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Alt 09.03.2016, 14:56   #40  
Servalan
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Standard William Shakespeare: Shakespeares Sonette / Sonette (1609)

diverse Ausgaben, darunter Manesse Bibliothek der Weltliteratur 1983, 308 Seiten (zweisprachige Ausgabe).
https://de.wikipedia.org/wiki/Shakespeares_Sonette
https://en.wikipedia.org/wiki/Shakespeare's_sonnets
http://gutenberg.spiegel.de/buch/sonette-2186/1 (Volltext)
http://www.literaturkritik.de/public...p?rez_id=10324
http://www.nachtkritik.de/index.php?...liner-ensemble
http://www.mellow-melange.de/index.php?pid=179&thema=

Im Post #37 habe ich mich mit Dante Alighieri schon einmal der Liebeslyrik zugewandt. Ich muß gestehen, daß ich persönlich erzählerische Verse (Balladen, Epen und Dramentexte) blumigen Befindlichkeitszeilen vorziehe. Shakespeares Bühnenklassiker habe ich ziemlich bald um einen Band mit seinen 154 Sonetten ergänzt.

Einen Zeitstrahl von Dantes 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart teilen Shakespeares Sonette fast in der Mitte. Durch den Blick in die Vergangenheit verzerren sich die Zeiten, denn die älteren Jahrhunderte rücken dichter zusammen und täuschen dadurch unser Zeitgefühl.

Das London der Shakespeare-Zeit war eine boomende Metropole, obwohl die gut eine Million Einwohner (aus heutiger Perspektive) fast kleinstädtisch wirken. Der aus den Kolonien importierte Wohlstand zeigte seine Pracht in der Kultur der elisabethanischen Metropole, die mit einem Bein im Mittelalter stand und mit dem anderen in der Neuzeit.
Distanzen wurden nach Tagesritten gemessen, so daß die Karibik (das vermeintliche West-Indien) und Venedig oder Böhmen zu fernen Sehnsuchtsorten werden konnten.
Die Straßen waren laut, stanken nach Fäkalien und Pferdekot, doch wer sich unter Leute wagte, tat das auf eigene Gefahr. Gangs und Banden zogen durch die Viertel, und wer sich nicht wehren konnte, wurde überfallen oder vergewaltigt.
Dennoch pulsierte in den Gasthöfen und den übel beleumundeten Theatern das pralle Leben. Die ziehenden Gauklertruppen jedoch wurden scheel angesehen, und was für die Bühne verfaßt wurde, galt als billige Unterhaltung - einerlei, ob die Queen und die Pairs Beifall klatschten oder nicht.

Wer sich in der Literatur eine Reputation erringen wollte, mußte Verse schmieden. Sonette in der Tradition des italienischen Dichterfürsten Petrarca waren damals so beliebt wie heute Haikus und Hiphop. Virginia Woolf beschreibt diese höfische Atmosphäre in den ersten Kapiteln ihres Romans Orlando anschaulich. Hoher und niederer Adel bürgte mit seinem Namen (der sich in der obligatorischen Widmung findet) dafür, daß Sitte und Anstand eingehalten werden. Selbstgeschriebene Sonette trugen die Peers in ihren exklusiven Salons oder anderen Festen dem ausgewählten Publikum vor.

Trotz all seiner Werke bleibt Shakespeare mehr ein Phantom als ein Mensch mit einer lückenlosen Biographie. Sein kanonisierter Status befeuert die Phantasie, mit der die erhaltenen Bruchstücke zu einer Verschwörungstheorie angeordnet werden. Nach dieser Lesart ist Shakespeare das Pseudonym einer Berühmtheit aus den obersten Kreisen der Gesellschaft: Je nach Interpret wird sein Name zur Sockenpuppe für Sir Francis Bacon, Sir Christopher Marlowe (schwuler Dramenautor und Spion, der erstochen wurde), Edward de Vere, 17th Earl of Oxford oder einer Gruppe von Künstlern, Wissenschaftlern und Adligen.

Mit der Forschung ändern sich die Ansichten, und das letzte Wort in dieser Hinsicht ist nicht gesprochen. Doch verglichen mit Dante ist Shakespeare mutiger, lebhafter und geht ästhetische Risiken in einer sehr konservativen Gesellschaft ein (zum Beispiel galten vergewaltigte Frauen als entehrt und konnten deswegen von ihren Vätern, Brüdern oder dem Ehemann umgebracht werden).

Die 154 Sonette bilden einen Großzyklus, der eine Dreiecksgeschichte erzählt. Im Mittelpunkt steht ein lyrische Ich, den klassischen Lobgesang auf eine "fair lady" (eine Dame des Hochadels) auf zwei Weisen bricht und grosso modo den Weg in die literarische Moderne bereitet. Denn das Ich schwärmt zuerst für einen "fair boy" (also ein homosexuelles Verhältnis), später für eine "dark lady" (die dem konventionellen Schlönheitsideal nicht entspricht). Unterbrochen und aufgelockert wird der Liebesreigen durch jugendliche Klagen über die Ungerechtigkeit des Lebens und einen bohrenden Weltschmerz.

Regelmäßig findet sich Bearbeitungen für moderne Theateraufführungen, Vertonungen oder Hörbücher dieses fast schon zeitlosen Klassikers.

Geändert von Servalan (09.03.2016 um 15:45 Uhr)
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