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Alt 16.06.2021, 19:29   #10  
Kain
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Doch, darauf läuft es letzten Endes hinaus.

Ich werde mich hier in der Hauptsache auf Fissenis "Persönlichkeitspsychologie" in der 5. Auflage beziehen (S. 31 ff.). Sollte ich noch eine andere Quelle hinzuziehen, werde ich die einzeln aufführen.

Freuds Theorien sind heute nicht unumstritten. Z. T. hat das seine Berechtigung. Aber oft wird auch übersehen, dass die Psychologie eine Wissenschaft wie jede andere ist. Man musste irgendwo mal anfangen. Dass spätere Entwicklungen Änderungen nötig machen, ist dabei eigentlich normal. Die größten Schwächen an Freuds Theorie der psychosexuellen Entwicklung: Er bedient traditionelle Geschlechterrollen. Das ist aber typisch für sein zeitliches Umfeld. Weiterhin ist seine Theorie auf ein westeuropäisches Umfeld zugeschnitten. In diesen Breitengraden kann man, mit Abstrichen, also durchaus mit der Theorie arbeiten. Je nach Ausgangslage und Ziel. Für alles andere gibt es das relativ junge Feld der kulturvergleichenden Psychologie.

Freud wird trotz aller Kritik noch heute gelehrt. Im Studium natürlich aufgrund des historischen Kontexts. Die psychosexuelle Entwicklung nach Freud gehört aber auch zur Ausbildung der Heilerziehungspflege. Hier ist sie ein Werkzeug, das dem HEP helfen soll, manche Verhaltensweisen bei seinem Klientel zu erklären. Das ist auch ein probates Mittel bei Menschen, die oft stark von ihren Trieben kontrolliert werden. Freuds Modell ist jedoch nicht das einzige Mittel, das HEP-Schülern beigebracht wird. Das führt dann zwangsläufig zur Erkenntnis, dass Freuds Theorie in den 70ern, als diese Geschichten entstanden sind, eigentlich schon veraltet war. Andere Psychoanalytiker wie Erik Erikson und Margaret Mahler haben Freuds Ansätze weiterentwickelt. Um mal nur zwei zu nennen.

Freud deckt weiterhin nur einen relativ überschaubaren Teil der menschlichen Entwicklung ab. Er verfolgt das ganze etwa bis zum 12. Lebensjahr. Erikson hingegen sieht Entwicklung als lebenslange Aufgabe und hat seine eigene Theorie entsprechend formuliert. Starlins Faszination dürfte also klar an den zugrundeliegenden Trieben und ihren Bezeichnungen liegen - Thanatos, der Todestrieb und Eros, der Lebenstrieb. Freuds Nachfolger bieten solche, für die Fiktion geeigneten, Konzepte freilich nicht.

Im Endeffekt ist Thanos also ein unzufriedener 12jähriger.

Zunächst geht Freud von drei Grundannahmen aus:

1. Triebtheorie: Es gibt den Lebens- oder Sexualtrieb (Eros) mit der Energie Libido. Dem gegenüber steht der Todes- oder Aggressionstrieb (Thanatos) mit der Energie Destrudo.

2. Psychischer Determinismus: Jedes Verhalten ist demnach seelisch bedingt.

3. Unbewusste Motivation: Die meisten seelischen Vorgänge bleiben dem Bewusstsein verborgen.

In Starlins Fall:

Der Champion des Todes tritt gegen den Champion des Lebens an. Die zweite Rolle nahm letzten Endes Adam Warlock an. Die Namen legen aber Nahe, dass diese Rolle wohl eigentlich Eros/Starfox zugedacht war. Starlin verwendet hier also zunächst die Gegenüberstellung der beiden fundamentalen Triebe.

Die Punkte 2 und 3 gehen ineinander über. Thanos wurde aufgrund seines Aussehens gemieden, gehänselt, vernachlässigt. Die Mutter wollte ihn, je nach Version der Entstehungsgeschichte, schon nach der Geburt töten. Das hat seelische Spuren hinterlassen, über die sich der Patient nicht zwangsläufig im Klaren ist. Die Motivation bleibt also ohne Aufarbeitung verborgen. Sie bestimmt aber Thanos' Rolle als Champion des Todes. Etwas vereinfacht ausgedrückt.

Zurück zu Sigi:

Freud geht davon aus, dass im Menschen drei psychische Instanzen existieren.

1. Es/Id: Das ES ist angeboren. Es steht für Primärprozesse und damit für das Vitale, Triebhafte. Freud beschreibt hier das Streben des ES nach sofortiger Befriedigung der elementaren Triebe und Bedürfnisse. Man spricht auch vom Lustprinzip.

Das lässt sich an Kleinkindern beobachten, die sofort anfangen zu schreien, wenn sie z. B. Hunger haben. Sie können ihr Bedürfnis nicht aufschieben. Die Logik hinter einem solchen Vorgang ist ihnen noch nicht bewusst.

