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Alt 11.05.2023, 16:52   #229  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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  • Robert Schneider: Schlafes Bruder. Roman (Reclam Verlag Leipzig 1992)
  • Schlafes Bruder (Deutschland 1995, Senator Film Produktion), Drehbuch: Robert Schneider, Regie: Joseph Vilsmaier, 127 min, FSK: 12
Bei Süskinds Parfum mußte ich unweigerlich an zwei andere Erfolgsromane aus dem deutschsprachigen Raum denken, weil die etwas gemein haben: Alle drei drehen sich um das Schicksal besonders begabter Männer und sind hierzulande Millionenseller geworden. Da scheint wohl beim Publikum ein Nerv getroffen worden zu sein.
Der erste und früheste der drei Bestseller ist Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit (Piper 1983) über den englischen Kapitän und Polarforscher John Franklin. Obwohl der kommerzielle Erfolg mit 1,8 Millionen Exemplaren in über 20 Sprachen bis 2017 vergleichsweise bescheiden daherkommt, wird er als Hochliteratur geadelt, denn Sten Nadolny gewann 1980 mit einem Kapitel aus seinem unveröffentlichten Roman das Wettlesen am Wörthersee, also den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt. Wegen des Themas, sprich dem Kampf gegen Kälte und Eis, ist er bis heute unverfilmt.
Dagegen ging es bei Schlafes Bruder relativ fix.
Diesen Roman habe ich mir in einer gebundenen Sonderausgabe im Schuber gegönnt, die aber relativ günstig gewesen muß, oder ich habe sie mir Second Hand besorgt, denn mein Verlangen hielt sich in Grenzen. Bei dem Thema mußte ich immer an Wilhelm Buschs Onepager über den Virtuoso denken. Der Österreicher Schneider faßt sich mit 200 Seiten relativ kurz, schildert das frühe 19. Jahrhundert in einem abgelegenen Bergtal jedoch in einer altertümlichen Kunstsprache. Einerseits war er gewissermaßen ein Nachzügler, andererseits ist der Held weder ein Entdecker noch ein Kreativer, vielmehr ist Elias nur ein Interpret, wenn auch ein genialer.
Ich fand den Roman mittelprächtig, zumal ich mich nicht gelangweilt habe. Mir kam er bloß ziemlich gekünstelt vor. Diese Distanz spiegelt sich auch in der Kritik Robert Schneider, dessen zweites Buch vom Feuilleton regelrecht genüßlich geschlachtet wurde. Schneider hat zwar noch weitere Romane veröffentlicht, allerdings bleibt die Resonanz bescheiden.

Joseph Vilsmaier fing als Kameramann an, bevor er Regisseur wurde und gewissermaßen ein Markenprodukt entwickelte. Sein Fokus liegt dabei auf Heimatfilmen vor bayrischer Kulisse oder auf deutscher Zeitgeschichte mit Prominenten wie Marlene Dietrich oder den Comedian Harmonists. Handwerklich hat er passable Qualität geliefert und sich damit einen Namen gemacht, obwohl die Kritik eher verhalten reagierte. Schlafes Bruder paßt somit in sein Beuteschema.
Vilsmaier zeigt das einsame Bauerndorf Eschberg als eine romantisierte Idylle, in der die armen Bewohner in bescheidenen Verhältnissen leben. Weitgehend läuft das in Optik eines Fernsehfilms von der Stange, lediglich Elias' großer Moment beim Orgelwettbewerb in Feldberg wird als Money Shot inszeniert. Möglicherweise liegt es daran, daß das Drehbuch auch von Schneider stammt, daß die Großproduktion an der Oberfläche bleibt und ein pittoresk fotografiertes Bergdrama zeigt, nach dem heute wohl kein Hahn mehr kräht.

Geändert von Servalan (12.05.2023 um 11:39 Uhr)
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