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Alt 25.01.2010, 11:33   #869  
michidiers
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Vertraute Fremde
von
Jiro Taniguchi

Jahrelang war der Architekt Hiroshi Nakahara nicht mehr in seinem Geburtsort. Als es ihn durch einen versehentlich falsch genommenen Zug nach vielen Jahren dorthin verschlägt, besucht er das Grab seiner Mutter. Dort verliert er das Bewusstsein. Als er wieder erwacht, steckt er in seinem Körper als 14 jähriger Junge im April 1963. Er fügt sich in den Alltag einer verdrängten Kindheit und seiner vergessenen Familie, alles mit dem Verstand eines Erwachsenen. Diese Situation bietet ihm die einmalige Chance herauszufinden, was im August 1963 wirklich geschah. Damals verlies der Vater die Familie und markierte damit das Ende der scheinbar intakten Welt…

Der Titel hätte wirklich nicht besser sein können. Die beiden Wörter –vertraut- und –Fremde- sind an sich ein Widerspruch und assoziieren solche Gegensätze wie Nähe-Distanz. Und davon erzählt auch diese Geschichte. Was der 48-jährige Hiroshi, inzwischen Architekt in Tokio und mit eigener Familie, längst vergessen und verdrängt hat, lässt der Autor in diesem wundervollen Werk langsam und behutsam wie ein Lebensmosaik wieder zusammenführen. Er benutzt dafür wieder seine für ihn so typisches Artwork mit genau detaillierten Hintergründen und zeichnerisch recht einfach gehaltenen Personen und Gesichtern.

Seine Erzählung ist gekonnt ruhig und unspektakulär. Sehr langsam und behutsam werden Leser und Hiroshi gemeinsam an das Leben der 60er Jahre und die Auflösung der Ereignisse herangeführt. Dabei scheint der Leser nahezu mit dem Protagonisten zu verschmelzen.

Das Japan der 60er Jahre, kurz vor den Olympischen Spielen erleidet einen einschneidenden Umbruch von einem ausschließlich traditionell geprägten Land hin zu einem modernen Technologiestandort mit westlichen Einflüssen. Dieser Umbruch ist in der kleinen Geburtsstadt Kurayoshi noch nicht angekommen. Rituale, Traditionen, Architektur, Moral zeigen im Comic noch auf ein traditionelles Leben auf. Der Leser ahnt aber schon den sich nahenden Wechsel der Verhältnisse. Dieser Umbruch zieht sich auch durch die Familie, zunächst unerkannt, zum Ende hin aber immer offensichtlicher.

Die Spannung wird langsam aufgebaut. Es stellt sich die Frage, ob mit seinem erwachsenen Verstand seinen Vater von seinem Vorhaben abhalten kann. Und falls das gelingt, welche Auswirkungen wird das auf die zukünftigen Ereignisse haben. Dabei ist der Auftritt eines Schmetterlings bei der Bewusstlosigkeit Hiroshis eine schöne zeichnerische Metapher zum „Schmetterlingseffekt“.

Die Grafik Novel umfasst sage und schreibe 400 (!) Seiten und liest sich beinahe wie ein Buch gleicher Dicke. Diesen Stoff locker an einem Abend in sich aufzunehmen, halte ich fast für unmöglich. Ich habe dafür bald eine Woche gebraucht. Gelohnt hat sich das auf jeden Fall, denn gerade die Leser über 30 mit einer zeitlichen Distanz zur Kindheit werden sich damit identifizieren können und immer wieder fragen: Was hätte ich wohl damals anders gemacht?
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