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Alt 05.08.2016, 17:07   #93  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Standard Wortwahl, Wortwitz, Wortspiel

2006 habe ich in einer Lesung folgende Zeilen zum besten gegeben, die wenige Wochen bei einer Schreibübung (Thema: "Stein") den Weg aufs Papier gefunden haben:

Ein Stein
Einst Ein
Einstein


Damit das Stück wirkt, muß jede Silbe richtig betont werden. Dieses Beispiel zeigt, daß neben dem geschriebenen Text das Sprechen wichtig wird.
Für gewöhnlich sollte das Werk langsam, aber zügig vorgelesen werden.

Auf diese Weise bleibt das Publikum in der Geschichte bzw. im Werk und kann es genießen. Sich die Zeilen selbst laut vorzulesen, kann helfen, Schwächen oder Fehler aufzuspüren: beispielsweise wenn die Reihenfolge mehrerer Handlungen einer Figur den Lesefluß bremst, weil das Publikum das Geschehen nachträglich in Gedanken neu ordnen muß.
Ist das beabsichtigt? Oder muß das korrigiert werden?
Wie ihr die Frage beantwortet, hängt davon ab, was ihr mit eurem Werk erreichen wollt.

Klare Grenzen gibt es in der Literatur selten, und hier beginnt eine Grauzone, in der sich die Lesung zu verwandten Künsten öffnen: Poetry Slam, Spoken Word Performances, Monodramen (Ein-Personen-Stücke), Rap, Hip Hop und experimentelle Erkundungen der Sprache und des Sprechens.

Klassiker in diesem Bereichen sind zum Beispiel die Werke der Wiener Gruppe, deren berühmteste Vertreter wohl das Ehepaar Friedericke Mayröcker und Ernst Jandl sowie H.C. Artmann waren.
  • Ernst Jandl: schtzngrmm (Gedicht 1957)
  • Ernst Jandl: wien: heldenplatz (Gedicht 1962)
  • Ernst Jandl: ottos mops (Gedicht 1963)
  • Ernst Jandl und Friederike Mayröcker: Five Man Humanity / Fünf Mann Menschen (Hörspiel SWF 1968)
  • H.C. Artmann: Die Sonne war ein grünes Ei (Residenz Verlag 1982, Schöpfungsmythen)
Vorläufer finden sich in den künstlerischen Avantgarden nach dem (Ersten) Weltkrieg, in dem sich zum Dada und Surrealismus von den gewohnten Mustern der Sprache abkehrten, um das Trauma zu verarbeiten.
Kurt Schwitters' Ursonate oder Sonate in Urlauten (1923-1932, verschiedene Fassungen) erzeugt heute noch eine Gänsehaut.

Diese Methode wirkt wie ein Brennglas, unter dem Strukturen der Sprache hörbar und erkennbar werden, die im Alltag verborgen bleben.
Parodien, Pastiches und Hommagen ähneln Karikaturen, indem sie bestimmte Merkmale der Prosa oder Lyrik überspitzen und überdeutlich werden lassen.

Zum Weiterlesen empfehle ich:
  • Robert Neumann: Mit fremden Federn (Engelhorn 1927), 2 Bände, in denen hauptsächlich die Autoren der damaligen Gegenwart durch den Kakao gezogen werden. Das Spektrum reicht von Giganten der Hochkultur wie den Brüdern Heinrich und Thomas Mann über Bestsellerautoren wie Felix Salten und Hanns Heinz Ewers bis zu Sachbuchbestsellern wie Sigmund Freund und Friedrich Nietzsche.
  • Mechthilde Lichnowsky: Worte über Wörter (Berglandverlag 1949) - Lichnowsky steht in der Tradition ihres Landsmannes Karl Kraus. Ihre Glossen über die Sprache sind Zeitkapseln, die zeigen, wie sie die jeweilige Gegenwart in der Sprache spiegelt.
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