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Alt 17.05.2020, 17:01   #10  
Peter L. Opmann
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Die Rächer # 1

Williams, Januar 1974 ("Avengers" # 1, September 1963)



Keinen der Williams-Titel habe ich ab der Nummer 1 gelesen, was auch auf fast alle übrigen Comics zutrifft, die ich am Kiosk gekauft habe. Vielleicht fehlte mir besonders als Kind und Jugendlichem der Blick für interessantes Neues; möglicherweise kommt die erste Ausgabe einer neuen Heftserie aber auch mitunter gar nicht ins Kioskregal (habe ich jedenfalls gehört). Bei den „Rächern“ war ich ziemlich fix und griff kurz danach zu. Doch jetzt habe ich die Debütnummer vor mir und kann von keinen Kindheitseindrücken berichten.

Manches an dem Heft ist etwas seltsam. Auf dem Splashpanel sieht man ein hakennasiges Gesicht und daneben in einer Manschette ziemlich klein die Hauptfiguren: Der mächtige Thor, der Eiserne, Ameisenmann und die Wespe und der gewaltige Hulk. Wer schon die HIT-Comics gelesen hatte, wußte Bescheid, wer aber hier bei den Marvels einstieg, war wohl etwas desorientiert. Die Schrift ist handgelettert (nur bei der Splashpage), was es bei Williams sonst noch nicht gab. Bei den Credits fehlt – mindestens – Autor Stan Lee, vielleicht deshalb, weil er auf der gegenüberliegenden Seite schon ein werbestarkes Vorwort beisteuert.

Die Episode beginnt wie ein typisches Thor-Abenteuer. Loki will mal wieder seinen Bruder in die Knie zwingen und sucht mit mystischen Augen die Erde nach einer Gelegenheit ab, Chaos zu stiften. Dabei entdeckt er den Hulk. Loki provoziert einen Zugunfall, den Hulk zwar verhüten kann, aber der grünhäutige Goliath wird für den Anschlag verantwortlich gemacht. Loki will auf diese Weise Thor anlocken, obwohl wir nicht erfahren, wie sein genialer Plan danach weitergehen soll. Nun wird aber Rick Jones auf den anscheinend Amok laufenden Hulk aufmerksam, der mit seiner Teen-Brigade die Fantastischen Vier per Funk um Hilfe bittet. Loki will aber nicht, daß die FV sich einmischen – er lenkt den Funkspruch zu Thor um. Doch auch Ameisenmann und die Wespe sowie Tony Stark alias der Eiserne bekommen den Hilferuf mit und eilen zu der Garage, die der Teen-Brigade als Hauptquartier dient.

Somit haben sich hier vier Helden aus drei Solo-Heftserien versammelt (leider war eine Serie für die Wespe damals noch nicht drin). Hinzu kommt der Hulk, also eine vierte Serie, und die Fantastischen Vier haben bereits signalisiert, daß sie auch noch da sind. Sie haben jedoch keine Zeit, sich um den Hulk zu kümmern – was ihnen in ihrem eigenen Heft garantiert nicht passiert wäre. Ein veritables Crossover. Beim Lesen dachte ich dauernd: Aber irgendetwas stimmt doch da nicht. Dann sah ich: Das Team, eben zusammengekommen, trennt sich gleich wieder. Wie Thor das in seiner eigenen Serie wohl auch gemacht hätte, verabschiedet er sich gleich wieder, weil er draufgekommen ist, daß Loki hinter der Sache steckt, und geht nach Asgard, um ihn zu stellen. Der Eiserne, begleitet von den beiden Miniaturhelden Ant-Man und Wasp, nimmt sich derweil den Hulk vor. Das heißt, von einem Team namens „Rächer“ kann eigentlich noch gar nicht die Rede sein. Die Figuren agieren ja gar nicht zusammen.

Thor und Loki absolvieren ihren Showdown auf der mythischen Insel des Schweigens, Lokis Verbannungsort, wenn ich richtig orientiert bin, wo der Listige schließlich an Thors magnetisiertem Hammer kleben bleibt. Hulk und der Eiserne kloppen sich inzwischen in einer Autofabrik. Von Ameisenmann und der Wespe ist da nichts zu sehen – mit Reifen und Motorteilen um sich zu werfen, ist eher nicht ihr Stil. Thor kommt mit dem gefangenen Loki dazu und beendet den Kampf. Loki wird in einem „bleigefüllten Tresor“ sicher verwahrt (was vielleicht darauf hindeutet, daß seine Kräfte etwas mit Radioaktivität zu tun haben). Die Rächer, die nie richtig zusammengekommen sind, wollen sich nun wieder trennen. Da hat Ameisenmann die Idee: Laßt uns doch ein Team gründen! Als eine Art Beschäftigungstherapie darf auch der asoziale Hulk mitmachen. Die Wespe, die sich bisher kaum nützlich machen konnte, steuert den Namen bei: die Rächer. Eine Vorschau auf die nächste Ausgabe gibt es hier noch nicht.

Abgesehen davon, daß Lokis vollständiger Plan im Dunkeln bleibt, ist die Story ganz schlüssig. Es hat sogar was, daß das Team erst am Ende des Abenteuers gebildet wird. Wobei damit gar nicht klar ist, ob sich die Mitglieder wirklich ergänzen und als Gruppe harmonieren können. Man hätte die Episode auch in „Thor“ beginnen und dann in „Iron Man“ enden lassen können. Zeichner Jack Kirby ist hier noch in seiner vor-klassischen Phase. Es gibt an seinen Zeichnungen nicht viel auszusetzen, außer daß er nicht allzu viel Mühe für Hintergründe verwendet. Allerdings hatte er auch 22 Seiten zu bewältigen – in dieser frühen Phase der Serie sind es einmal sogar 25 Seiten. Inker Dick Ayers macht seine Sache solide, wenngleich er nirgendwo Glanzlichter setzt.

Fazit: Dieser Ausgabe ist der Klassiker-Status nicht abzusprechen. Die Serie hat aber noch kein schlüssiges Konzept, und ich würde das Heft auch nicht zu den absoluten Highlights in der Frühzeit zählen.
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