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Alt 14.10.2021, 10:47   #51  
Tilberg
Mr. Lexikon
 
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"hättet gerne" ist so eine Sache. Eigentlich sehe ich da keinen großen Änderungsbedarf, da es sich ja nicht um historische Fachliteratur handelt, und wenn man den Standard beibehält und nicht immer nur eine Kultur die Aggressoren liefert und die andere die heldenmütigen Verteidiger, ist es soweit kindgerecht okay.

Historisch gesehen ist es freilich ein anderes Ding, wenn wir mal bei den Kreuzzügen bleiben. Man darf sich vielleicht in Erinnerung rufen, daß der mittelalterliche Zivilisationskern Europas, also West-, Süd- und Mitteleuropa, seit dem Ende der römischen Expansion - im 3. Jahrhundert - zwar eine fast ununterbrochene Reihe an internen Kriegen gesehen hat, aber bis ins 11. Jahrhundert praktisch keine aggressive Außenpolitik betrieben hat. Stattdessen war man permanentes Ziel fremder Aggressoren: Germanen, Sarmaten, Hunnen, Awaren, Ungarn aus dem Osten, Wikinger aus dem Norden, Araber aus dem Süden. Die Germanen wurden, nachdem sie das Weströmische Reich übernommen hatten, quasi "eingemeindet" und nahmen nun ihrerseits die Verteidigungshaltung ein. Den außereuropäischen Angreifern ist es immer wieder gelungen, große Landstriche zu erobern und ansonsten permanent zu plündern und zu brandschatzen. Der gefährlichste Feind für Westeuropa waren sicherlich die Araber in Spanien, und dort konzentrierte sich ab dem 7. Jahrhundert die Abwehr. Sehr, sehr langsam, von mehreren großen Rückschlägen begleitet, gelang dort die Rückeroberung. Byzanz wiederum blieb der Verteidiger im Südosten, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Mehr war lange Zeit nicht drin.

Erst im 11. Jahrhundert gab es eine, wenn auch arg begrenzte, Änderung. Im Süden wurde Sizilien erobert. Im Nordosten ging man dazu über, die wenigen noch nicht christianisierten slawischen Gebiete zu übernehmen (kriegerisch und missionarisch). Und nachdem Byzanz als Bollwerk gegen die Araber und Türken zu fallen drohte, ging man auch im Südosten erstmals in die Gegenoffensive. Diese Offensive - die Kreuzzüge - blieb aber mehr oder weniger stecken. Mehr als einen schmalen Küstenstreifen hat man nicht dauerhaft besetzen können, und nach 200 Jahren war das ganze Spiel wieder vorbei. Stattdessen erfolgte der nächste Großangriff aus dem Osten, nunmehr die Osmanen, und die blieben bis ins 17. Jahrhundert eine existentielle Bedrohung. Endgültig aus Europa rausgeworfen wurden sie ja erst im 20. Jahrhundert.

Was die ganze Sache schließlich entschieden hat und den endgültigen Siegeszug des Westens ermöglichte, war die Entdeckung Amerikas (natürlich kamen noch viele andere Faktoren hinzu, aber das war der bedeutendste). Ab dann war Europa überall auf dem Vormarsch und die alten Feinde aus dem Osten und Süden hatten irgendwann nichts mehr entgegenzusetzen.

In groben Linien zusammengefaßt kann man also sagen, daß die Kreuzzüge in weit mehr als einem Jahrtausend - von 300 bis lange nach 1500 - der einzig nennenswerte und zudem sehr begrenzte Angriff des Westens auf den Osten war, und auch der erfolgte nur, weil nach der Zerschlagung der byzantinischen Verteidigung durch die Seldschuken das Einfallstor im europäischen Südosten sperrangelweit offen stand. Ein kurzer Versuch also, den Krieg auf das Gebiet des Feindes zu verlagern, der vermutlich Europa vor einer muslimischen Invasion bewahrt hat. Bis auf den Ersten Kreuzzug waren die anderen zudem fast alle politische und militärische Fehlschläge.

Von daher darf man bezüglich der angeblichen ständigen Aggression des Westens auch mal etwas deutlicher argumentieren, insbesondere wenn die Kreuzzüge im politischen Diskurs mit dicken Krokodilstränen als Ursünde Europas geschildert werden, vom politischen Islam und seinen strunzdummen westlichen Verbündeten. Das ist genauso falsch wie die Darstellung von 9/11 als unprovozierter Angriff des Ostens auf den Westen. Nein. Der tatsächliche und schließlich entscheidende Angriff Europas erfolgte erst ab 1500 (zunächst Amerika und Afrika) bzw. ab 1800 (Naher Osten). Über diesen Siegeszug kann man dann gerne geteilter Meinung sein (die vielen Verbrechen in der Kolonialgeschichte sind z.B. nicht wegzudiskutieren), genau wie in der Frage, ob er nicht inzwischen zu Ende ist und sich das Blatt erneut wendet.

Geändert von Tilberg (14.10.2021 um 11:35 Uhr)
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