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Alt 22.01.2010, 11:46   #868  
michidiers
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JaSON LUTES BERLIN



Inhalt: Ende der 20er Jahre zieht es die kölner Kunststudentin Marthe Müller in die pulsierende Metropole Berlin. Dort lernt sie den Journalisten Kurt Severing kennen. An seiner Seite erlebt die junge Frau den Überschwang und Elend einer im Untergang begriffenen Weimarer Republik voller politischer und gesellschaftlicher Gegensätze.

Der vorliegende Band ist der zweite von drei Sammelbänden, der acht der insgesamt 24 US-Ausgaben umfasst und die Geschichte weitererzählt: Während sich in Deutschland die politischen und gesellschaftlichen Klüfte immer weiter auftun kommt es auch zu einem Riss zwischen Severing und Müller. Severing widmet sich immer mehr seiner journalistisch-politischen Tätigkeit. Müller taucht in das ausgelassene Nachtleben ein und gibt sich den dekadenten Orgien der Oberschicht hin, während auf der Straße das Volk als Verlierer der Weltwirtschaftskrise hungert und auf den Straßen die Gewalt eskaliert.

Die nächste drei Absätze habe ich aus meiner Bewertung des Bandes 1 hier nochmals hineinkopiert:
Lutes hält sich bei der Beschreibung und Darstellung von Berlin sehr nah an den tatsächlichen Gegebenheiten und Vorkommnissen. Offenbar hat er sich mit der Historie der Stadt und der Geschichte der Weimarer Republik und sich auch mit den Gründen des aufkommenden Nationalsozialismus lange und eingehend befasst. Seine Stadtansichten wirken akribisch genau. Die historischen Personen (Carl von Ossietzky, Ernst Thälmann, Joseph Goebbels als damaliger Gauleiter etc.) der deutschen Geschichte werden Nebencharaktere in der Handlung.

Die deutsche Gesellschaft ist ende der 20er Jahre zerrissen und in zwei extreme Lager geteilt, in die linken Kommunisten und in die rechten Nationalsozialisten. Schlägereien, Kundgebungen und Gewalt in den Straßen sind an der Tagesordnung. Das tragische dabei für den Leser ist, dass er zumindest die politische Entwicklung der nächsten Jahre und die kommende Apokalypse für diese Stadt schon kennt im Gegensatz der trotz aller Not so lebenslustigen Stadt und Charaktere. Und die Zukunft der noch um ihr drohendes Schicksal ahnungslosen Nebencharaktere Ernst Thälmann und C. v. Ossietzky, die Jahre später ihr Leben in KZs lassen mussten, liegt wie Blei im Magen des Lesers.

Das Handlungsschema erinnert stark an Spielfilme wie L.A. Crash, Traffic oder Babel. Mehrere Handlungsfäden sind locker miteinander verknüpft und überlappen sich teilweise, wobei die Story um die Studentin Marthe Müller stets der Hauptfaden bleibt. Dieses für ein Comic sicherlich recht komplizierte „Storytelling“ ist dabei handwerklich hervorragend gelöst worden. Die Handlung ist flüssig und stets spannend und interessant ohne sich dabei in zu viele Einzelheiten zu zerfallen.


Zeichnerisch hält sich Lutes dabei an klare Linien, ähnlich wie denen von Herges Tim&Struppi. Einflüsse damaliger zeitgenössischer deutscher Maler wie Dix oder Zille meine ich dabei zu erkennen. Das besondere ist dabei, dass er sich vor allem mit den vielen Hintergründen sehr viel Zeit genommen haben muss, so fein und detailreich sind diese skizziert. Die Personen im Vordergrund bleiben dagegen rudimentär. Das gibt den Zeichnungen eine Tiefe und Plastizität und lässt dem Betrachter die Bewegungen und Handlungen zwischen den Einzelbildern, obwohl tatsächlich nicht vorhanden, als geschehen erscheinen.

Eine der wohl nach meiner Auffassung am besten zeichnerisch gelösten Situationen, die ich jemals gesehen habe, wurde auf Seite 25 (Juli 1929) vollbracht. Leider traue ich mich rechtlich nicht, diese hier einzustellen. Daher hoffe ich, dass ich hier die passende Beschreibung finde:
Die gesamte Seite ist in 10 Einzelbildern in 4 Reihen eingeteilt. Die ersten beiden Panelreihen beschreiben eine Diskussion eines jüdischen Händlers mit seinem Sohn auf insgesamt vier Einzelbildern in zwei Reihen. Diese 4 breitformatigen Panels sind ohne Hintergrund und lassen die Spannung unter den beiden zum zerreißen werden. Die dritte Panelreihe lässt die Spannung wieder senken, der Sohn erklärt sich dem Vater. Dabei sind die beiden äußeren Bilder dieser 3. Reihe im Hochformat und ebenfalls ohne Hintergrund. Das dazwischen liegende mittlere Panel bildet das Zentrum der gesamten Seite und ist das größte Bild mit detailliertem Hintergrund. Dieses Bild bildet die Mitte der Seite, um die alle anderen 9 Bilder der Seite förmlich herumtanzen. Danach folgen die drei unteren Bilder mit Hintergrund, in dem Szene abgeschlossen wird. Wie hinter einer Kamera beobachtend verlässt der Leser darin die Szenerie entgegengesetzt der Laufrichtung der Protagonisten.

Was mich etwas irritiert, sind die nicht vorhandenen Hakenkreuze auf Bannern und Armbinden. Dass diese Hakenkreuze fehlen, ist im übrigens Schade. Die hakenkreuzlosen Banner und Armbinden des ansonsten so faktentreuen Comics vermitteln mir mitunter das Gefühl, von einer imaginären Diktatur in einem utopischen Werk zu Lesen.

Ach ja, zwei Fragen habe ich noch. Vielleicht können mich die Eingeweihten von Euch bei meiner folgenden Frage etwas aufklären:
- Handelt es sich bei der feminin argumentierenden Journalistin „Helene“ auf der Redaktionskonferenz der „Weltbühne“, um die Frauenrechtlerin Helene Lange?
- Der Liedtext des „Horst Wessel-Liedes“ nach dessen gewaltsamen (und übrigens gut recherchierten Tod) ist abgedruckt, obwohl es, wie ich meine, heute als NS-Lied verboten ist.

Nochmals ach, ja: Wer Erotik in Comics über dicke Titten und Latexkostüme von Miss Marvel und Co. definierte, wird, wenn er dieses Comic gelesen hat, ganz sicher eine höhere Evolutionsstufe erreichen.
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