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Alt 16.03.2023, 14:27   #223  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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  • Marquis Donatien Alphonse François de Sade: Les Cent Vingt Journées de Sodome, ou l'École du libertinage (1785 geschrieben, erstmals 1904 veröffentlicht) | Die 120 Tage von Sodom oder die Schule der Libertinage (Privatdruck 1909, Könemann 1995)
  • Salò o le 120 giornate di Sodoma | Salò oder Die 120 Tage von Sodom (Italien / Frankreich 1975), Drehbuch: Pier Paolo Pasolini, Sergio Citti und Pupi Avati, Regie: Pier Paolo Pasolini und Randy Barbato, 145 min (ungekürzte Fassung) bzw. 117 min, ungekürzte Fassung ohne FSK-Freigabe bzw. FSK: 18
Ob ich zu diesen beiden Werken eine Rezension verfasse, damit habe ich lange mit mir gerungen. Aber beide finden sich in der Wikipedia und stellen einen grotesken Fall dar, denn sie flirten mit ihrer eigenen Ungenießbarkeit. Ich kann jeden verstehen, der den Schinken von de Sade entrüstet in die Ecke pfeffert, weil der ihn so anwidert; und andererseits habe ich schon mehrere Filmvorführungen erlebt, in denen eigentlich aufgeschlossene Besucher das Kino angesichts der Obszönitäten angewidert nach wenigen Minuten verlassen haben. Wir haben es aus meiner Sicht mit einem Anti-Buch und einem Anti-Film zu tun, die unerträglich unangenehm sein wollen. Die Werke sind also bei einem Lektüreabbruch nicht gescheitert, vielmehr haben sie einen höheren Zweck erreicht und sich als bittere Erfahrung in das persönliche Erleben eingegraben.

De Sade war lange Zeit mit einem Bann belegt, und seine Werke waren - zumindest in meiner Kindheit - nur unter dem Ladentisch oder bei obskuren Versandbuchhandlungen zu Mondpreisen ausschließlich für Erwachsene zu bekommen. Insofern bildete der Name des Marquis eine Art Mythos der perversen Verderbtheit, ein Ausbund eines feudalen Lüstlings, vor dem niemand sicher war, ein monumentaler Erotomane, der eher wegen seiner Obsession bekannt geworden ist und weniger wegen seiner Qualität. Er fiel in die Kategorie übelste Pornographie und die widersprach jeder Form des geringsten literarischen Anspruches.
Umso überraschter war ich, als 1995 in den Universitätsbuchhandlungen plötzlich Paletten einer günstigen Werkausgabe in fünf Bänden bei Könemann erschienen. Neugierig geworden, legte ich mir die zu. Ich habe beileibe nicht alle Bände komplett durchgelesen, aber je mehr ich von ihm las, desto deutlicher erkannte ich seine Qualitäten, zumindest in der Auswahl, die ich zur Verfügung hatte.
Ähnlich wie Russ Meyer im Film zieht Marquis de Sade tradierte Erzählformen durch den Kakao und macht sich über deren Prinzipien lustig, indem er sie auf den Kopf stellt oder Purzelbäume schlagen läßt. Denn de Sade ist durchaus in der Lage, seine Tonlage zu verstellen und mit Mustern zu spielen, obwohl seine Fixierung auf Sex Schlimmes befürchten ließe. Sowohl in der Prosa als auch im Theater weiß er zu glänzen.

Die 120 Tage von Sodom haben einen experimentellen Touch und wirken weniger wie ein Buch aus dem 18. Jahrhundert, sondern eher wie ein postmoderner Schelmenroman. So nutzt er das grobe Muster einer streng mathematischen Mechanik, die wie im Decamerone das Erzählen die grausamen Handlungen strukturiert. Wie bei einem Kartenspiel haben wir es mit vier Ordnungen zu tun, an deren Spitzen die Libertins stehen, die die Orgie organisieren. Die vier Libertins sind ältere Edelmänner: Der Herzog von Blangis; sein Bruder, der Bischof; der pensionierte Richter Präsident Curval und der bürgerliche Steuerpächter Durcet stellen Typen der obersten Gesellschaft dar, die zwar diesen niederträchtigen Vertrag miteinander eingehen, aber sich eigentlich gegenseitig hassen und verachten.
Außerdem laufen die Tage nicht gleichmäßig ab. Wie in einem Rollenspielbuch beginnt der Roman mit einer exzessiven Charakteristik der Hauptfiguren bis in die entlegensten Details. Diese Zeitlupe nimmt im Laufe der Handlung ab und wird einer technizistischen Bürokratie überwuchert, die buchhalterisch einzelne Aktionen verzeichnet und durchnummeriert.
Das Manuskript entstand 1785, als de Sade in der Bastille einsaß und besteht aus einer zwölf Meter langen Rolle, die der Marquis in 37 Tagen vollgeschrieben hat.

Pasolini interpretiert in seiner Verfilmung die Handlung als Vorlage für einen zeitgeschichtlichen Kommentar, der den Stoff in die Gegenwart transponiert. Denn das im Titel erwähnte Salò war das ferne Echo des Faschismus, nachdem der italienische Diktator Benito Mussolini zunächst gestürzt worden war und ab 1943 nur noch über einen Rumpfstaat herrschte, der von deutschen Besatzern geschützt wurde, bis das Marionettenregime 1945 fiel.
Der Film beginnt mit Szenen, in denen die Opfer bei Menschenjagden gefangen und auf Lastwagen in ihr schloßähnliches Gefängnis verfrachtet werden. Hier werden sie gedemütigt, vergewaltigt und gefoltert, bis die Libertins ihrer überdrüssig werden und sie ermorden lassen.
Bei meinen Vorführungen wurde der indizierte Film durch einen begleitenden Vortrag eingeleitet, zudem durften nur Personen ab 18 Jahren zuschauen. Bei dem Film habe ich mich gerne in die letzte Reihe gesetzt, weil ich es aufschlußreich fand, wie sich das Publikum verhielt. (Meine zwei oder drei Vorführungen besuchte ich, bevor der Begriff Tortureporn geläufig wurde.)

Beide Werke halte ich für einen Lakmustest, um herauszufinden, ob der persönliche moralische Kompaß noch funktioniert.

Geändert von Servalan (16.03.2023 um 14:50 Uhr)
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