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Alt 22.09.2022, 09:10   #568  
pecush
Geisterjäger
 
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Das so unnatürliche, strahlende Licht, das sie seit einer ungewissen Zeit begleitet hatte, blieb, doch als sich ihre Augen an die Umgebung gewöhnt hatten, erkannte sie, woher es stammte.
Neonspots leuchteten von der Decke und erhellten den vollgestellten Gang mit dem blauen Teppichboden, auf dem sie jetzt hockte. Angegraute, lange Papierkisten standen um sie herum. Von der Tür, durch die sie gegangen war, war nichts zu sehen, auch nicht, als sie sich erhob und den Blick über die Kisten schweifen. Comichefte, Unmengen von Comicheften befanden sich in den Kisten, das erkannte ihr Auge sofort, einzeln in Tüten vergepackt, augenscheinlich fein säuberlich sortiert. Auf den Kisten türmten sich weitere Berge an Heften, die Kante an Kante lagen, akkurat gestapelt. Dazu erblickte sie Figuren in großen Kartons, einige kannte sie, andere waren ihr fremd.
Und doch war ihr eines klar: Sie befand sich in einem großen Raum, der vollgepackt war mit Comics und Merchandise.
Ihre Augen scannten den engen Gang, dann wanderten sie einen Gang weiter, den sie durch eine Lücke zwischen den Hefttürmen erkennen konnte. Ein junger Mann, ganz in schwarz gekleidet, stand in einer Ecke und ging einer monotonen Tätigkeit nach: Die rechte Hand griff ein Comicheft, das auf einer Pappscheibe lag, die linke hielt eine Plastiktüte. Der junge Mann schob das Heft in die Hülle und legte es auf einen Stapel eingepackter Hefte. Es türmte sich bestimmt ein halber Meter vor ihm auf.
„Hallo“, sagte sie.
Der junge Mann nahm keine Notiz von ihr.
„Hallo“, wiederholte sie, etwas lauter, doch er reagierte nicht.
Sie ging den Gang entlang, um eine Kurve, wollte auf den jungen Mann direkt zulaufen, doch er war schaute nicht auf. Mittlerweile hatte er seine Tätigkeit geändert. Er begann, den Turm eingepackter Hefte von oben herab abzuarbeiten, nahm immer ein Heft herunter und klebte es flink mit einem Streifen Klebeband zu. Dann verschwand das Heft in einer Kiste.
Sie wollte ihn zum dritten Mal ansprechen, als sie erkannte, dass sich hinter dem Arbeitsplatz des jungen Mannes, verborgen hinter den aufgetürmten Heften und Figuren ein Verkaufsraum befand. Sie erspähte einen Tresen, hinter dem ein beleibter Mann stand, davor drei Buben, zwei in einfarbig-bunten T-Shirts, der dritte in einem weißen Hemd.
Sie zwängte sich an dem jungen Mann vorbei, berührte ihn dabei unabsichtlich am Rücken, doch er ließ sich nicht aus der Routine bringen und klebte seine Hefte weiter zu.
Zu ihrer Linken erkannte sie die Glastür, vollgeklebt mit Postern, und doch konnte sie die Straße im Abendlicht draußen erkennen. Sie aber drehte sich nach rechts und näherte sich dem Tresen. Der Verkäufer, mit schütterem Haar und Hornbrille, hielt ein Heft in der Hand, das er augenscheinlich den Buben verkaufen wollte.
„Larissa und Nicole haben das gemacht, die kennt ihr doch! Die sind auch oft hier.“
Die Buben nickten.
„Erst haben die diese Schul-Comics gemacht, aber jetzt können sie ihre Figur richtige Abenteuer erleben lassen.“
Die Buben nickten.
„Hallo“, sagte sie.
Der Verkäufer sah sie an. „Hallo!“, antwortete er.
Bevor sie antworten und endlich die unzähligen Fragen stellen konnte, die ihr auf der Seele lagen, sah er weg, schaute auf das Heft, dann auf sie, dann wieder auf das Heft.
Die Buben drehten sich langsam um, sie sah ihre Gesichter mit den großen Augen und einer ungesund wirkenden Hautfarbe. Das Neonlicht schien sie gelb zu färben. Und die Augen der Buben wurden noch größer, als sie das Mädchen erblickten.
„Du bist …“, sagte der Verkäufer, sie konnte seinen Tonfall nicht richtig einordnen.
„Mia“, sagte sie.
Die vier vor ihr nickten.
„Wo bin ich hier?“ fragte sie. Endlich.
„Im Androids …“, sagte der Mann, aber es klang geistesabwesend. Er schwieg stattdessen, schaute entgeistert auf das Heft.
Sie wollte fortfahren, wollte Fragen stellen, Antworten erhalten, als ihr Blick auf das Heft fiel, das er vor sich auf den Tresen gelegt hatte, noch immer mit der Hand berührend.
Sie konnte, obwohl so klein gedruckt, die Namen der Autorinnen erkennen: Larissa Meyer und Nicole Wespi. Und darunter stand der Titel, in großen Buchstaben, sie förmlich anspringend. Denn die drei Buchstaben waren ihr so vertraut wie das Mädchengesicht, das ihr vom Heft entgegen schaute. Es waren die Buchstaben, die sie zuerst in ihrem Leben hatte schreiben können - und das Gesicht war das ihre.
Bei allem, was sie in den vergangenen Stunden erlebt hatte: Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie merkte nur, wie sich der Raum drehte, der Boden schwankte. Sie verlor den Halt, wollte sich abstützen. Und in dem Moment, als ihre Hände nach einem Rettungsanker suchten, ergriff sie sie mit der Rechten die Klinke und die Tür öffnete sich.
Sie hörte noch den Verkäufer ihren Namen rufen, da war sie durch das Portal in eine andere Welt gefallen.
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