine Rolle spielen. Ich hätte kein Problem damit, auch "Extrablatt" als Klassiker vorzustellen, obwohl dieses Attribut sicher eher dem Original von Howard Hawks ("His Girl Friday") zusteht. Aber das ist auch ein Film, den ich mir immer wieder anschauen kann - auch wenn der gar kein so schönes Bild der Journalistenzunft entwirft.
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Alt 28.10.2022, 06:04   #109  
Nante
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Zitat:
Zitat von Peter L. Opmann Beitrag anzeigen
Aber es erhebt sich wieder die Frage: Was ist hier ein Klassiker?
Die Antwort muß jeder für sich selbst finden; - sonst könnten wir den Thread ja gleich wieder zu machen.
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Alt 28.10.2022, 06:54   #110  
Peter L. Opmann
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Also mal sehen, ob uns das gelingt...

Da eben von Jack Lemmon die Rede war, stelle ich jetzt einen Film vor, in dem er einmal eine ausgesprochen ernste Rolle gespielt hat: „Vermißt“ von 1982. Unter dem Aspekt des Klassikers hätte ich vielleicht eher „Z“ vom selben Regisseur, Constantin Costa-Gavras, auswählen sollen. Aber ich habe diesen Film gesehen, als ich für seine Botschaft wie auch seine Machart sehr empfänglich war („Z“ erst einige Jahre später). Er hat auch ein paar unbestreitbare Vorzüge.

Es ist eine dokumentarisch angelegte Geschichte aus der Zeit (1973/74), als die linke Regierung Chiles von dem Diktator Augusto Pinochet gestürzt wurde. John Shea spielt einen jungen Amerikaner mit sozialistischen Idealen, der in Santiago mit Freunden eine Kommune gegründet hat. Er bekommt den Umsturz hautnah mit, als er mit einer Besucherin durch das Land reist. Ein US-Colonel hilft ihnen, trotz des verhängten Kriegsrechts wohlbehalten nach Santiago zurückzukehren. Shea fragt sich allerdings, was der Militär in dieser Situation überhaupt in Chile zu suchen hat. Er macht sich Notizen, auch wenn seine Bekannte ihm rät, das lieber bleiben zu lassen.

Wenige später geht seine Frau, gespielt von Sissy Spacek, eine Freundin besuchen. Als sie zurückkehrt, ist ihre Wohnung verwüstet, und Shea ist weg. Sie stellt bei der örtlichen Polizei Nachforschungen an, aber niemand scheint etwas über seinen Verbleib zu wissen. Schließlich ruft sie seinen Vater in den USA an (Jack Lemmon) und bittet ihn, ihr zu helfen. Er reist sichtlich unwillig und mit der Vorstellung an, er müsse nur bei den Behörden seinen Einfluß als Amerikaner geltend machen, um seinen Sohn aus der mutmaßlichen Haft freizubekommen. Lemmon ist absolut überzeugter Amerikaner und denkt, sein mißratener Sohn habe sich seine Schwierigkeiten selbst eingebrockt. Spacek verteidigt ihren Mann, aber von ihr hat er auch keine sehr hohe Meinung.

Zu Lemmons Überraschungen führen auch seine Ermittlungen zu überhaupt nichts. Sogar der US-Botschafter, zu dem er politische Kontakte hat, beteuert zwar, er werde alles tun, um Shea wiederzufinden, aber wochenlang gibt es null Ergebnisse. Freunde von Shea berichten, wie sie inhaftiert wurden und ihren Tod vor Augen hatten, dann aber doch glücklich freikamen und ausreisen konnten. Was Spacek schon früher befürchtet hat, zieht nun auch Lemmon in Erwägung: daß sein Sohn in den Wirren des Militärputschs umgebracht wurde und die Sache nun vertuscht werden soll. Er glaubt allerdings nicht, daß auch sein eigenes Land da die Finger im Spiel hat.