2. Ich/Ego: Das ICH entwickelt sich aus dem ES und steht für Sekundärprozesse. Hier wird die Art beschrieben, wie man fühlt, denkt oder Situationen bewertet. Man spricht vom Realitätsprinzip. Dies bildet ein Paar mit dem Lustprinzip und damit der komplementäre psychische Wirkmechanismus zu diesem. Das Realitätsprinzip modifiziert das Lustprinzip. Das bedeutet, dass die Befriedigung der Bedürfnisse nach dem Lustprinzip den Erfordernissen der Umwelt (Realität) angepasst wird. Wir lernen also z. B., unseren Hunger aufzuschieben, wenn wir in einer Situation sind, in der es nicht angebracht wäre, das Pausenbrot auszupacken.

3. Über-Ich/Super-Ego: Das ÜBER-ICH steht für das Gewissen und das Ich-Ideal. Das Gewissen wird mit Schuldgefühlen assoziiert während das Ich-Ideal für Eigenliebe oder Stolz steht. Es ist damit der Antagonist der elementaren Triebe des ES und enthält die moralischen Normen und Wertvorstellungen der kulturellen Umgebung in der ein Mensch aufwächst. I. d. R. also jene der Eltern (bzw. des direkten Umfelds). Die enthaltenen Wertvorstellungen werden als die ureigenen wahrgenommen.

Diese drei Instanzen stehen in Wechselwirkung zueinander. Daher Psychodynamik. Die Psychoanalyse ist eine psychodynamische Theorie. Das heißt also, dass das ÜBER-ICH die Wünsche des ES bewertet. An das ICH geht dann die Anweisung, ob ein Bedürfnis befriedigt wird oder nicht. Das ICH überprüft die Realität (ob das Pausenbrot ausgepackt werden darf) und ist damit der Mittler zwischen ÜBER-ICH und ES. Das ES kündigt Wünsche/Bedürfnisse beim ICH an (z. B. Hunger).

Das Ziel der Persönlichkeitsentwicklung ist ein starkes Ich (Ich-Stärke). Dies kann z. B. durch einen autoritativen Erziehungsstil erreicht werden. Eine zu autoritäre Erziehung führt zu einem starken ÜBER-ICH während ein Erziehungsstil nach laissez-fair zu einem zu starken ES führt. In diesen Fällen spricht man von einer Ich-Schwäche.

Diese ist gegeben, wenn die einzelnen Instanzen mit der Realität in einem Ungleichgewicht stehen. Das ES, das ÜBER-ICH oder die Realität siegen in diesem Fall über das ICH.

Ein Beispiel für ein zu starkes ÜBER-ICH sind Menschen, die Schwierigkeiten habe, Entscheidungen zu fällen. Sie denken zu sehr an mögliche Folgen. Nicht unbedingt für sich selbst sondern auch für ihr Umfeld. Sie haben quasi schon Gewissensbisse bevor überhaupt etwas passiert ist.

Menschen mit zu starkem ES sind eher rücksichtslos. Dafür könnte man solche Menschen als Beispiel heranziehen, die so ziemlich alles dafür tun, um in ihrem Beruf weiterzukommen. Die über Leichen gehen, wenn man so will. Den einen wurden zu viele Grenzen gesetzt weshalb sie sich nicht entfalten konnten, den anderen zu wenige oder sogar keine.

Freud hat die Entwicklung der drei Instanzen anhand eines Libidomodells erklärt (anale Phase usw.). Das können wir uns an dieser Stelle erstmal sparen. Sollte ein Punkt auftauchen, an dem ich darauf näher eingehen muss, reiche ich das gerne nach.


Thanos ist anhand von Freuds Theorie eine Person, bei der das ES zu stark ausgeprägt ist. Genauer lässt sich das nur schwer analysieren, da verschiedene Versionen und Überarbeitungen seiner Hintergrundgeschichte existieren. Selbst Starlin hat sich im Laufe der Jahre da ein wenig verrannt. Weiterhin ist auch fraglich, ob Thanos' Entwicklung nach "Infinity Gauntlet" - ohne jede Therapie - tatsächlich Sinn ergibt. Aber da wir uns in einem fiktiven Umfeld bewegen, ist das wohl nicht so wichtig.

Starlin geht letztlich eher einen philosophischen als einen psychologischen/psychoanalytischen Weg. Die Psychoanalyse hat ihm nur ein Konzept geliefert, auf dem er letzten Endes aufbaut. Die (mal mehr mal weniger) latente Religionskritik in seinem Werk, die ständige Auseinandersetzung mit Fragen zu Leben und Tod gehen über psychologische Vorgänge hinaus. Mal mit mehr Erfolg, mal mit weniger.
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