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Alt 24.03.2016, 14:57   #74  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Standard Fürs Storytelling recherchieren

In der Theorie klingen die Ratschläge einfach, in der Praxis ist jedoch Vorsicht geboten: Für einen Roman oder eine Kurzgeschichte muß ich anders zuwegegehen als bei einem wissenschaftlichen Artikel oder einem Beitrag für eine Enzyklopädie. Das Erzählen selbst steht im Vordergrund, also entweder die Story mit ihren Charakteren oder der Rhythmus der Sprache, der faszinieren muß.

Wenn das Mittel falsch dosiert wird, kann ich mich auch mit den besten Vorsätzen zutode recherchieren - dann komme ich nie zu Potte. Oder ich vergeude zuviel Zeit (die mir dann beim Schreiben fehlt) mit winzigen Details, die eigentlich überflüssig sind - und als Geschwätz im Lektorat spätestens gestrichen werden.

Eine Szene oder eine Idee liefern nur die Anregung für einen komplexen Prozeß, in dem sich beide Elemente - das Schreiben und das Recherchieren - ineinander verzahnen und sich miteinander abwechseln.
Deshalb ich wissen, wofür ich recherchiere. Was muß ich wissen, was darf ich wissen und was sollte ich eher beiseite lassen, um den Erzählfluß nicht zu unterbrechen.

Sich für eine Figur, zum Beispiel einen Profiler oder eine Pathologin im Krimi, Wissen anzueignen, dürfte eher eine leichte Übung sein. Falls es sich um eine Hauptfigur handelt muß ich intensiver zuwerkegehen als bei einer Nebenfigur. Schreiben bedeutet Drama, im Gegensatz dazu verläuft der realistische Alltag in den meisten Berufen und Disziplinen eher unspektakulär.
Außerdem möchte das Publikum nicht belehrt werden, sondern sich seinen Teil selbst denken. Lassen wir ihm das Vergnügen. Wissen sollte bewußt und gezielt eingesetzt werden, um etwas durch den Text im Text selbst zu verdeutlichen. Heute wissen meiner Ansicht nach sogar die "bildungsfernen Schichten" mehr als die gewöhnlichen Leute vor 100 Jahren.

Für solche Standards gibt es häufig Nachschlagewerke, die in den Handapparat auf dem Schreibtisch oder neben das Keyboard gehören:
  • Der Pschyrembel oder ein anderes Medizinlexikon.
  • Aktuelle MINT-Zeitschriften und -Fachbücher (offline oder online).
Ihr müßt euch nicht jedes Buch kaufen. Stadtbibliotheken und Unibibliotheken bieten ein reichhaltiges Sortiment, das meist nutzen kann, wer in den kommunalen Grenzen seinen Wohnsitz hat.

Als ich mein Abi gebaut habe, wollte ich auf Shakespeare geprüft werden. Um mich vorzubereiten, habe ich eines seiner Dramen per Hand abgeschrieben, weil ich wissen wollte, wie es funktioniert. Diese Übung hat mich fast einen Monat gekostet, aber danach habe ich verstanden, daß
(1) kein Wort - der Schlegel/Tieck'schen Übersetzung - überflüssig ist;
(2) jeder Satz eine Bedeutung hat und das Verhältnis der Figuren untereinander exakt definiert;
(3) es keinen Leerlauf, kein Geschwafel, kein Zeilenfüllsel gibt, und was in ungeschulten Ohren zunächst hochtrabend und aufgesetzt klang, wirklich das Geschehen extrem verdichtet hat;
(4) Regieanweisungen doppelt gemoppelt wären: Das Drama konnte darauf verzichten, weil jede der geschliffenen Sentenzen durch Wortwahl, Rhythmus und Satzbau offenlegt, wie die Figuren zueinander stehen;
(5) jede Figur ihre eigene Art zu reden hat.

Wenn ihr das einige Mal bei Geschichten macht, die euch gefallen, lernt ihr eine ganze Menge. Sobald ihr ein Feeling dafür habt, könnt ihr das Konzept für eure eigenen Geschichten ausarbeiten.

Ohne Konzept bleibt die beste Recherche fruchtlos.

Wie bei einem langen Weg die eigenen Schritte, sollten sich die Konzepte für Recherche und Schreiben wieder und wieder abwechseln.

Laßt euch nicht einschüchtern.

Zur Not schreibt irgendwas, um einen Anfang zu finden. In der Rohfassung ist alles erlaubt. Der erste Satz im gedruckten Roman ist nicht immer der erste Satz, der geschrieben wurde.
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