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Alt 06.10.2014, 17:04   #3  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Standard Visual Novels

Nein, Visual Novels haben nichts mit den japanischen Light Novels zu tun.

Den Begriff habe ich zuerst aus dem Munde von David Simon gehört, auf dem Bonusmaterial zur dritten The Wire-Staffel. Der ehemalige Journalist der Baltimore Sun und Showrunner vergleicht seine Serie dort mit Melvilles Moby-Dick, was auf den ersten Blick ziemlich weit hergeholt scheint. Wer sich näher mit den beiden Werken beschäftigt, daß es da ziemlich viele Parallelen gibt:
(1) Zumindest anfangs spielen sie in benachbarten Gegenden (besonders deutlich in The Wire Staffel 2, die am Hafen spielt).
(2) Beide kreisen um Leute, die sich an unteren Rand der Gesellschaft befinden. Sowohl die allmählich verfallenden Viertel von Baltimore als auch die angeheuerte Mannschaft der Walfänger besteht aus Leuten, die buchstäblich den letzten Strohhalm ergriffen haben. Sie leben von der Hand in Mund, immer am Rande der Legalität, worauf auch die Namen deuten. Melville berühmter Einleitungssatz "Call me Ishmael." ("Nenn mich Ishmael.") weist drastisch darauf hin, daß das nicht der Taufname seiner Hauptfigur ist. Das ist ein Streetname wie Bodie, Poot oder Peanut in The Wire.

Trotzdem sollte das Publikum auf der Hut bleiben. Ein Audiokommentar ist schließlich keine eidesstattliche Aussage vor Gericht, bei der ein Meineid juristische Konsequenzen hat, und in der fünften Staffel stellt Simon ja plakativ das Thema Lüge in den Vordergrund. Ein Audiokommentar stellt bloß eine weitere Schicht der Geschichte dar und regt im besten Fall zum Nachdenken an.
Das funktioniert allerdings nur, wenn das künstlerische Werk nicht verstümmelt und entstellt wurde - und die ersten beiden Staffeln von The Wire bilden in dieser Hinsicht keine Ausnahme.
Wie ab der dritten Staffel mit dem ambitionierten Politiker Thomas Carcetti deutlich wird, verabscheut Simon Deus-ex-Machina-Auftritte von Figuren. Wer Figuren einer Geschichte erst dann aus dem Hut zaubert (nichts anderes bedeutet der Fachbegriff), wenn sie eine Lösung liefern, erzählt Simons (und meiner) Meinung nach schlecht. - Der Autor unterfordert das Publikum und geht möglichen Schwierigkeiten in seiner fiktiven Welt aus dem Weg. In der Rolle von Brianna Barksdale wird das deutlich, die zunächst nur einfach da ist, als Figur im Hintergrund; beispielsweise bei dem Barbecue, bei dem Avon D'Angelo beiseite nimmt und ihm oben auf der Treppe zu verstehen gibt, was er wissen muß und was nicht, und wann er gefälligst zu schweigen hat. Bis sie schließlich das erste Mal etwas spricht, erscheint der Name der Schauspielerin Michael Hyatt des öfteren im Nachspann. Deshalb gehe ich davon aus, in den gekürzten Szenen Auftritte von ihr enthalten sind, in denen sie allmählich in den Vordergrund tritt.
Falls das ein Verleih als Wink mit dem Zaunpfahl betrachtet, endlich eine Uncut-Version (wie Life on Mars beispielsweise) auf den Markt zu bringen, dann bin ich richtig verstanden worden.

Was meine ich nun damit?

Showrunner Simon und sein Komplize Ed Burns sind aus dem Alter raus, in dem sie sich selbst und anderen beweisen müssen, was sie auf dem Kasten haben. Außerdem berauschen sie sich nicht an ihren künstlerischen Freiheiten, sondern bleiben lässig auf dem Teppich und gehen subtil zur Sache. Sie erheben sich nicht über ihre Figuren oder verraten sie zynisch, um sie fotogen auflaufen zu lassen.
Bestimmte Sachverhalte erschließen sich in The Wire nämlich erst, wenn das Publikum die gesamte Geschichte kennt, also frühestens beim zweiten Sehen. Simon und Ex-Cop Burns wissen, wovon sie sprechen, aber die Zusammenhänge werden niemandem aufgedrängt.
Ein gutes Beispiel ist Omar Littles Pfeifen, wenn er durch Baltimore streift und einem Dealer seine Knarre unter die Nase hält. Selbst Leute, die sich nur ein rudimentäres Wissen über Filmgeschichte haben, dürften bei diesem Trademark an Fritz Langs M - Eine Stadt sucht einen Mörder denken. Dort weist sich der gesuchte Kinderschänder, gespielt von Peter Lorre, durch die Melodie In der Höhle des Bergkönigs aus Edvard Griegs Peer Gynt Suite aus. Nun ja, wer das erkannt hat, liegt richtig, aber Simon und Burns gehen subtiler vor, obwohl sie gerade deswegen mit dem Wort "subtil" ihre Späßchen treiben. ("There is a b in subtle?", fragt einer der Polizisten in der Kneipe, S05E01)
Wer die englischsprachigen Untertitel eingeschaltet hat, wird dort lesen können, daß sich bei dem Pfeifen um zwei Melodien handelt, die ihre spezifische Bedeutung haben und zugleich so ähnlich klingen, daß der Unterschied subtil bleibt: Nämlich zuerst The Farmer in the Dell und später The Grand Old Duke of York. Beides sind traditionelle Folksongs, Abzählreime und Kinderlieder.
In der englischen Originalfassung erleichtert dieses Wissen, vermeintlich lapidar gemeinte Sätze und Verhaltensweisen zu entschlüsseln, und dadurch erhalten sie einen lakonischen, staubtrockenen Witz (im Engl. wit).

