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Alt 20.05.2018, 16:21   #96  
Servalan
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Rashomon – Das Lustwäldchen | 羅生門 (Japan 1950, Daiei Film Co. Ltd.), Drehbuch: Shinobu Hashimoto | 橋本 忍 und Akira Kurosawa | 黒澤 明 nach den Kurzgeschichten "Rashomon | 羅生門" (1915) und "Im Dickicht | 薮の中" (1922) von Ryūnosuke Akutagawa | 芥川 龍之介, Regie: Akira Kurosawa | 黒澤 明, 88 min schwarzweiß, FSK: 16

Der kommerzielle Film nutzt für gewöhnlich bestimmte Konventionen, damit das allgemeine Publikum weiß, was es im Kino zu erwarten hat. Diese Konventionen hängen davon ab, was in einer bestimmten Region und zu einem bestimmten Zeitpunkt schon beim Publikum als bekannt vorausgesetzt werden kann. Diese Konventionen ändern sich deswegen eher schleichend und wirken eher unbewußt. Sie fallen erst ins Auge, wenn Werke im Rückblick als veraltet, überholt oder langweilig erscheinen.
Allerdings sollte ein Werk ein Quentchen Überraschungen bieten, um sein Publikum zu locken. In der Filmgeschichte gibt es deshalb immer wieder Werke, in denen sich das experimentelle Kino oder die künstlerische Avantgarde mit dem kommerziellen Kino für das breite Publikum überschneiden.

Innerhalb der Kunst entwickeln sich die einzelnen Bereiche wie Literatur, Bildende Kunst oder Film jeweils eigenständig, so daß sie ihre eigene Geschichte, Ästhetik und Theorie haben. Was sich in einem Bereich etabliert hat, kann deshalb zum Beispiel 50 Jahre später in einem anderen Bereich als revolutionäre Neuerung gefeiert werden.
Gebrochen wird diese Entwicklung durch Sprachbarrieren und die jeweiligen Industrien oder Branchen in verschiedenen Ländern. Obwohl Rashomon seit seiner Erstausstrahlug unter den filmischen Meisterwerken rangiert, haben sich die Kriterien im Laufe der Jahrzehnte gewandelt.
Denn Rashomon zeichnet sich durch zwei Ereignisse aus, die per se nichts miteinander zu tun haben: Zum einen prägte er als einer der ersten Filme aus Japan über Japan westliche Vorstellungen über das exotische Land in Fernost. Akira Kurosawa galt für westliche Kinokritiker als Vertreter eines sehr japanischen Kinos, obwohl Kurosawa in seinem Heimatland eher als Vertreter eines europäisch-amerikanischen Kinos wahrgenommen wird, der im Ausland höher geschätzt wurde als in Japan (ähnlich wie Jiro Taniguchi im Comicbereich).

In Rashomon verdoppelt und verdreifacht sich dieser Effekt. Filmhistoriker Donald Richie schreibt in seiner japanischen Filmgeschichte, daß die Besatzer aus den USA anfangs Samuraifilme verboten haben, weil sie als reaktionär galten. Kurosawas Verflmung zweier Kurzgeschichten des japanischen Edgar Allan Poe Ryūnosuke Akutagawa (1882 - 1927) basiert auf einer alten japanischen Legende. Der produktive Akutagawa nutzte als einer der ersten japanischen Literaten europäische Erzählformen. Der exotische Blickwinkel hat zunächst die Wirkung im Westen bestimmt, mittlerweile ist er belanglos geworden.

Diese Entwicklung zeigt sich zum Beispiel darin, wenn heute vom Rashomon-Effekt (Philosophie, Komunikationswissenschaften und Ethnographie) oder vom Rashomon-Prinzip (Journalistik) die Rede ist. Der Rashomon-Effekt beschäftigt sich mit dem Umstand, daß Zeugenaussagen leider unzuverlässig sind. Auf einer weiteren Ebene stellt sich die Frage, wie objektiv eine allgemein gültige Realität sein kann.
Im westlichen Kino galt lange die Konvention, daß Filmfiguren zwar lügen können, bis sich die Balken brechen, die Kamera aber nur das zeigt, was wirklich passiert ist. Unzuverlässiges Erzählen gehört in der Literatur hingegen zum Standardrepertoire, dessen Formenrepertoire von den Schelmenromanen eines Grimmelshausen oder Cervantes de Saavedra bis zu Virginia Woolf und James Joyce reicht.

Rashomon heißt im alten Edo eines der Stadttore, in dessen unmittelbarer Nähe ein Verbrechen geschehen ist: Die Frau eines Holzfällers wurde vor drei Tagen in einem Wäldchen vor besagtem Stadttor verwaltigt und ermordet.
Während eines Sturmes erfährt ein Passant davon und bekommt acht verschiedene Versionen des Verbrechens zu hören, die allesamt als Rückblenden gezeigt werden. Wie er wird das Publikum jedoch nie erfahren, welche Version der Wirklichkeit am nächsten kommt.

2003 nahm die Bundeszentrale für politische Bildung den Film ihren Kanon auf, der heute beispielsweise an Schulen gelehrt wird. In internationalen Bestenlisten rangiert das Werk häufig unter den Top 10 bis Top 50.
Hinzu kommen seither weltweit bisher drei Remakes: Martin Ritt verfilmte den Stoff 1964 in dem Western The Outrage | Carrasco, der Schänder; 2004 erschien der südindische Actionfilm Virumaandi (Regie: Kamal Haasan) auf Tamilisch; zuletzt debütierte Rakshit Shetty mit dem Neo-Noir-Krimi Ulidavaru Kandante | As Seen by the Rest (Indien 2014), in dem die dravidische Sprache Kannada [sic!] gesprochen wird.
Außerdem sollte in diesem Zusammenhang der Politthriller 8 Blickwinkel | Vantage Point (USA 2008, Regie: Pete Travis, 90 min, FSK: 12) erwähnt werden. Er basiert ebenfalls auf dem Rashomon-Effekt, obwohl er nicht zu den Remakes gezahlt werden darf.

Geändert von Servalan (24.03.2024 um 11:20 Uhr)
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