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Alt 13.02.2023, 14:17   #222  
Servalan
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  • Bertolt Brecht (Text) / Kurt Weill (Musik): Die Dreigroschenoper, Uraufführung: Theater am Schiffbauerdamm, Berlin am 31. August 1928
  • Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm (Deutschland / Belgien 2018, Zeitsprung Pictures GmbH, Velvet Films, Südwestrundfunk, Arte, Rundfunk Berlin-Brandenburg und Norddeutscher Rundfunk), Drehbuch und Regie: Joachim A. Lang, 135 min, FSK: 6
Der Film nimmt Anleihen bei Brechts Epischem Theater, indem die Inszenierung immer wieder unterbrochen und das Publikum direkt angesprochen. Der künstlerisch radikale Ansatz beginnt mit den Vorbereitungen der Uraufführung der Dreigroschenoper im Theater am Schiffbauerdamm, wo hinter den Kulissen ein finanzielles Desaster befürchtet wird, weil Brecht politischer Ansatz das Publikum verschrecken könnte. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, denn das Publikum ist begeistert und so wird das Theaterstück mit Musik zum erfolgreichsten Stück auf deutschen Bühnen bis 1933.

Die Verfilmung selbst wird zum Thema des Film; in einer fiktiven Alternativen Geschichte pitcht Brecht seinen Erfolg beim Produzenten der Nero Film, Seymour Nebenzahl, und die Zuschauer sehen, wie Brechts Worte Gestalt annehmen und zu Filmszenen werden.
In einer Mischung aus Making of und Reaction Video kommentieren die beiden Verhandlungspartner das Geschehen, manchmal aus dem Off, häufig erscheinen sie jedoch im Set. Während der Produzent gute emotionale Unterhaltung bieten will, versteht Brecht den Film als symbolisch verschlüsselten politischen Kommentar zum aktuellen Zeitgeschehen. Je länger der Film fortschreitet, umso schärfer wird der Konflikt; die Verfilmung droht zu scheitern, denn in zwei Prozessen kämpfen Brecht und Weill gegen die Nero Film um ihre künstlerische Freiheit.
Der Film spiegelt den Bruch durch ein alternatives Ende, in dem Polly nicht mehr durch Mackie Messer umgebracht wird. Vielmehr verwandeln sich die 30er Jahre in eine Gegenwartskulisse, wo sich das Geschehen zwischen der Straße und einer futuristischen Bank sowie einem Gefängnis abspielt.

Über die Freigabe ab 6 Jahren wundere ich mich schon, denn das übervoll ausgestattete Ensemble mit einer Kleidung, bei der Fetisch anklingt, und der Wimmelbildcharakter der Revueszenen können selbst erwachsene Zuschauer überfordern. Der ausformulierte Subtext darüber, wie Wirtschaft und Politik in einer bürgerlichen Welt funktionieren, hat etwas von einem Universitätseminar.
2018 eröffnete die Uraufführung dieses Films das Filmfest München, was die Kritik nicht von harschen Verrissen abhielt. Wegen des Zeitkolorits drängen sich Vergleiche mit Babylon Berlin geradezu auf; die Szenen mit dem ärmeren Teil der Bevölkerung auf den Straßen erinnerte mich an Les Misérables. Der Cast wirkt fast eine All Star Besetzung dessen, was im deutschen Film Rang und Namen hat, wohl auch, um bei der fiebrigen Tour de Force ein Mindestmaß an Orientierung zu bieten.

Ob sich der Film im Laufe der Zeit bewähren wird, halte ich für fraglich, dazu ist er zu sehr ein radikales ästhetisches Experiment, beinahe ein Manifest. Wer sich näher mit Verfilmungen beschäftigen will, sollte ihn zumindest einmal gesehen haben.
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