Das Lied The Farmer in the Dell (siehe Wikipedia:The_Farmer_in_the_Dell) wird von Wiederholungen geprägt wie Ein Loch ist im Eimer, inhaltlich gleicht es eher einem Anti-Hans im Glück. Denn in jeder Strophe nimmt ein Stärkerer einem Schwächeren etwas ab oder macht ihn zu seinem Untergebenen, bis das System in der letzten Strophe kollabiert. Denn in der vorletzten Strophe "nimmt die Maus den Käse", aber "der Käse bleibt allein zurück". Wenn Kinder dieses Lied singen, umkreisen sie eine Person in ihrem Inneren, eben den Farmer.
Rhythmisiert wird das Lied unter anderem in der dritten Zeile jeder Strophe durch ein "Heigh-ho", und genau das nutzt Omar als Signal, als er sich einem Depot der Barksdale nähert. Und als er im Teaser (vor dem Vospann) einem korpulenten Straßendealer ausraubt, wobei der das $-Kettchen mit dem Lauf seiner Knarre anhebt, sagt er grinsend: "The cheese stands alone".
Dummerweise nennt sich nun Prop Joes Neffe Cheese, was ihm nicht gut bekommen wird. Im Finale S05E10, als er endlich glaubt, am Ziel seiner Träume zu sein, gerät er in die Mitte des Kreises, als er Anspruch auf die Krone des mächtigsten Kingpins erhebt und so Avon Barksdale, Prop Joe und Marlo Stanfield beerben will - aber er steht alleine da (wie im Song), und Slim Charles jagt ihm eine Kugel durch den Kopf.
Diese wiederholte Anspielung unterfüttert auch das (nicht nur) optische Motiv, bei der eine oder zwei Person im Zentrum eines Kreises stehen.

The Grand Old Duke of York (siehe Wikipedia: The Grand Old Duke of York) hingegen ist eher ein Pfeifen aus dem letzten Loch. Omar ist klug genug, um zu wissen, daß ihn irgendwann eine Kugel erwischen wird, wenn er sich nicht zur Ruhe setzt, irgendwo fern von Baltimore. Sein American Dream scheint sich zunächst erfüllt zu haben. Butchies grausame Hinrichtung durch Chris und Snoop lockt ihn allerdings hervor. Doch das erste Mal pfeift er die Melodie, als seinem Kollegen Brother Mouzone begegnet, der seine Konten in Baltimore ausgleichen will.
Dadurch werden seine Siege zu Pyrrhus-Siegen und Omar zu einem Toten auf Urlaub.

Simons Begriff Visual Novel klingt einer Graphic Novel verdammt ähnlich. Dahinter vermute ich eine klare Absicht, denn beide Medien bieten einem geschickten Autoren vergleichbare Möglichkeiten. Wer Simons Serie bloß für eine Modernisierung eines Dickens'schen Fortsetzungsromans hält, begreift eben nur die Hälfte (wenigstens nicht Alles). Wie im Comic bietet sich in einer Fernsehserie das Mittel eines Registerwechsels an - im vorigen Absatz habe ich einige Beispiele genannt.
Für das Medium Comic möchte ich auf die erste Seite aus Tim und Struppi: Kohle an Bord / MS Ramona funkt SOS (Tintin: Coke en stock) hinweisen. Die einzelnen Bildzeilen sind dort wie Liedzeilen angeordnet, und den Reim bildet Tims und Kapitän Haddocks alter Bekannter General Alcazar. Jeweils im letzten Panel der Reihe wird er erwähnt, bis er auf dem letzten Panel der Seite in Fleisch und Blut auf dem Bürgersteig steht, als hätte ihn das dauernde Reden magisch heraufbeschworen. (Es gibt einen Aufsatz von Benoît Peeters oder Thierry Groensteen, der das kleinteilig aufdröselt.)

Insofern lassen sich Comics auch als Schule des Sehens verstehen. Die (visuellen) Analphabeten sind dann ironischerweise solche Leute, die über Comics die Nase rümpfen und glauben, weil sie mit der Hochkultur vertraut sind, wären sie klüger als der Rest der sogenannten Massen.

Geändert von Servalan (15.06.2015 um 14:21 Uhr)
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