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Alt 04.06.2023, 17:55   #233  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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  • Heinrich Mann: Der Untertan (Kurt Wolff Verlag 1918)
  • Der Untertan (Deutsche Demokratische Republik 1951), Drehbuch: Wolfgang Staudte und Fritz Staudte, Regie: Wolfgang Staudte, 109 min, FSK: 12 (früher 16)
Heinrich Mann steht im Schatten seines Bruders Thomas Mann, der als das größere literarische Schwergewicht etabliert ist; dennoch ziehe ich persönlich Heinrich Mann ihm vor. Was literarische Tricks und Kniffe, Raffinesse und Finesse angeht, mag Thomas der bessere gewesen sein, aber er war auch der Abgehobenere und Weltfremde. Heinrich Mann bleibt er den erzählerischen Traditionen verhaftet und bleibt formell auf der sicheren Seite, sein Vorzug liegt aus meiner Sicht in seiner Bodenständigkeit und seinem Gespür, eine Mentalität in Worten auf den Punkt genau getroffen zu haben.
Der Untertan ist unbestritten ein Meisterwerk der Literatur des 20. Jahrhunderts, der einen Zeitgeist porträtiert und darüber hinaus zeitlos ist. Denn Leute, die ihr Fähnchen in den Wind hängen, jede Mode mitmachen, nach oben buckeln und nach unten treten, die gibt es heute, und in Zukunft wird es sie auch noch geben. Ich weiß nicht, ob der von Diederich Heßling verkörperte typisch deutsch ist, mir scheint er eher ein Verteter der menschlichen Spezies schlechthin.
Heinrich Mann fokussiert zwar auf eine spezifische historische Situation, Preußen unter Kaiser Wilhelm II., trifft aber einen gewissen Habitus, der sehr verbreitet ist. Ich sehe Mann in der Tradition der besten Werke von Zola. Seine satirischen Spitzen haben die Qualität des Simplizissimus.

Soweit ich weiß, gehörte die Verfilmung von Wolfgang Staudte lange Zeit zur Schullektüre; leider gehörte ich nicht zu den Glücklichen, den Prestigefilm der DEFA habe ich erst vor wenigen Tagen in der Mediathek gesehen. Nach allem, was ich über den Film wußte, war ich neugierig und hegte hohe Erwartungen. Vor Ewigkeiten hatte ich mal die Denkmalszene in einer Serie mit filmischen Kabinettstückchen gesehen, das war es dann auch schon.
Einige Wochen früher habe ich Oberst Redl in der arte-Mediathek gsehen, weil ein Geschichtsyoutuber den als den besten historischen Film anpries; in seiner Rezension meinte, der Film von István Szabó sei die k.u.k.-Version von Der Untertan. Jetzt, da ich beide Filme kenne, finde ich den Vergleich treffend, wenngleich es doch deutliche Unterschiede gibt.
Diederich Heßling ist ein Student, ein Fabrikant und ein Schwadroneur, all das hängt eine Stufe niedriger als der verhängnisvolle Spionageplot in Oberst Redl. In seiner Entstehungszeit war der Stoff dennoch brisant, umso mehr als er jenseits des Eisernen Vorhangs in der Sowjetzone entstand. Deshalb war er in der Bundesrepublik zunächst fünf Jahre lang verboten und kam erst in einer gekürzten Fassung in die Kinos. Bis 1971 dauerte dieses Verdikt, dann lief auch die vollständige Fassung in Westdeutschland.
Weil ein Erzähler raffend Heßlings Kindheit aus dem Off kommentierte, dachte ich, das ginge im restlichen Film weiter, doch ich wurde glücklicherweise enttäuscht. Zunächst hatte ich Sympathien für den kindlichen Diederich, besonders wenn er an Kotzbrocken wie den geckenhaften Studenten bei den Göppels geriet, aber die verflogen rasch, sobald sich Heßling in der schlagenden Verbindung dem Korpsgeist anpaßte und immer mehr selbst zum Arschloch wurde. In den Szenen mit seiner Familie erinnerte er mich nach dem Tod seines Vaters an eine Blaupause für Ekel Alfred Tetzlaff.

Geändert von Servalan (11.07.2023 um 12:03 Uhr)
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