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Alt 27.02.2018, 14:10   #68  
Servalan
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Koyaanisqatsi: Life Out of Balance | Koyaanisqatsi (USA 1982, Institute for Regional Education und American Zoetrope für Island Alive und New Cinema), Drehbuch: Ron Fricke, Michael Hoenig, Godfrey Reggio und Alton Walpole, Produzent und Regie: Godfrey Reggio, Musik: Philip Glass und Michael Hoenig, 85 min bzw. 82 min, FSK: 6

Franjus bewußt verstörender Dokumentarfilm über die Schlachthöfe in Paris (siehe # 66) lief damals auf einen Filmfest der Kunsthochschule vor Ort. Der handelsübliche Dokumentarfilm nimmt sein Publikum meist brav in die Hand und sorgt peinlich genau dafür, daß ja keine Mißverständnisse aufkommen und die Botschaft klar herüberkommt.
Die Blockbuster unter den Dokumentarfilmen der letzten 20 Jahre gehen noch weiter, indem sich der Autor und Regisseur als Figur stilisiert und seinen (politischen) Standpunkt deutlich vertritt. Michael Moore, Errol Morris und Morgan Spurlock aus den USA oder Erwin Wagenhofer aus Österreich sind prominente Vertreter, deren Werke mit Erfolg in Kinos laufen.

Einen radikal anderen Ansatz nutzten Godfrey Reggio und sein Kameramann Ron Fricke. Doch der entwickelte sich allmählich über ein knappes Jahrzehnt.
Reggio stammt aus einer alten und wohlhabenden Familie aus Louisiana, die Wurzeln im italienischen Adel hat. Er engagierte sich zuerst ehrenamtlich in kommunalen Projekten und sozialen Bewegungen, vor allem in der Bürgerrechtsbewegung American Civil Liberties Union (ACLU).
1972 arbeitete er in Albuquerque, New Mexico, im Büro des Institute for Regional Education (IRE). Zusammen mit der ACLU konzipierte er eine Medienkampagne gegen die Technisierung des Privatlebens und die subtile Kontrolle der gewöhnlichen Menschenmassen.
Anfangs nutzte er 30 Werbetafeln. Reggio war frustriert, weil die Resonanz ausblieb. Deswegen wandelte er sein Konzept ab und engagierte den Kameramann Ron Fricke. Auf diese Weise entstanden kurze Spots, die zwei Jahre lang zur besten Sendezeit liefen und bald recht populär wurden. Als die Kampagne aus finanziellen Gründen abrupt eingestellt wurde, überlegte Reggio, was er aus dem vorhandenen Material machen konnte.
Daraus entstand die Idee eines einstündigen Dokumentarfilms, an dem Reggio und Fricke seit 1975 werkelten. Obwohl es ein 35mm-Film werden sollte, wurde wegen des knappen Budgets eine 16mm-Kamera eingesetzt. Als Reggio 1981 in der Postproduktion saß, bat der neugierige Francis Ford Coppola darum, sich den unfertigen Film ansehen zu dürfen.

Seine Premiere feierte Koyaanisqatsi im April 1982 auf dem Santa Fé Film Festival, im August und September desselben Jahres lief er beim Telluride Film Festival und dem New York Film Festival über die Leinwand. Reggio schlug das Angebot eines großen Verleihs aus, weil er die Kontrolle über sein Werk behalten wollte.
Koyaanisqatsi hatte einen Nerv getroffen und wurde zum Kultfilm der ökologischen, technologiekritischen Bewegung der 1980er Jahre. Der Filmkritiker James Monaco zählte ihn damals zu den fünf wichtigsten Filmen der Gegenwart.
Dennoch wurde es in den 1990er Jahren still um das Werk. Die Rechte für die weitere filmische Auswertung gingen durch etliche Hände, so daß die IRE vor Gericht zog, weil Reggio seine Rechte zurückhaben wollte. Der regional eingeschränkte Verleih durch Reggio hielt sich eine gewisse Zeit, obwohl der Preis für die DVD eine Spende von mindestens 180 US-Dollar an die IRE war.
2014 ehrte das Museum of Arts and Design in New York City Godfrey Reggio mit einer Retrospektive.

Natürlich gibt es auch Text in Koyaanisqatsi, aber der erklingt als Choral zur minimalistischen Musik von Philip Glass in der Sprache der Hopi. Bei ausgewählten Kinoaufführungen verteilte Reggio Pamphlete, auf denen unter anderen die drei Prophezeiungen der Hopi über ein apokalyptisches Zeitalter übersetzt worden waren.
Reggio und Fricke verdeutlichen schleichende Prozesse durch Zeitraffer und Zeitlupe, hinzu kommen ungewöhnliche Perspektiven beispielsweise aus einem Helikopter. Das eigene Material wurde durch Found Footage aus Archiven ergänzt.
Fundamental beruht das Konzept auf einer ausgefeilten Montage, die sich an den Theorien, Experimenten und Filmen der (sowjet-) russischen Pioniere Sergej Eisenstein, Dziga Wertow und Lew Kuleschow orientiert. Unsichtbares wird sichtbar, weil das Publikum zwischen Einstellungen Bedeutungen ergänzt und sich den Sinn zusammenreimt.
Die reine Kombination von Musik und visuellen Eindrucken kann natürlich auch rauschhaft erfahren werden.

Reggio setzte seinen Erfolg mit zwei weiteren Filmen fort, die die Qatsi-Trilogie ergeben: Powaqqatsi: Life in Transformation | Powaqqatsi (USA 1988, 99 min, FSK. 6) und Naqoyqatsi: Life as War | Naqoyqatsi (USA 2002, 89 min, FSK. 6).

Wer will, kann mittlerweile zahlreiche Anspielungen auf die Koyaanisqatsi in der populären Kultur entdecken, von den Simpsons und den Gilmore Girls bis zu Grand Theft Auto.
Vince Gilligans Breaking Bad spielt in Albuquerque, New Mexico, und besitzt als eines der Trademarks der Serie Stadt- und Landschaftsaufnahmen im Zeitraffer. Ich kann mir schon vorstellen, warum ihm das gefallen hat.

Geändert von Servalan (22.03.2024 um 13:54 Uhr)
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