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Alt 20.09.2009, 18:23   #55  
Peter L. Opmann
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Resümee

Ich will ein Resümee versuchen. Es war ziemlich leicht für mich, aus meiner Sammlung die Williams-Marvels herauszuziehen, die in meiner Kindheit von besonderer Bedeutung waren. Was diese Bedeutung ausgemacht hat, war schon deutlich schwieriger zu ermitteln. Kein Wunder: den kleinen Jungen von damals gibt es nicht mehr. Nach rund 30 Jahren kann ich mich kaum noch in seine Gedankenwelt hineinversetzen. Warum es die Marvels waren, die mich faszinierten, und nicht Superman, Tarzan, Phantom oder andere Comics, läßt sich nur schwer erklären. Eine Rolle spielen dürfte die Fremdartigkeit dieser Superheldenwelt (ich erinnere an den Hulk, der ja eigentlich noch aus der Monster-Ära der Marvels stammt, oder an meine eigentümliche anfängliche Angst vor der Spinne). Später war dann das Soap-Element der Serien, besonders der Spinne, ausschlaggebend. Ich lebte in gewissem Sinn mit den Marvel-Figuren.

Wenn man an Dingen aus seiner Kindheit hängt, wird das oft als eine spezielle Form von Nostalgie gedeutet: Man sehnt sich zurück in eine Zeit, als das Leben noch einfach und überschaubar war. Man will sich nicht den Problemen der Gegenwart stellen. Ich glaube nicht, daß dieser Aspekt bei mir eine größere Rolle spielt. Es ist wohl eher so, daß die Comics Teil meiner Kulturerfahrungen sind. Das wird um so deutlicher, als gerade zunehmend Comicverfilmungen ins Kino kommen. Da läßt sich die Hollywood-Ästhetik mit der vergleichen, die die Comiclektüre in meinem Kopf hinterlassen hat.

Im Kino habe ich einmal eine bemerkenswerte Erfahrung gemacht. Als ich etwa 22 Jahre alt war, habe ich Jean-Jacques Beineix’ „Betty Blue“ gesehen und war von der verrückten Liebesgeschichte hellauf begeistert. Kurz darauf las ich eine Rezension des Kritikers Peter Buchka, der in ironischem Ton die muffige Spießermoral in diesem Film bloßlegte. Er war im Gegensatz zu mir auf die rebellisch-romantische Fassade des Films nicht hereingefallen, weil er einfach über mehr Seherfahrung verfügte als ich. Und ich habe darauf meine Meinung über „Betty Blue“ geändert. Bei den Marvels passiert mir das nicht. Ich bin jetzt gleichsam selbst in die Buchka-Rolle geschlüpft und habe mir die Hefte aus einer reiferen Perspektive noch einmal angesehen. Sicher, man sollte hier gewiß nicht von Kunst reden. Diese Comics sind ein Massenprodukt. Man macht durchs Lesen keine bedeutsamen Erfahrungen, man wird nicht einsichtiger, wie das bei wirklichen Kunstwerken der Fall ist. Aber ich finde zumindest, ich habe mich damals als Teenager nicht unter Niveau unterhalten.

Allerdings kann ich der Rolle des Kulturpessimisten nur schwer entkommen. Wenn ich mir die Marvels betrachte, muß ich sagen: Früher war alles besser. Die Phase, in der die wichtigsten Serien erfunden wurden, 1961 bis etwa 1964, nötigt mir Respekt ab, weil Zeichner wie Jack Kirby und Steve Ditko zusammen mit Stan Lee innerhalb relativ kurzer Zeit völlig neue Ikonographien entwickelt haben, die dann auch im wesentlichen Bestand hatten. Dann kam eine Zeit bis etwa Anfang der 70er Jahre, in der die Marvel-Mitarbeiter aus dem Material sehr viel Phantasievolles und Überraschendes herausgeholt haben. Danach begann ein allmählicher Abstieg hin zu gelangweilter Routine, geistloser Wiederholung und hilfloser Variation, wovon in meinen Augen die Marvel-Comics bis heute gekennzeichnet sind. Insofern war es gut, die Williams-Ära großenteils miterlebt zu haben. Als „Die Spinne“ mit der # 137 eingestellt wurde, war es allmählich Zeit, mit dem Lesen dieser Sachen aufzuhören.

Wenn ich nochmal darüber nachdenke, muß ich die Aussage aus dem letzten Absatz doch teilweise wieder zurücknehmen. In den 70er Jahren war ich bereit, jedes neue Heft zu lesen, auch wenn immer wieder mal schwächere darunter waren. Heute bin ich dazu nicht mehr bereit, obwohl ich vielleicht feststellen würde, daß ganz gute Sachen dabei sind, wenn ich die Serien nur regelmäßig lesen würde. Damals hatte ich nicht viel Erfahrung und habe alles - auch ziemlich kritiklos - in mich aufgesogen; heute rechne ich mit einem müden Aufguß und spare mir "Civil War" oder ähnliches von vorne herein. Da kommt doch Nostalgie ins Spiel: die alten Sachen sehe ich eher positiver als sie waren, die Comics von heute vielleicht eher negativer.
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