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Alt 22.12.2015, 17:29   #51  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Standard Selbstkritik, Lampenfieber und die Bühnenpersönlichkeit

Allgemein lautet das Vorurteil über Leute, die "etwas mit Medien" machen ja, folgendermaßen: Das sind eitle Gecken und oberflächliche Narzissen, die im Scheinwerferlicht bewundert werden wollen. Ungeachtet ihrer wahren Qualitäten möchten sie von ihren Fans, vom Publikum und der Presse gefeiert und auf Händen getragen werden, Autogramme verteilen und sich wichtig fühlen.

Okay, solche Leute gibt es wohl. Leider.
Häufig geht das Klischee jedoch an der Wirklichkeit vorbei. Und manche Kreative entscheiden sich bewußt für Tätigkeiten im Stab, hinter der Kamera oder im Schatten der Bühne: Cutter bei Film und Fernsehen zum Beispiel, Kostümbildner und Requisiteure oder Leute, die künstlerische Veranstaltungen aller Art organisieren.

Schreiben ist in der Regel ein einsames Geschäft. Wer sich mehr als hobbymäßig engagiert, muß gut und gerne mit sich alleine auskommen.
Von daher kann diese ausgiebige Tätigkeit mit Stift und Papier, mit Monitor und Drucker auch den entgegengesetzten Effekt haben.

In der Dr Who-Episode "Das Einhorn und die Wespe" zweifelt Agatha Christie an ihren künstlerischen Fähigkeiten, tut ihre Werke leichtfertig ab und hält die Bewunderung des Doktors und Donnas für ungerechtfertigt.
Wäre es nach Franz Kafka gegangen, dann gäbe es heute kein Werk, weil außer seinen wenigen zu Lebzeiten veröffentlichten Texten alles verbrannt worden wäre.

Manchmal sind Schreibende dermaßen selbstkritisch, daß jemand von außen eingreifen und ihnen zu ihrem Glück verhelfen muß: Ohne Eva Gabrielsson wäre Stieg Larsson als engagierter schwedischer Journalist gestorben. In Phlippe Djians Bestseller Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen fördert Betty Blue ihren Geliebten, den Schriftsteller Zorg, indem sie seine Manuskripte ohne sein Wissen an Verlage schickt.

Selbst große Tourneen von bekannten und berühmten Autoren sollten nicht über die Realität wegtäuschen. Bühnenauftritte sind zum Glück befristet, mal dauern sie fünf bis fünfzehn Minuten, schlimmstenfalls anderthalb Stunden bei der Wasserglas-Lesung mit Publikumsgespräch.
Auftritte können geprobt, Texte sorgfältig präpariert werden. Meist verändert sich die Stimme, wenn das Mikrofon an ist, und gewinnt eine eigene Dynamik. Ob die bewunderten Autorinnen und Autoren schüchtern sind oder nicht, das bleibt allen Anwesenden verborgen.

Im Grunde handelt es sich um das gleiche Phänomen wie beim unglaublich traurigen Mann, der zum Arzt kommt. Der Klagende vergeht vor Schmerz, als er dem Mediziner sein Leid klagt. Der rät ihm: "Im Moment gastiert ein Zirkus mit dem Berühmtesten aller Clowns. Raffen Sie sich auf. Besuchen Sie eine Vorstellung. Sie werden es nicht bereuen." Der traurige Mann starrt ihn ausdruckslos an. "Einen Versuch können Sie ruhig wagen."
Tränen kullern über die Wangen, als der Traurige schluchzend sagt: "Dieser Clown ... das bin ich."

Geändert von Servalan (22.12.2015 um 17:37 Uhr)
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