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Alt 05.05.2019, 23:28   #666  
Peter L. Opmann
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Gesamtresümee:

„Die Spinne“ aus dem Williams Verlag hat mich im Alter von etwa zehn bis 14 Jahren sehr interessiert. Das erste, was ich von dieser Serienfigur gesehen habe, war Band # 17 (mit „Memrod“ dem Jäger), etwas später dann der Gastauftritt bei den „Rächern“ (# 10). Die 70er Ausgaben gefallen mir bis heute am besten, was sich leicht dadurch erklären läßt, daß ich damals an dieser Stelle richtig eingestiegen bin. Da lief gerade der lange Mehrteiler mit Silbermähne und der geheimnisvollen antiken Tontafel – so etwas haben die Macher weder vorher noch bis zum Ende der Williams-Serie noch einmal hinbekommen.

Nun habe ich die Serie also erstmals Heft für Heft (in der richtigen Reihenfolge) gelesen. Was habe ich dabei wahrgenommen?

Insgesamt schwankt die inhaltliche und teilweise auch die grafische Qualität mehr, als ich das vermutet hätte. Vor allem habe ich mehrmals beobachtet, daß ein neuer Zeichner eine bis zwei sehr gute Ausgaben produziert und sich dann allmählich Schludrigkeiten einschleichen. Das gilt nicht für die frühen Ausgaben bis etwa # 55. Ditko wurde immer besser, Romita hat sich in der Anfangszeit immer viel Mühe gegeben, aber ab # 56 hat sich wohl seine hohe Arbeitsbelastung bemerkbar gemacht. Auch an den wenigen Buscema-Ausgaben habe ich nichts auszusetzen.

Inhaltlich sind immer mal schwächere Bände dabei, auch schon zu Ditko-Zeiten. Man muß wohl berücksichtigen, daß hier ein neues Konzept vorlag (Teenager als Held und sehr betonte private Probleme), da wurde wohl manchmal etwas ausprobiert, was nicht so gut funktionierte. Teils fehlten wohl auch die Ideen für die Umsetzung dieses Konzepts. Was mich beim Wiederlesen wiederholt gestört hat, ist, daß die Welt von Peter Parker so klein ist und in der Riesenstadt New York ein überschaubarer Personenkreis immer wieder miteinander zu tun hat, als ob sich das Geschehen in einem Dorf abspielen würde. Es kam aber wohl darauf an, die Geschichte jeweils schnell auf den Punkt zu bringen. Erwartet hatte ich, daß Stan Lee immer wieder irgendein wissenschaftliches Gerät oder Verfahren das Problem lösen läßt, das niemals erklärt wird. Muß man wohl akzeptieren, wenn man auch schluckt, daß Radioaktivität Menschen in Superhelden verwandeln kann.

Die Ditko-Phase muß sicherlich für sich betrachtet werden. Hier gibt es noch wenig Kontinuität in der Handlung, sieht man davon ab, daß beinahe in jedem Heft ein festes Personal auftritt. Zu Ditko-Zeiten scheitert aber immerhin Peter Parkers Romanze mit Betty Brant, und er lernt Gwen Stacy kennen, die freilich am Anfang noch völlig anders aussieht als später und auch eine etwas andere Persönlichkeit hat. Mir ist klargeworden, daß Ditko etwas altmodisch zeichnet. Wir sehen hier Anfang bis Mitte der 60er Jahre noch eine 50er-Jahre-Welt. Mühsam wird versucht, sie etwas zu modernisieren, indem Peter manchmal auch etwas Legereres trägt als Anzug und Krawatte und ein bißchen Jugendkultur vermittelt wird. Aber auf der Höhe der Zeit ist Peter erst bei Romita (obwohl er da öfters auch noch mit Schlips auftritt). Wichtig für die Ditko-Phase ist aber auch, daß die Storys manchmal richtig humorvoll sind; das kommt später nach meiner Beobachtung nicht mehr vor.