Unermüdlich suchen Lemmon und Spacek Gefängnisse, Krankenhäuser, Flüchtlingslager und alle Einrichtungen, in denen sich Shea befinden könnte, ab. Dabei bekommen sie tiefe Einblicke in die schlimmen Zustände, die im Land herrschen (wobei unterstellt wird, daß das Leben in Chile unter dem linken Präsidenten Allende wunderbar war). Ein Freund, der angeblich das Land verlassen hatte, taucht als Leiche auf. Eine US-Journalistin bringt Lemmon und Spacek schließlich mit einem Gewährsmann zusammen, der miterlebt hat, daß Shea wegen seiner Aufzeichnungen, die die USA als Pinochet-Helfer enttarnten, hingerichtet worden ist. Er fügt hinzu, die Chilenen hätten das nicht gewagt, wenn nicht die USA ihr Okay dazu gegeben hätten. Wir sehen, wie sich Lemmon im Verlauf der Suche verändert. Insbesondere verbessert sich sein Verhältnis zu seiner Schwiegertochter deutlich.

Der Botschafter bittet Lemmon und Spacek noch einmal zu sich, um ihnen eine gute Nachricht zu verkünden: Er habe nun erfahren, daß Shea in die USA zurückgekehrt sei und bald mit seiner Frau und seinem Vater Kontakt aufnehmen werde. Lemmon bedeutet ihm, er wisse inzwischen, was aus seinem Sohn geworden ist, worauf der Botschafter plötzlich umschwenkt und sagt, es gehe um amerikanische Interessen, um den american way of life; deshalb seien die USA in Chile engagiert. „Wenn es sich nicht zufällig um Ihren Sohn handeln würde, würden Sie doch satt und selbstzufrieden in Ihrem Sessel sitzen“, fügt er hinzu. Dem Film liegt ein realer Fall zugrunde, und am Ende wird noch mitgeteilt, die Leiche des Sohnes sei erst Monate später in die USA überführt worden, so daß eine genaue Autopsie und die Rekonstruktion, wie er umgekommen ist, nicht mehr möglich war. Der Vater habe die US-Regierung und speziell Außenminister Henry Kissinger verklagt, weil sie die Ermordnung eines amerikanischen Staatsbürgers zugelassen hätten – erfolglos.

Wer sich mit dem Vietnamkrieg befaßt hat, hätte schon während des Films darauf kommen können, wie er vermutlich ausgehen wird. Dafür war ich aber zu jung. Der Film wurde übrigens von Universal produziert – also die USA hatten mit der Story offensichtlich auch kein Problem mehr. Aber die Leistung von Lemmon und auch von Spacek ist beachtlich, und rein formal ist das Drehbuch sehr geschickt strukturiert. Man bekommt durch den Ablauf der Ereignisse einen immer besseren Einblick in die Probleme von Chile (wobei das natürlich ein Spielfilm und keine echte Dokumentation ist). Mich packte der Film auch bei meinem moralischen Gewissen, und das gelingt ihm mit Abstrichen auch noch, wenn ich ihn mal wieder sehe.
Peter L. Opmann ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.10.2022, 17:32   #111  
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Ja, an den kann ich mich auch erinnern. Lief auch in der DDR im Kino und wurde auch sehr gelobt. Vielleicht neben einer gewissen "Chile-Müdigkeit" damals der Grund, weswegen ich ihn nicht in besonderer Erinnerung habe. So richtig hängen geblieben sind eigentlich nur die Szenen im Nationalstadion und der Streit zwischen Lemmon und Spacek.

Komischerweise ist es bei einem ähnlich ambitionierten Film aus dieser Zeit ganz anders: "Under Fire" mit Nick Nolte. Liegt vielleicht auch nur daran, daß dort etwas mehr "Egdschn" drin war.
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Alt 28.10.2022, 17:54   #112  
Peter L. Opmann
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"Under Fire" habe ich leider nicht gesehen. Ich habe mir eben den wikipedia-Eintrag durchgelesen. Im Unterschied dazu (und auch zu "Salvador" und "Ein Jahr in der Hölle") ist Charles Horman (John Shea) glaube ich kein richtiger Journalist. Er ist jedenfalls nicht mit dem Ziel unterwegs, einen Skandal aufzudecken. Er lebt als Salon-Sozialist in den Tag hinein. Deshalb weiß er auch nicht, in welche Gefahr er sich begibt.

