Thema: Filmklassiker
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Alt 05.02.2024, 06:15   #1888  
Peter L. Opmann
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Um die Videocassette zuende zu schauen, habe ich mir nun „Geraubte Küsse“ (1968), erneut von Francois Truffaut, angesehen. Es ist gewissermaßen die Fortsetzung von „Sie küßten und sie schlugen ihn“, aber alles andere als ein franchise. Zunächst hat Truffaut fast zehn Jahre vergehen lassen, bis er sich wieder ausführlich seiner autobiografischen Geschichte zugewandt hat. Und sie weist keinerlei direkte Bezüge zum Vorgängerfilm auf. Wir erleben nun auch Jean-Pierre Leaud etwa zehn Jahre später, und er ist zwar immer noch ein eingenwilliger Charakter, aber Auswirkungen seiner schwierigen Kindheit und Jugend sind nicht zu entdecken. Es geht vielmehr um ein Thema, das zuvor noch fast keine Rolle spielte: seine Beziehungen zu Frauen. Wobei er etwas hat, das Frauen anzieht.

Leaud wird unehrenhaft aus der Armee entlassen. Eine befreundete Familie versucht, ihm trotz dieses Makels zu einem beruflichen Start zu verhelfen. Leaud knüpft wieder Kontakt zu der Tochter des Hauses (Claude Jade), der er als Soldat eine Flut von Liebesbriefen geschrieben hat, bevor die Verbindung beinahe eingeschlafen ist. Es kommt aber zu keiner rechten Annäherung – Leaud ist sich bei ihr unsicher. Zunächst wird er Hotelportier, wird dabei aber in einen von einem Detektiv aufgedeckten Ehebruch verwickelt und deshalb gefeuert. Der Detektiv schlägt ihm vor, in seine Detektei einzutreten.

Er wird für Ermittlungen zum Schein Angestellter eines Schuhhändlers und lernt dabei dessen Frau (Delphine Seyrig) kennen, die nach Ladenschluß noch Pumps probiert. Von dieser älteren Frau ist er augenblicklich fasziniert, wagt es aber nicht, sich ihr zu nähern. Sie merkt schnell, was in ihm vorgeht, besucht ihn kurzerhand in seiner bescheidenen Wohnung und geht mit ihm ins Bett, allerdings unter der Bedingung, daß sich beide nie wiedersehen. Als Leaud seinem Chef die Affäre gesteht, fliegt er auch aus der Detektei raus. Kurz darauf arbeitet er bei einem TV-Reparaturdienst. Claude Jade manipuliert ihren Fernseher und bestellt Leaud zum Reparieren. Damit wird es nun mit ihrer Liebe ernst.

Ein sehr französischer, sehr galanter Film, würde ich sagen. Wobei Truffaut auf Sexszenen völlig verzichtet, ohne daß auch nur ein kleiner Zweifel besteht, daß es hauptsächlich um die sinnliche Anziehung zwischen Paaren geht. Hier gibt es, anders als in „Sie küßten und sie schlugen ihn“ keine düsteren oder bitteren Untertöne. Leaud ist nun ein noch relativ unschuldiger, verträumter junger Mann, der in seine Abenteuer mit dem schönen Geschlecht eher hineinstolpert. Das ist liebenswürdig-ironisch inszeniert. In meinen Augen fehlt es dem Film damit freilich an Tiefe. Ich könnte mir vorstellen, daß ein so leichtes Spiel mit Liebe und Liebeleien 1968 im Kino noch ziemlich unüblich war. Wie ich lese, war „Geraubte Küsse“ in Frankreich ein großer Erfolg. Manche Szenen haben sich dort dem Publikum unauslöschlich eingeprägt. In Deutschland hätte der Film so sicher nicht gedreht werden können, aber ich glaube auch, daß er hier einen weit geringeren Eindruck hinterlassen hat. Ich finde ihn nett und unterhaltsam, vermisse aber hier und da eine kräftigere Umarmung und etwas nackte Haut (was in späteren Filmen obligatorisch wäre). Das amouröse Spiel bleibt mir zu sehr an der Oberfläche.

Truffaut drehte noch zwei weitere Filme mit Jean-Pierre Leaud als seinem alter ego: „Tisch und Bett“ (1970) und „Liebe auf der Flucht“ (1978), in denen jeweils auch Claude Jade mitwirkte. In dem Episodenfilm „Liebe mit Zwanzig“ (1962) taucht Leaud in Truffauts Beitrag in dieser Rolle noch einmal auf. Alle diese Filme habe ich leider nicht in meiner Sammlung.
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