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Alt 21.05.2018, 17:29   #97  
Servalan
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Rope | Cocktail für eine Leiche (USA 1948, Transatlantic Pictures für Warner Bros. Pictures und Metro-Goldwyn-Mayer), Drehbuch: Arthur Laurents, Hume Cronyn und Ben Hecht nach dem Bühnenstück Rope | Party für eine Leiche (1929) von Patrick Hamilton, Regie: Alfred Hitchcock, 80 min: FSK: 12 (früher 16)

Die ersten Filme der Brüder Auguste und Louis Lumière 1895 bestanden aus einer Einstellung und dauerten nur wenige Sekunden. Von den gebildeten Ständen wurden die laufenden Bilder als billige Jahrmarktsunterhaltung belächelt. Viele dachten, diese Mode werde in wenigen Monaten ihren Reiz verlieren und dann in der Versenkung verschwinden.
Doch um die Jahrhundertwende entwickelte sich das Medium: Der bunt gemischte Kessel Buntes wich kurzen Geschichten, die sogar 10 oder 20 Minuten (eine Filmrolle | reel) dauern konnten. Bald kamen Serien dazu. Sehgewohnheiten wurden geprägt, und die einzelnen Gewerke entwickeln sich zur Handwerkskunst.
Die Produzenten wollten unbedingt die Kosten unter Kontrolle halten. Daß sich ein kostenträchtiges Starsystem entwickelte, gefiel den Studiobossen überhaupt nicht. Bewährtes wurde Experimenten vorgezogen.

Der britische Regisseur Alfred Hitchcock (1899 - 1980) wurde geschätzt und umworben, weil er professionell arbeitete und Publikum zog. Die Filmkritik sah auf den Studioregisseur herab, erst die Wegbereiter der französischen Filmkritik (Truffaut, Bazin, Godard) würdigten ihn als künstlerischen Autor mit einer eigenen, erkennbaren Handschrift (auteur). Hitchcock wurde zwar mehrfach als bester Regisseur für den Oscar nominiert, erhielt jedoch lediglich 1968 den Oscar für sein Lebenswerk.
Hitchcock war ein schwieriger Mensch, der wußte, was er wollte, und daran hatten die Studiobosse zu knabbern. Aber bis heute ist der Anteil an filmischen Meisterwerken an seinem Gesamtwerk außergewöhnlich hoch.
Wiederholt hat Hitchcock das Genrekino genutzt, um die Grenzen des Mediums auszutesten und neueste technische Mittel eingesetzt: zum Beispiel 3D in Dial M for Murder | Bei Anruf Mord (1954), das Trautonium und elektronische Spezialeffekte in The Birds | Die Vögel (1963) oder den Wechsel der Hauptfiguren und des Genres in Psycho (1960) - vom Krimiplot um Madeleine Crane zum Horror mit Norman Bates.

Besonders lange Einstellungen, Plansequenzen, stellten hohe Anforderungen an die Schauspieler und die Crew hinter der Kamera. Eine Montage aus kurzen Szenen mit sichtbaren oder unsichtbaren Schnitten wurden deshalb vorgezogen.
Immer wieder wird auf die Darsteller hingewiesen, die viel Text auswendig lernen müssen. Die Entwicklung der Filmtechnik setzt jedoch härtere Grenzen: Um Licht, Farbe und Ton kontrollieren zu können, verbaten sich Außenaufnahmen mit wechselnden Lichtverhältnissen und anderen Risiken. Der Spielfilm in einer Einstellung mußte deswegen ein Kammerspiel in einer Studiohalle werden.
Die Kameras der Studios faßten jedoch bestenfalls eine Rolle von 10 Minuten. Deswegen mußte der Stoff vorher in kleinere Einstellungen umgebrochen werden, die später mit sichtbaren und unsichtbaren Schnitten aneinander montiert wurden.
Dramaturgisch deckten sich Erzählzeit und erzählte Zeit: Das Publikum erlebt den Suspense in Echtzeit.

Ähnlich wie Psycho basiert auch Cocktail für eine Leiche auf einer wahren Begebenheit. Im Mai 1924 ermordeten die beiden Studenten Nathan Freudenthal Leopold Jr. (1904 – 1971) und Richard Albert Loeb (1905 – 1936) den 14 Jahre alten Bobby Francis in Chicago. Sie wollten das perfekte Verbrechen begehen und bildeten sich ein, sie kämen ungeschoren davon.
Der Stoff wurde mehrfach für verschiedene Medien bearbeitet. Hitchcock greift auf das Bühnenstück von Patrick Hamilton zurück, das den Schauplatz an die Harvard University in New York City verlegt. In ihrem Apartement strangulieren die beiden Studenten Brandon Shaw und Phillip Morgan ihren Kommilitonen David Kentley und verstecken seine Leiche in einer Truhe.
Die beiden Ästheten wollen als Nietzsche'anische Übermenschen ihre geistige Überlegenheit zelebrieren, weshalb sie die Eltern des Opfers und ihren ehemaligen Philosophieprofessor Rupert Cadell zu einer Dinnerparty einladen.

Seit dem Siegeszug des digitalen Kinos haben sich die Verhältnisse fast auf den Kopf gestellt. Die Filmrolle ist der Festplatte gewichen, deren Speicher ständig wächst. Bis 2000 finden sich nur wenige Nachfolger von Cocktail für eine Leiche.
Der Trend beginnt 2000 mit Mike Figgis' Echtzeit-Splitscreen-Spielfilm Timecode (93 min). Ihm folgte 2002 der Geburtatagsfilm zum 150jährigen Jubiläum des Museums Eremitage in Sankt Petersburg, Russian Ark (siehe oben Post #16, 96 min). Der chilenische Spielfilm Sábado, una película en tiempo real | Sábado – Das Hochzeitstape (Regie: Matías Bize, 65 min) schildert 2003 einen Hochzeitstag mit Hindernissen.
Des weiteren verweise ich auf die englischsprachige Wikipedia-Liste für Plansequenz-Filme, auf der sich weitere Beispiele finden.

Geändert von Servalan (24.03.2024 um 11:24 Uhr)
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