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Alt 07.11.2015, 18:13   #40  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Standard eBook: Ein Format in den Kinderschuhen

Selbst das beste Manuskript verwandelt sich nicht automatisch zum Roman, wenn es simpal als pdf formatiert wird. Wie im klassischen Literaturbereich bleiben Marketing, Vertrieb und Distribution die kritischen Punkte, die gemeistert werden müssen, wenn ein Publikum angesprochen werden soll.
Denn das Publikum kann nur entdecken, was es weiß: Es muß zumindest vom Titel gehört haben. Eine Empfehlung aus dem Freundes- oder Bekanntenkreis wäre natürlich besser. Solange sich noch keine festen Strukturen etabliert haben, bleibt das Buhlen um neue Fans und Leserschichten die Hauptsache. Dabei bieten digitale Formate Chancen, die bislang ungenutzt bleiben, weil niemand das Risiko wagt. Was sich als Marketingschnickschnack anbiedert, kann zwar kurzfristig Aufmerksamkeit bekommen - allerdings verpufft die ebenso rasch wieder.

2013 wagten Andreas Winkelmann und der Rowohlt Verlag mit Deathbook ein spartenübergreifendes Experiment, bei dem das eBook als zehnteilige monatliche Serie bloß Teil eines größeren Ganzen war. Selbstverständlich wurden fb, Twitter und Blogs eingebunden, die von Autorinnen und Autoren betreut wurden, die Winkelmann vorher ausgewählt und gebrieft hatte.

"Enhanced Books" mit QR-Codes, die auf dem Smartphone oder ähnlichen Geräten zusätzliche Gimmicks bieten, können nicht das Ende der Entwicklung sein. So wie ein Film kein aufgezeichnetes Theater ist, sondern ein eigenes Medium, wird sich in den nächsten Jahrzehnten hier etwas entwickeln, das sämtliche klassischen Grenzen sprengen wird. Egal, ob es sich um Texte, Bilder, Videos, Grafiken oder Games handelt, für die Prozessoren sind das allesamt Datensätze.

Wie lange diese Entwicklung dauern wird, und wie sie sich entfaltet, darüber kann ich nur spekulieren. Aber die nachwachsenden Generationen gehen ziemlich unbefangen und spielerisch mit den Medien um.

Warum muß ein eBook auschließlich aus Text bestehen? Ich kann mir Werke vorstellen, in denen bestimmte Passagen nur als (Motion) Comic oder Audio existieren. In Joseph Conrads berühmten Roman Nostromo findet sich eine Passage, die in stockfinsterer Nacht spielt. Geister (Frankfurter Verlagsanstalt 2008) von Thomas von Steinaecker wird durch Comics von Daniela Kohl unterbrochen.

Außerdem stellt der gedruckte Text nicht immer ein Endprodukt dar, das so bleibt, wie es zum ersten Mal erschienen ist. Einige Autorinnen und Autoren verändern ihre Werke immer wieder, so daß letztlich keine Fassung der anderen gleicht. Der gemeinsame Titel täuscht also über Wechselbälge hinweg. Ein prominenter Vertreter dieser Arbeitsweise war Ernst Jünger, dessen In Stahlgewittern (die erste der zwölf Fassungen erschien 1920) von Klett Cotta 2013 mit einer historisch-kritischen Ausgabe gewürdigt wurde.
Eine digitale Fassung könnte dem Publikum von vornherein eine Wahl bieten: Willst du die jeweils aktuelle Fassung (mit oder ohne Updates)? Willst du Zugriff auf alle Endfassungen? Willst du eine Ausgabe mit Ergänzungen (Interviews, Berichte, Werkstattberichte, verworfene/gekürzte Stellen)?

Hier wäre noch vieles möglich.

Geändert von Servalan (07.11.2015 um 18:19 Uhr)
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