Ich war damals auch nicht deshalb im Kino, weil ich mir einen Polit-Thriller ansehen wollte. Ich hatte keine Ahnung, was für eine Art Film das ist. Jack Lemmon war mir schon ein Begriff. Der Film wirkt wohl besonders stark auf Zuschauer wie mich, die anfangs denken: Es kann doch nichts Schlimmes passiert sein, oder?
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Alt 29.10.2022, 07:53   #113  
Peter L. Opmann
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Diesen Film habe ich etwa 1984/85 im Fernsehen gesehen: „New York City Girl“ (1982), ein Frühwerk von Susan Seidelman. Ich habe ihn gut im Gedächtnis behalten, weil er für mich, ähnlich wie „Vermißt“, schwer einzuordnen war. Ich habe den Verdacht, daß ich ihn aus dem falschen Blickwinkel gesehen habe, nämlich dem des Jungen. Für Seidelman war es aber ein Film über die Selbstbestimmung von Frauen. Die Herangehensweise ist auch irgendwie dokumentarisch und ziemlich unparteiisch.

Ich glaube, am Anfang sehen wir, wie eine junge Frau aus New Jersey (Susan Berman) durch NY streift und überallhin Blätter mit ihrem Konterfei und dem Text „Who’s that Girl?“ klebt. Sie will nämlich in der Musikszene der Stadt bekannt werden. Die Geschichte beginnt aber erst richtig, als sie auf einen Wohnwagen stößt, in dem ein Junge aus dem amerikanischen Westen lebt. Für ihn ist NY nur eine Durchgangsstation; er will nach New Hampshire (ein kleiner Bundesstaat an der Ostküste nahe der kanadischen Grenze). Als er sie kennenlernt, beschließt er, etwas länger zu bleiben. Es wird schnell klar, daß sie schlecht zusammenpassen. Er ist ein ruhiger Typ, der aber weiß, was er will. Er malt ein bißchen. Sie ist hektisch und schrill (ein Punkmädchen), impulsiv und völlig unorganisiert. Trotzdem interessieren sich beide ein wenig füreinander und wollen es einmal miteinander versuchen.

Es kommt, wie es kommen muß: Sie trifft bald darauf einen Rockmusiker (dargestellt von Richard Hell), dessen Karriere etwas ins Stocken geraten ist, für den sie jedoch den Jungen schnell stehenläßt. Das tut ihm weh, er ist aber nicht in der Lage, aus der Haut zu fahren, und nimmt seine Abservierung hin. Der Musiker ist allerdings verheiratet, was für sie bedeutet, daß sie mit seiner Frau in die Haare gerät. Dann muß sie seine Wohnung verlassen, aber nicht wegen der Ehekonflikte, sondern weil er seine Miete nicht bezahlt hat. Sie muß nun wieder irgendwie allein in New York überleben. Da sie dabei aber nicht viel Glück hat, kehrt sie schließlich zu dem Wohnwagen-Boy zurück, der sie auch großzügig wieder bei sich übernachten läßt.

Nach wie vor interessiert sie sich aber mehr für den Rockmusiker. Beide beschließen, nach Los Angeles zu gehen, sobald sie das nötige Geld beisammen haben. Das beschaffen sie sich, indem sie einen Mann ausrauben. Dann kann’s losgehen. Sie muß nur nochmal kurz zurück zum Wohnwagen und ihre Sachen holen. Anschließend stellt sich heraus, daß Richard Hell bereits ohne sie, aber mit dem ganzen Geld nach LA aufgebrochen ist. Unsere Heldin möchte nun ernsthaft zu dem Country-Boy zurückkehren, aber da stellt sich heraus, daß er inzwischen seine Reise nach New Hampshire fortgesetzt hat (nachdem er ziemlich lange vergeblich auf sie gewartet hatte). Er ist weg, nur sein Wohnwagen ist noch da, den er zu Geld gemacht hat. In dem Van findet sie ein Gemälde von ihm mit ihrem Porträt – ein Zeichen, daß er sie wirklich geliebt hat. Aber zu spät - sie wird nun ihr Leben so unstet fortsetzen, wie wir das von ihr kennen.