Schon während der Ditko-Zeit schließt Peter Parker die Highschool ab und beginnt ein Studium. Dieser Ausbildungsweg sorgt vor allem für Kontinuität. Seine zwischenmenschlichen Beziehungen entwickeln sich dagegen nicht fortlaufend. Sein Verhältnis zu den Frauen, zu Tante May, Flash Thompson, Harry Osborn oder Verleger Jonah Jameson entwickeln sich, wie es die jeweilige einzelne Story erfordert, also eher sprunghaft. Die Nebenfiguren sind damit auch einem ständigen Charakterwandel unterworfen. Gibt es mit ihnen Probleme, agieren sie anders, als wenn sie nur flüchtig auftauchen und in der gerade aktuellen Story keine große Bedeutung haben. Das scheint sich erst ganz zum Schluß bei seiner Beziehung zu Mary-Jane zu ändern. Im Gegensatz dazu war ich überrascht, daß man Gwen Stacy kaum als in sich schlüssige Person wahrnehmen kann. Und die habe ich als Junge so verehrt!

In späteren Ausgaben ziehen sich aber bestimmte Entwicklungen auch über mehrere Ausgaben hin. Der Auftritt bestimmter Superschurken wird mitunter lange vorbereitet (natürlich eine Verkaufsmasche). Es wird aber auch genauer beleuchtet, wie Peters Studium oder sein Fotografenjob laufen, wie es Tante May geht, oder Beziehungsprobleme mit Gwen renken sich erst nach einigen Heften wieder ein. Man sieht, daß sich Lee und die übrigen Macher anstrengen, daß die Leser bei der Stange bleiben. Insgesamt gilt aber Lees Leitsatz: In der Serie darf sich nichts wirklich ändern.

Das geschieht erst mit dem nicht mehr von Lee verantworteten Tod von Gwen Stacy. Bei den Ausgaben # 122 und 123 hat das Team große Sorgfalt aufgewendet. Es war klar, daß dies eine besondere, in Superheldencomics noch nie dagewesene Story ist, und sie sollte auf keinen Fall enttäuschen. Die darauf folgenden Ausgaben sind freilich erkennbar schwächer. Eine so wichtige Figur war bis dahin noch nicht aus einer Serie entfernt worden, auch wenn, wie ich sagte, die Figur Gwen gar nicht so gut angelegt war, wie man vielleicht meint. Die Serie wurde damit aber insgesamt eindeutig anspruchsvoller, weil Lees Konstrukt einer sich niemals ändernden Grundkonstellation in allen „Spinne“-Ausgaben zerstört wurde. Allerdings denke ich, daß die im Marvel-Universum folgenden Todesfälle bis hin zu Captain America (oder auch der Tod von Superman) nicht mehr das Schockpotential entfalten konnten wie in diesem Präzedenzfall, zumal man bald merkte, daß ein toter Superheld oder eine wichtige Begleitfigur niemals so ganz endgültig tot war.

Zu Williams ist zu sagen, daß der Verlag durchaus eine Ausnahmeerscheinung war. Man hat versucht, die Besonderheiten der US-Reihen in den deutschsprachigen Raum zu übertragen. Redaktionell wurde zeitweise etwas geboten, was es bei deutschen Comics sonst nirgendwo gab: Gelungene Ansprache der Leser durch identifizierbare Redakteure, gute Informationen über die gesamte Comicszene, Nachahmung des Marvel Touch, insbesondere was das selbstironische Anpreisen der Comics, aber auch die Herausbildung des Marvel-Universums betrifft, das Selbstbewußtsein, auf glänzendes Papier und Maschinensatz in den Sprechblasen zu verzichten, die zu dieser Zeit hier absolut üblich waren. Schade, daß sich das letztlich nicht – oder erst viel später – durchgesetzt hat. Woran Williams genau gescheitert ist, konnte ich nicht ermitteln. Die Lizenzen wurden 1979 an Condor vergeben, aber mangelnder wirtschaftlicher Erfolg von Williams hat dabei auf jeden Fall eine Rolle gespielt. Was kam eventuell dazu?

Alles in allem: Das Wiederlesen von „Die Spinne“ war eine schöne und bereichernde Erfahrung (hatte ich vorher ja schon mit „Die Fantastischen Vier“ probiert). Ich bin nicht mehr so leicht zu beeindrucken, und ich nehme Stan Lee nicht mehr immer die Handlungslogik ohne weiteres ab. Aber es ist auch nicht so, daß sich das Leseerlebnis meiner Kinder- und Jugendtage heute gar nicht mehr einstellt. „Die Spinne“ gehört zu meinem Leben, und gerade angesichts des Erfolgs des Marvel Cinematic Universe muß ich mich wohl nicht dafür schämen. Mensch, hätte ich mir das träumen lassen, daß Marvel-Helden rund 40 Jahre, nachdem ich mir die Comichefte am Kiosk besorgt habe, in der Populärkultur eine so zentrale Rolle spielen?
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