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Alt 27.09.2016, 14:30   #98  
Servalan
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Standard J.R.R. Tolkien, ein Meister der Sprache

Einige der interessantesten und anspruchsvollsten kurzen Werke habe ich bei Lesungen von Amateuren gehört, die Belletristik teilweise therapeutisch für sich genutzt haben. Es tat gut, etwas zu schreiben. Es tat gut, die eigene Schöpfung vor Publikum zu lesen.

Dieser scheinbar mindere Status sollte nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass diese Autoren ohne Zertifikat oder anderen Nachweis häufig harte Ansprüche an sich stellen.
Sprache kann sich leicht in ein mehrdimensionales Labyrinth verwandeln, in dem sich Autoren verirren und verlaufen können. Denn die Arbeit an der Sprache und mit der Sprache erfordert einen hohen Einsatz, er kostet nämlich eine Menge Zeit, Schweiß und häufig auch Tränen - bis etwas wirklich als gelungen empfunden wird. Erst dann kann es abgeschlossen werden.

Wer heute ein Publikum finden will, muß seine Erzählstimme gestalten und sie mit der Figurenperspektive abstimmen. Wehe, alle Figuren hören sich gleich an; und wenn sie fadenscheinige Meinungen des Autors predigen, landet das Manuskript im Altpapier.

William Morris (1834-1896) wollte zunächst Priester werden, bevor er das künstlerische Leben nicht nur in Großbritannien prägte. Morris hatte wie Wagner (mit seinem Gesamtkunstwerk) einen breiten Kunstbegriff, der alle Gegenstände des täglichen Gebrauchs erfaßte - ein Vorläufer von Art Déco, Jugendstil, Bauhaus und dem modernen Design. Deswegen zählt er zu den Gründern der Arts and Craft Bewegung, die handwerkliche Fähigkeiten über alles schätzte, wobei er stark von sozialistischen Ideen beeinflußt wurde.

Wenig verwunderlich hinterließ er ein breites schriftstellerisches Werk. Darunter befinden sich zwei Romane, A Tale of the House of the Wolfings, and All the Kindreds of the Mark Written in Prose and in Verse (1889) und The Roots of the Mountains (1890), in denen er das Leben eines bronzezeitlichen Stammes in Europa schildert, der sich das Römische Imperium wehrt.
Perry beschreibt in seinem Vorwort, wie Morris sich über Brief eines zeitgnössischen Archäologen mokiert, der Morris für seine Schilderung in den höchsten Tönen lobt und ihm weismachen will, exakt so wäre das Leben in der Bronzezeit gewesen. Morris kann über die schreckliche Naivität des Wissenschaftlers bloß schmunzeln, weshalb er ihm sinngemäß antwortet: "Hallo, aufwachen! Ich habe mir das bloß ausgedacht. Gut, du bist auf meine Fiktion hereingefallen. Aber ich weiß nicht, wie das damals gewesen ist!"

Morris gehört zu den Vorbildern von C.S. Lewis und J.R.R. Tolkien.
Aragorn und die Reiter von Rohan verdanken den germanischen Kriegern von Morris allerhand.
Weil die Gestaltung eines Stoffes unheimlich wichtig sind, können über einem Manuskript leicht zehn oder mehr Jahre ins Land gehen.
Ich bin zwar kein Tolkien-Hardcore-Fan, dennoch schätze ich ihn. Seine fundierte Kenntnis von Geschichte und Mythen kommt nicht von ungefähr. Doch seine Vorlesungen zeigen, was für eine Mühe es ihn gekostet hat, so leicht lesbar zu werden. Die einzelnen Vorträge aus verschiedenen Teilen seiner akademischen Karriere belegen, wie sich seine Sprache unterderhand wandelt.

Obwohl seine Antrittsvorlesung nur schriftlich vorliegt, zeigt sie, wie nervös er er gewesen sein muß und daß er bloß nichts falsch machen wollte. Deshalb wirken manche Erklärungen und Erläuterungen recht unbeholfen und sind für Laien nur mit Mühe verständlich. Tolkien wurde in den Kreis der Experten aufgenommen, indem die Fachsprache der Experten sorgfältig nutzte.
Je älter Tolkien wird, umso fester sitzt er im Sattel. Er kennt seinen Stoff inzwischen gut genug, weshalb er freier formulieren kann. Wenn Tolkien zur Höchstform aufläuft, kann er sogar mit einem Fachvortrag ein Publikum aus gewöhnlichen Menschen begeistern und für sein Wissen interessieren.
Sein Wissen ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen.

Zur Illustration ein Beispiel aus Der Herr der Ringe:
Im Original warnt Sam Frodo vor ihrem Begleiter Gollum, indem er sagt: "He's a villain." Klar, natürlich ist Gollum ein Bösewicht.
Tolkien schafft in seiner High Fantasy einen Gründermythos des neuzeitlichen England, wobei er sich auf die Herrschaft von Queen Elizabeth I. (1533-1603) bezieht. Im Englisch dieser älteren Sprachstufe bedeutet "villain" jedoch auch "Diener".
In Sams Warnung schwingt also untergründig die Warnung mit, dass Gollum ein Diener des Rings geworden ist, ein Diener Saurons, ein Diener des Bösen schlechthin.
Dieser Sachverhalt wird später wichtig, wenn Sam in Mordor fragt, ob er auch mal den Ring tragen dürfte. Schon der bloß am Faden baumelnde Ring am Sams Brust ist gefährlich, weil er seinen Träger sogar in dieser Lage verführen kann.
  • J.R.R. Tolkien: The Monster and the Critics and Other Essays [The Essays of J.R.R Tolkien], hrsg. von Christopher Tolkien, 10. Auflage, Harper Collins Publishers 2006 [erstmals Allen & Unwin 1983]
  • Michael W. Perry: "Foreword: William Morris and J.R.R. Tolkien", in: William Morris: The House of the Wolfings. A Book that Inspired Tolkien, Inkling Books 2003, hier S. 7-12

Geändert von Servalan (29.10.2016 um 15:34 Uhr)
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