Das entsprach so ziemlich den Erfahrungen, die ich damals mit Frauen gemacht habe. Verblüfft hat mich an dem Film aber, daß er praktisch ohne Dramaturgie auskommt. Es war möglicherweise der erste Independent-Guerilla-Film, den ich gesehen habe. Alles an der Handlung ist zufallsgeboren. Ich kann mir gut vorstellen, daß direkt auf New Yorker Straßen gedreht wurde. Insgesamt fand ich den Film sehr spannend. Vor allem Susan Bermans Spiel bleibt für mich unvergeßlich. Vielleicht hat sie einfach sich selbst gespielt, aber das sehr überzeugend. Wer Richard Hell ist, wußte ich damals sehr wahrscheinlich noch nicht. Ebenso war der Blick auf New York und seine Musikszene am Ende der Punkära eine völlig neue Erfahrung für mich. Seidelmans bekanntere Filme „Susan… verzweifelt gesucht“ und „Making Mr. Right“ habe ich auch gesehen; sie sind mir aber nicht so im Gedächtnis geblieben. Später habe ich ihr filmisches Werk aus den Augen verloren.
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Alt 30.10.2022, 06:20   #114  
Peter L. Opmann
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Es wird Zeit, daß ich mich dem Werk von Alfred Hitchcock nähere – dem „Archipel Hitchcock“, wie Hans C. Blumenberg mal formulierte. Lange Zeit war mein Lieblings-Hitchcock „Berüchtigt“, und ich hätte ihn beinahe ausgewählt wegen der eigentümlichen Schurkenrolle von Claude Rains, der mir danach noch öfter als sanfter Bösewicht aufgefallen ist. Aber ich habe doch Zweifel, ob die Liebesgeschichte zwischen Cary Grant und Ingrid Bergman, das Drama mangelnden Vertrauens, nicht inzwischen etwas unzeitgemäß ist. Deshalb habe ich mich für „Die 39 Stufen“ (1935) entschieden, ein früher Suspense-Film von Hitch; manche sagen sogar, er habe mit diesem Film das Genre erfunden.

Vorab möchte ich bemerken, daß es meines Wissens keinen anderen Hollywood-Regisseur gibt, der so wie er zwar geschätzt, aber doch für einen reinen Filmhandwerker ohne höhere Ansprüche gehalten wurde, bis ihn ein paar französische Kinoenthusiasten - allen voran Francois Truffaut – zum Filmkünstler par excellence erhoben. Peter Bogdanovic versuchte ähnliches mit John Ford, John Carpenter mit Howard Hawks, Wim Wenders mit Nicholas Ray und Rainer Werner Faßbinder mit Douglas Sirk, aber daß sich das Image eines Regisseurs in der filminteressierten Öffentlichkeit so sehr änderte, hat es wohl nicht noch einmal gegeben.

Natürlich gibt es viele Hitchcock-Filme, die eine Betrachtung wert wären, aber ich mußte mich für einen entscheiden, und ich finde, sein Schaffen vor seiner Zeit in Hollywood wird etwas unterschätzt und zu wenig beachtet. „Die 39 Stufen“ ist eine ganz seltsame Mischung aus Thriller, Kriminalfilm, Romanze und Komödie, die ihm dann noch einige Male geglückt ist. Kennzeichnend ist auch das Drehbuch, das einige ziemlich unwahrscheinliche Ereignisse aneinanderreiht; es ist aber nicht schlampig geschrieben, sondern die Handlung ist so angelegt, daß immer maximale Spannung entsteht, und man muß als Zuschauer genau aufpassen, was daran unglaubwürdig ist. Hitchcocks bekanntester Film, der dem Rezept von „Die 39 Stufen“ folgt, ist wohl „Der unsichtbare Dritte“, den ich mir auch immer wieder mal mit großem Vergnügen ansehe.

Zur Handlung: Robert Donat lernt eine englische Spionin kennen, die schon bald ermordet wird, ihm aber noch verrät, daß sie gegen eine ausländische Geheimorganisation kämpft, deren Anführer ein Fingerglied fehlt. Donat wird zu Unrecht als Mörder verdächtigt und beschließt, selbst den Spionagering auffliegen zu lassen, auch um seine Unschuld zu beweisen. Er reist per Zug von London nach Schottland, wo er laut der Spionin einen Helfer finden kann. Als die Polizei die Waggons durchsucht, hilft ihm eine geheimnisvolle Schönheit (Madeleine Carroll), die ihn dann auch auf der weiteren Reise begleitet. Er trifft den vermeintlichen Verbündeten, einen honorigen Professor, entdeckt aber eben noch rechtzeitig, daß ihm ein Stück seines kleinen Fingers fehlt, er also der Kopf der Geheimorganisation ist, und kann fliehen.

Er gerät in eine Veranstaltung, wo er irrtümlich für den erwarteten Vortragsredner gehalten wird. Schlagfertig geht er tatsächlich auf die Bühne und gewinnt das Publikum für sich. Da taucht aber Madeleine Carroll mit Polizisten auf, die ihn verhaften. Sie hält ihn inzwischen auch für schuldig. Allerdings sind es keine echten Polizisten, sondern Mitglieder des Spionagerings. Donat und Carroll werden mit Handschellen aneinander gefesselt. Donat kann zwar erneut fliehen, aber er bleibt an Carroll gekettet. Er versucht, ihr klarzumachen, daß er mit der Verschwörung nichts zu tun hat, sondern nur zufällig hineingezogen worden ist. Nach einigen Verwicklungen kann er sie endlich davon überzeugen.

