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Alt 31.10.2010, 18:31   #1274  
michidiers
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Marvels
Im Fokus der Kamera

von Kurt Busiek und Jay Anacleto



Im Jahre 1994 schufen der Autor Kurt Busiek und der Zeichner Alex Ross die Miniserie Marvels. Das war eine Geschichte über die Figuren des Marveluniversums aus dem Blickwinkel des unscheinbaren Pressefotographen Phil Sheldon, ein Mann, der die Entwicklung der Helden von ihrem ersten Auftauchen im Zweiten Weltkrieg an beobachtete.

Hier legt Busiek die Fortsetzung der erfolgreichen Miniserie vor. Wir begleiten wieder Phil Sheldon bei seiner Arbeit in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Doch die Zeiten der strahlenden Helden ist vergangen. Gut und Böse sind nicht mehr eindeutig zu unterscheiden. Die Helden nehmen immer brutalere Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele in Kauf. Und mit dem Auftauchen von Antihelden wie Wolverine, Elektra und dem Punisher wächst eine vollkommen neue gewalttätige Generation von Helden nach.

Kurt Busiek erzählt in diesem Band von einer Welt der Marvels, die im Begriff ist, sich drastisch zu verändern. Das Marveluniversum war von Beginn der 60er Jahre an bis in die heutige Zeit stets ein phantastisches Abbild unserer Welt. Neue gesellschaftliche Entwicklungen in den 70er und 80er Jahren spiegelten sich somit auch bei Marvel wieder. Filme wie Dirty Harry, Ein Mann sieht Rot und Taxi Driver mit Antihelden als Protagonisten setzten vordergründige Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der Ziele bewusst ein. So war es absehbar, dass diese Entwicklung auch bei Marvel einziehen würde.

Wie auch in der ersten Miniserie erzählt Busiek die Geschichte der Marvelfiguren ausschließlich aus der Sicht von uns Normalbürgern. Die Helden und Schurken werden, wie es auch wohl in der Realität der Fall wäre, nur in kurzen Augenblicken visuell am Himmel wahrgenommen oder sie erreichen uns nur durch Fernsehbilder oder Zeitungsartikel. Dadurch entsteht eine für Superheldencomics vollkommen neue Atmosphäre. Und diese war für mich als Leser sehr greifbar. Diese Darstellung ermöglicht es einem auch, sich problemlos in die Hauptfigur Phil Sheldon zu versetzen und dessen Wahrnehmungen der Umwelt genau so zu erfahren, wie er sie selbst erlebt.

Etwas auf der Stecke bleiben da die Hintergründe und Charaktertiefen der uns bekannten Helden. Darauf kann aber hier durchaus verzichtet werden, zumal uns die eh bekannt sind. Dafür wird die Hauptfigur Phil Sheldon und seine Familie tief charakterisiert
und sein mit den Marvels unweigerlich verknüpftes Schicksal sehr viel Platz eingeräumt.

Einen großen Beitrag für dieses reale Leseerlebnis liefert dabei der phillipinische Zeichner Jay Anacleto. Seinen Mal- und Zeichenstil lässt sich am besten mit einem etwas abgeschwächten Fotorealismus vergleichen, eine Form der extrem naturalistischen Malerei. Dadurch wirken die in herkömmlichen Superheldencomics bunt kostümierten, bisweilen obskuren und fantastischen Figuren plötzlich sehr Lebendig und Real.

Ich hatte vor dem Kauf einige. Zweifel. Zwar hatte ich immer gehofft, dass Marvels einmal eine Fortsetzung bekommen würde. Ich konnte mir gleichzeitig aber nicht vorstellen, dass die Fortsetzung an die Qualität der ersten Miniserie heranreichen könne. Dementsprechend habe ich mir diesen Band mit einigem Argwohn gekauft. Enttäuscht wurde ich aber nicht. Busiek schaffte es wieder, eine einmalige Atmosphäre zu schaffen und mich in die Handlung des Bandes nahezu aufzusaugen.

Geändert von michidiers (31.10.2010 um 18:56 Uhr)
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