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Alt 09.09.2021, 06:38   #4830  
God_W.
Captain Rezi
 
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The Unwritten – oder das wirkliche Leben 3: Ein Toter klopft an



Was war dieser Band in der ersten Hälfte so verwirrend und rätselhaft! Ich meine, da habe ich komplett gar nicht durchgeblickt und die Fragezeichen haben sich über meinem Kopf getürmt. Was ist das für eine geheimnisvolle Organisation, die Tom auf den Fersen ist, nur Böses will und offensichtlich von einem Mann namens Callendar geleitet wird? Wie funktioniert deren total seltsam und übersinnlich anmutendes Ortungssystem? Kam es wirklich dazu, dass Tommy Taylors Nemesis aus den Büchern den Körper des Gefängnisdirektors übernommen hat und so in unsere Welt eindringen konnte? Wie geht sowas? Und welche Auswirkungen hat es auf Savoy, wenn er von diesem unheimlichen Wesen gebissen wird? Weshalb erzählt Lizzie Hexam Tom nichts? Gar nichts? Ist sie wirklich auf seiner Seite? Vor allem, ist sie wirklich „echt“, oder ist sie nur eine Figur aus einer Geschichte, die irgendwie, wie auch immer, in unsere Welt gelangt ist? Oder ist sie einfach nur nicht ganz knusper?

Fragen über Fragen, die mich mehr und mehr verwirren und ratlos dastehen lassen. Doch dann steht ein Großereignis bevor, die Veröffentlichung des 14ten und letzten Tommy Taylor Romans. Der scheint allerdings ein Fake zu sein, initiiert von dieser seltsamen, offensichtlich böswilligen Organisation, die den wahren Tommy Taylor Geschichten durch diese Schundschrift schaden wollen, die Macht der Erzählung in der Gesellschaft durch diese Denunziation brechen, und gleichzeitig ihren ursprünglichen Schöpfer, Toms Vater, aus seinem Exil hervorlocken möchten. Diese Gelegenheit will natürlich auch Tom nutzen, um seinen Erzeuger endlich zur Rede zu stellen, und um Antworten, sowohl für ihn als auch für uns, zu bekommen. Antworten, das wäre doch mal was!

Wahnsinnig dicht, etwas vertrackt, zum Miträtseln und Mitfiebern einladend breitet Mike Carey einen eng gewebten Teppich von Möglichkeiten vor uns aus. Wie bei einem großen Mosaik können die Einzelteile ganz unterschiedlicher Herkunft sein, in diesem Fall sogar aus verschiedenen Welten stammen, und sich dennoch zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen. Alleine die Optik ist schon fulminant, werden die Übergänge zwischen (vermeintlich) realer Welt und der Bücher- oder Geschichtswelt von den Künstlern Peter Gross und Ryan Kelly doch wundervoll in Szene gesetzt, dazu die Cover von Yuko Shimizu, die einfach großartig aussehen. Dabei macht die Normalo-Welt rein optisch eher einen „gehobenen Standard Ami Eindruck“, während in den Bücherwelten besondere und markantere Stile zum Einsatz kommen.

Wenn ich schon eine Teppich-Analogie ausgepackt habe, kann ich damit auch gleich weiter machen, denn die Liebeserklärung an Literatur und an das Geschichtenerzählen allgemein ist in dem Werk so allgegenwärtig, als würden Carey und Gross all den großen Erzählern und Erzählungen einen roten Teppich ausrollen. Man freut sich bei der Lektüre immer, wenn man einen der vielen Triggerorte, die Tom von seinem Paps eingetrichtert wurden wiedererkennt, auch wenn sicher kaum jemand alle Geschichten gelesen hat, die einbezogen werden. Ich habe zum Beispiel nie Shakespeare gelesen, aber durch Verweise in anderen Werken und natürlich auch durch Filme weiß ich dann schon wovon die Rede. Thomas Malory habe ich tatsächlich gelesen, worüber ich mich dann auch sehr gefreut habe und Chaucer steht noch hier noch ungelesen hier.

Das sind nur einige Beispiele zu dem ganzen Sammelsurium an Büchern und Autoren, vor denen sich The Unwritten tief verbeugt. Bei mir löst die Lektüre dieses Comics ständig die Lust aus, ein Buch aus dem Regal zu ziehen und los zu lesen! Geht natürlich nicht, denn ich will ja wissen wie es mit Tom Taylor weitergeht, böse Zwickmühle. Aber auch wer mit den großen Klassikern nicht allzu viel anfangen kann wird bei The Unwritten seine helle Freude haben, denn die vielen Bezüge zur allgemeinen Popkultur und dem Nerdtum sind ebenfalls allgegenwärtig. Am vordergründigsten natürlich zu Harry Potter, aber auch Star Wars, Stephen King, Herr der Ringe, Nosferatu, die Transformers usw. werden gerne zitiert.

In Die vielen Leben von Lizzie Hexam erfahren wir endlich mehr über diese Mitstreiterin Tom Taylors. Spannend ist, dass die Lady eine äußerst wandelbare Vergangenheit hat, denn man kann ihren Werdegang und ihre Verbindungen zu Tom und seiner Familie auf verschiedene Arten erleben. In alter „Abenteuer-Spiel-Buch“-Manier wie bei der „Insel der 1.000 Gefahren“ oder den Büchern von Steve Jackson und Ian Livingstone entscheiden wir nach einer Seite häufig selbst, wie die Geschichte weitergeht und auf welcher Seite wir entsprechend weiterlesen. Keine Angst, Kämpfe mit Würfeln und dergleichen sind nicht notwendig. Allerdings solltet Ihr weise wählen, denn man kann durchaus auch in einer Sackgasse landen. Ich habe die Story dreimal durchgespielt um mehrere Varianten kennenzulernen, war wirklich cool.

Zum Abschluss werden dann interne Streitigkeiten in Mister Callendars Geheimorganisation thematisiert, was für Tom vielleicht Vorteile bringen könnte. Der hat allerdings Probleme damit seinen beiden Mitstreitern zu vertrauen und, vor allem, damit seine Fähigkeiten zu aktivieren. Magie funktioniert wohl nicht so einfach wie gedacht. Nach einem kurzen Ausflug in das finale Tommy Taylor Buch hat Tom allerdings einen neuen Hinweis, ein Ziel, welches im letzten Panel offenbart wird und mein Herz einen Sprung machen ließ. Was freue ich mich auf Band vier, das glaubt Ihr gar nicht!

9/10

VG, God_W.
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