Nun sind Donat und Carroll zurück in London. Sie wissen, daß während einer Veranstaltung Geheimdokumente an den „Professor“ übergeben werden sollen, aber Donat rätselt, wie das vor sich gehen soll. Attraktion des Abends ist ein Gedächtniskünstler, und Donat wird endlich klar, daß der die brisanten Informationen auswendiggelernt hat. Es kommt zum Showdown, bei dem der Gedächtniskünstler erschossen, aber der „Professor“ festgenommen wird. Donat und Carroll sinken einander in die Arme.

Jemandem, der „Die 39 Stufen“ nicht kennt, kann ich nachfühlen, wenn er sagt: Wie soll ein so alter Film heute noch Spannung erzeugen? Doch ich würde sagen, durch die atemlose Abfolge von Bedrohungen, Enttarnungen und Verfolgungen wird dem Zuschauer kaum bewußt, daß er so alt ist. Teilweise ist er im Stil des Film noir gedreht. Natürlich fahren die Leute mit Oldtimern herum und sind nicht ganz zeitgemäß gekleidet (obwohl: Es ist England). Aber ich finde, Hitchcock abstrahiert so sehr von der Kulisse, daß das nicht stört. Die Mischung aus Spannung und Komik, die hervorragend gelungen ist, tut ein Übriges, daß der Film immer wieder seine Wirkung entfaltet.
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Alt 30.10.2022, 07:08   #115  
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Ich kenne in diesem Fall nur das Remake von Don Sharp. (Mit dem Harold-Lloyd-Moment am Zifferblatt von Big Ben) Ja, eigentlich sollte man sich auch das Original mal anschauen.

Zitat:
Natürlich gibt es viele Hitchcock-Filme, die eine Betrachtung wert wären, aber ich mußte mich für einen entscheiden
Warum? Hier geht es doch um KLASSIKER. Und da ist der gute Alfred doch wirklich für mehr als einen gut, oder?
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Alt 30.10.2022, 07:40   #116  
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Alt 30.10.2022, 11:28   #117  
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Gut, dann bis dahin auch von mir ein Film aus den 30ern.
Mein Klassiker von S. Eisenstein ist weder „Panzerkreuzer Potjomkin“ noch „Iwan Grosny“ sondern sein „Alexander Newski“ von 1938 über den gleichnamigen russischen Nationalheiligen.

Obwohl von Anfang bis Ende ein reiner Propagandafilm, bei dem die Geschichtklitterung buchstäblich im ersten Satz beginnt ist es gleichzeitig großartig gemachte Unterhaltung, bei der sich aus künsterischer Sicht Elemente von Stumm-und Tonfilm verbinden und auch die Musik eine wichtige Rolle spielt.

Der Film beginnt in einem Zusammentreffen des durch Intrigen „der Reichen“ aus Nowgorod vertriebenen und das "einfache Landleben" genießenden Alexander mit einem hohen Beamten der goldenen Horde, der Russen in die Sklaverei verschleppt. Die Darstellung der Mongolen unterscheidet sich hier kaum von der der Hunnen in F. Langs "Nibelungen".
Alexander und der Gesandte unterhalten sich von gleich zu gleich und der Held lehnt ein Angebot ab, in tatarische Dienste zu treten. Ebenso unterbindet er Versuche seiner Leute, die Sklaven zu befreien, denn die Tataren müsse man sich für später aufheben. Jetzt seien die Deutschen die gefährlicheren Feinde, denn sie strebten nicht (nur) nach Sklaven sondern vor allem nach der „heiligen russischen Erde“.

In Nowgorod hat sich inzwischen „das Volk“ gegen die wankelmütigen „Oberen“ durchgesetzt und nach der Nachricht von der Eroberung Pskows durch die Deutschritter ruft man Alexander zurück, um mit ihm gegen die Eroberer zu Felde zu ziehen. Der Patriotismus erfaßt Männer, Frauen und Kinder und nur einige wenige, die sich bald als Verräter entpuppen, bleiben abseits.

Eingebettet in diese Story ist das Werben zweier typisch russischer Recken um eine junge Frau, die schließlich verspricht, den tapfersten zu heiraten. (Nehmen wir es vorweg: Beide vollbringen übermenschliches im Kampf, überleben auch beide, wenn auch arg blessiert. Und der „Verlierer“ hat inzwischen sein Herz an ein verkleidetes Mädchen unter den Kämpfern verloren. Also happy End!)

Vorher aber werden wir Zeuge, wie grauenvoll und brutal die Deutschritter im eroberten Pskow hausen. Eisenstein kommt hier fast ohne Text aus, allein die Bilder im Zusammenspiel mit der Musik reichen.

Den Höhepunkt bildet natürlich die legendäre Schlacht auf dem Eis. Auch hier sind wieder die an Ballett erinnernden Bilder und die Musik von S. Prokowjew entscheidend.

Natürlich gewinnen die Nowgoroder am Ende und die Feinde und Verräter werden bestraft. Allerdings nicht, ohne daß einer von letzteren die zu große Arglosigkeit eines tapferen Kämpfers ausnutzt und ihn ermordet. Dem verräterischen Klassenfeind ist eben in keiner Sekunde zu trauen! Der Film entstand nicht umsonst auf dem Höhepunkt der großen Säuberungen 1937/1938.

Am Ende hält Newski eine Rede, deren finale Warnung vom großen Führer der Werktätigen selber stammen könnte: Wer in Frieden zu uns kommt, darf mit uns feiern. Wer mit dem Schwert kommt, wird dadurch umkommen. – Ich weiß nicht, ob Hitler den Film je gesehen hat…

Neben den eindeutigen Bezügen auf die Nazis und die deutsche Wehrmacht (Gestaltung der Helme!) fiel mir vor allem noch das Spiel von Nikolai K. Tscherkassow in der Rolle des Titelhelden auf. Seine herrischen Gesten und das entschiedene Auftreten wirken schon wie eine Einstimmung auf seine Paraderolle in Eisensteins Spätwerk „Iwan Grosny“.
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Alt 30.10.2022, 14:40   #118  
Peter L. Opmann
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Du hättest ruhig auch etwas über einen Hitchcock-Film schreiben können.

Aber ich habe das Gefühl, die Generation vor Hitchcock (Griffith, Eisenstein) liegt Dir noch mehr am Herzen.

Ich habe natürlich "Panzerkreuzer Potemkin", aber sonst nichts von Eisenstein gesehen. Ich könnte höchstens noch mit Pudowkins "Sturm über Asien" dienen.

Aber ich find's gut, daß ich hier auf Filme aufmerksam werde, die ich noch nicht kenne. So kann's weitergehen!
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Alt 30.10.2022, 14:55   #119  
Nante
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Ja, "Sturm über Asien" habe ich (in der DEFA-Fassung) noch zu DDR-Zeiten mal gesehen. Damals aber eher achselzuckend hingenommen, weil es irgendwie alles so unreal wirkte. - Später habe ich mich dann aber gefragt, inwieweit das ganze auch eine Reaktion auf das Treiben des Baron von Ungern-Sternberg damals in Sibirien war. Und nachdem ich letztes Jahr auch den entsprechenden Coro-Maltese-Band gelesen habe...
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Alt 30.10.2022, 15:15   #120  
Peter L. Opmann
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Ich hatte das Gefühl, "Sturm über Asien" sei ziemlich dokumentarisch. Haben da nicht echte mongolische Nomaden mitgewirkt?

Dummerweise habe ich die DVD nicht mehr. Ich habe sie einem Freund geliehen, der wenig später umzog und sie nach dem Umzug nicht wiederfand.
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Alt 30.10.2022, 15:29   #121  
Nante
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Tja, 3x umgezogen = 1x abgebrannt.

Mit "unreal" meine ich die Grundprämissen des Films.
Einmal waren im Gegensatz zu den Amis und vor allem den Japanern die Engländer damals dort kaum präsent.
Und dann dieses Amulett oder was es war, daß ihn als Nachkommen Dschingis-Khans ausweist (wenn ich mich recht erinnere, hatte er das Ding ja auch nur jemand anders in einem Handgemenge abgenommen). Das war zwar noch vor den Erkenntnissen der Genforschung, aber das der alte Mongole unzählige Nachkommen hatte, was nicht automatisch zum Herrschen qualifizierte, wußte auch so ein kleiner Ossi-Teenager wie ich schon. (Der Mongolen-Trilogie von W. Jan sei Dank! )
Aber großartig gedreht war er schon, das stimmt. Vor allem die Schlußszene, die den "Sturm" verkörpert, war recht beeindruckend.
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Alt 30.10.2022, 15:48   #122  
Peter L. Opmann
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Stimmt, ich glaube, mein Freund hat mich auch darauf aufmerksam gemacht, daß die Engländer hier als der große Feind aufgebaut werden, historisch aber eine viel kleinere Rolle gespielt haben. Oder es stand auf der DVD-Hülle. Aber mein Freund kommt auch aus der DDR und könnte das gewußt haben.

Ändert aber nichts an der Großartigkeit des Stummfilms.
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Alt 31.10.2022, 06:58   #123  
Peter L. Opmann
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Jetzt mal ein Film, den nach meiner Erfahrung kaum jemand kennt: „Der Schuß von der Kanzel“ (1942). Nicht, daß ich mir viel darauf einbilde; ich schätze, dieser Film lief mal im heimatliebenden Bayerischen Rundfunk, auch wenn es eine Schweizer Produktion ist. Manch einem wird zumindest der Titel bekannt vorkommen. Es ist die Verfilmung einer Novelle des Schweizer Dichters Conrad Ferdinand Meyer (1825 – 1898). Der Film unterscheidet sich in ein paar Punkten von der Vorlage. Die religions- und kirchenfeindliche Haltung Meyers wird etwas entschärft. Andererseits wird der Abschnitt, der die Kriegsvorbereitungen des Generals Werdmüller zeigt, ausgebaut.

Soweit ich gelesen habe, wurde damals in der Schweiz kritisiert, daß sich Regisseur Leopold Lindtberg angesichts des Weltkriegs einen so unverfänglichen literarischen Stoff ausgesucht hatte. Aber es war auch schwierig, den Film zu drehen. Die Schweizer Filmwirtschaft war von Deutschland ziemlich abhängig, insbesondere bezog man von dort Filmmaterial. Das Budget war gering, und es mußte viel improvisiert werden. Aber es ist doch ein konventioneller Kostümfilm, dem man die Umstände seiner Entstehung nicht ansieht. Im Schauspielerensemble ragen die Darsteller der Brüder Werdmüller heraus: Adolf Manz und Leopold Biberti.

Ich glaube, die Handlung muß ich erzählen: Der Pfarrer (Manz) von Mythikon (ein fiktives Städtchen am Zürichsee) steht beim Dekan unter Beobachtung, weil er seine Gemeinde vernachlässigt und lieber in den Wäldern auf die Jagd geht. Sein Traum: einen Zwölfender zu erlegen, dem er schon lange auf der Spur ist. Seine schlimmsten Versäumnisse bügelt seinVikar aus, derweil der Dekan warnt: „Noch ein Schuß, und Sie sind ihre Pfarrei los!“

Die Tochter des Pfarrers soll einen Hauptmann heiraten – so haben es die beiden jedenfalls beschlossen. Das Mädchen liebt allerdings den pflichtbewußten, wenn auch viel zu sanftmütigen Vikar. Beim Pfarrer fällt er jedoch in Ungnade. Als der Dekan anrückt, glaubt er, der Vikar habe ihn bei der Dienstaufsicht verpfiffen. Zwar ist er völlig unschuldig, sieht aber keine andere Möglichkeit, als die Pfarrei zu verlassen. Er möchte nun als Feldgeistlicher in den Dienst des Generals (Biberti) treten, der sich gerade auf einen Kriegszug vorbereitet.

Der General haust auf einem Schloß auf einer Insel im See. Er gilt als gottlos und zynisch. Sofort durchschaut er, daß der zarte Vikar für ihn völlig ungeeignet ist und daß eine unglückliche Liebe ihn zu ihm getrieben hat. Er ist allerdings der Ansicht, daß er um die Pfarrerstochter hätte kämpfen müssen. Auch das Mädchen kommt zu Besuch; sie will, daß er ihr hilft, ihren Vater von der Jagd- und Waffenleidenschaft abzubringen, und daß er für sie dem Hauptmann, der bei ihm im Sold steht, absagt. Schließlich meldet sich noch der Kirchenvorstand an, der auch gehört hat, daß der General in den Krieg zieht. Er soll ihnen vorher ein Waldstück vermachen, das in ihr Gemeindegebiet hineinragt.

General Werdmüller will das alles bis nach seiner Rückkehr verschieben. Denn eine Zigeunerin hat ihm prophezeit: Solange er eine bestimmte Tonpfeife besitzt, wird er wohlbehalten jede Schlacht überstehen. Nun zerbricht die Pfeife, und der abergläubische General sieht sich gezwungen, einen „teuflischen“ Plan zu ersinnen, um die Dinge zu ordnen. Seinem Bruder und dem Vikar will er jeweils einen Streich spielen. Durch ein Maschinenwesen, das in seinem Schlafzimmer erscheint, nimmt er dem Vikar durch Schock seine Angst vor Frauen. Er soll nun sein Mädchen entführen, was er, so gut es ihm eben möglich ist, erledigt. Seinem Bruder schenkt der General zum Abschied eine kostbare Pistole – sie hat nur einen Makel: Der Abzug ist schwergängig. Heimlich ersetzt er sie jedoch durch eine Zwillingswaffe, die sich leicht auslösen läßt und darüber hinaus geladen ist. Der Pfarrer muß sofort in seinen Gottesdienst, steckt aber die Pistole in seinen Talar und spielt während der Predigt mit ihr herum. Zu seiner Überraschung löst sich ein Schuß, der Schuß von der Kanzel.

Der Pfarrer ist damit desavouiert. Der General bietet ihm aber an, Jagdaufseher seiner Wäldereien zu werden, was er überglücklich annimmt. Dafür muß er jedoch der Hochzeit seiner Tochter mit dem Vikar zustimmen. Der Hauptmann ist zufrieden, denn er bleibt lieber dem Kriegshandwerk treu, als sich hinter einem Ofen zu verkriechen. Die Gemeinde erhält das Waldstück – unter der Bedingung, daß niemals jemand etwas von dem Schuß von der Kanzel erfährt. Dann zieht der General in den Krieg: „Nur nicht im Bett sterben!“

Das ist eine sehr schön gemachte Komödie mit ein paar düsteren Untertönen. Die Menschen sind entweder von ihren Leidenschaften hingerissen oder sind zu schwach, ihr Glück zu ergreifen. Der General ist in gewissem Sinn die einzige positive Figur in diesem Spiel, aber er paßt in keinen bürgerlichen Rahmen, und er packt seine Zeitgenossen rücksichtslos bei ihren Schwächen. Aber das alles erscheint im Film in einem milden Licht. Die Welt, die hier entworfen wird, ist natürlich schon lange untergegangen. Man bedauert ein wenig, daß es so ist, denn es ist eine weitgehend heile Welt, in der man gern zu Gast ist. Eine Ablenkung von der unerfreulichen Gegenwart von 1942 – wie etwa bei dem Film „Die Feuerzangenbowle“ – sehe ich in dem Werk aber nicht.
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Alt 31.10.2022, 09:33   #124  
pecush
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Noch ein Wort zum "Panzerkreuzer"; den habe ich um die Jahrtausendwende kennengelernt. Ein Germanistik-Prof. spielte ein paar Szenen im Hörsaal vor - und auch wenn ich den Film bis dahin nicht kannte, war mir die Treppenszene natürlich ein Begriff. Vielfach zitiert und dadurch bekannt.

Das erinnert mich an meine erste "Psycho"-Sichtung. Fand ich den lahm - weil ich die Duschszene aus zahlreichen Parodien kannte. Heute finde ich den sehr stark.
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Alt 31.10.2022, 10:31   #125  
Peter L. Opmann
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Kleine Anekdote zu "Psycho":

Etwa zu dieser Zeit fand in Augsburg ein Weltrekordversuch statt. Es ging um möglichst langes Kinofilme-Gucken am Stück. Die Leute, die teilnahmen, durften im Kinosessel essen und schlafen oder sonstwas machen, aber sie durften ihn nur verlassen, um aufs Klo zu gehen. Das ging mehrere Tage.

Am Ende habe ich ein paar Teilnehmer interviewt, wie sie den Kinomarathon überstanden hätten und welche Filme ihnen gefallen hätten und welche nicht. Übereinstimmend sagten mehrere, langweilig sei nur ein Film gewesen, nämlich "Psycho". Das war nämlich der einzige Film, der schwarzweiß war. Und nach deren Logik konnte ein Film, der schwarzweiß ist, nur langweilig sein.
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