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Alt 26.04.2018, 15:08   #93  
Servalan
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Fantasia (USA 1940, Walt Disney Pictures), Drehbuch: Lee Blair und Elmer Plummer, Regie: James Algar und Samuel Armstrong, 124 min, FSK: 6

Nobody expects the Spanish Inquisition Walt Disney.
Sowohl Walt Disney als auch der Disney-Konzern haben ein zwiespältiges Image: Einerseits gab es besonders bei den Fernsehsendungen den Vorwurf, das wäre eine überzuckerte heile Welt für Kinder; andererseits werden mittlerweile die künstlerischen Beiträge zum Beispiel von Carl Barks anerkannt. Medial ist Disney heute ein Global Player, der inzwischen sogar Marvel, Pixar und Lucasfilm geschluckt hat, aber das Unternehmen hat auch Filmgeschichte geschrieben.
Dafür sprechen insgesamt 22 Oscars und 99 Nominierungen für den Academy Award.

Zeichnerisch waren etliche seiner Angestellten ihrem Boss überlegen, und die Anfänge versprachen keineswegs eine rosige Zukunft. Bevor ihm der große Durchbruch gelang, machte Disney dreimal pleite - zuletzt verlor er sogar die Rechte an seiner eigenen Figur, an Oswald dem Hasen.
Wer in Deutschland einmal Konkurs gemacht hat, über den wird der Stab gebrochen, und wem es dennoch später gelingt, der wird sich eher vorsichtig verhalten. Disney hingegen wußte, was er wollte und scheute keine Risiken: Cartoons liefen im Vorprogramm der Kinos, dennoch verfolgte er hartnäckig seinen Plan, einen abendfüllenden Zeichentrickfilm in die Lichtspielhäuser zu bringen. Schneewittchen und die sieben Zwerge (1937) lockte zuerst das Publikum in Scharen ins Kinos, dann wurde er für einen Oscar nominiert.
Sein Verdienst als Pionier besteht zum einen darin, eigene Entwicklungen immer wieder ständig verbessert und so den Maßstab gesetzt zu haben. Zum anderen band er die neuesten technischen Möglichkeiten (wie Ton und Farbe) so in seine Filme ein, daß sie zum Markenzeichen werden konnten. Was wir heute Mickey-Mousing nennen, stammt zum Beispiel als akustische Pointierung aus den Slapstickfilmen, die jedoch unser Verständnis von Cartoons geprägt haben.

Unter den Cartoon-Studios herrschte eine starke Konkurrenz, deshalb prägten Reihen mit einprägsamen Figuren das Genre. Eine größere Bandbreite boten Reihen unter einem gemeinsamen, wiedererkennbaren Prinzip: Sie funktionierten nach dem gleichen Muster. Neben der Walt Disney Company (Silly Symphonies) nutzten die Studios von Warner Brothers (Merrie Melodies und Looney Tunes) und MGM (Happy Harmonies) bekannte Songs als Vorlagen für Cartoons mit Musik statt Dialog.
Angeregt unter anderem von Werner Ruttmanns Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (siehe Post #69) plante Disney einen abendfüllenden Konzertfilm, aus dem sich dann Fantasia entwickelte. Jahrzehnte vor MTV und VIVA entstand so ein Vorläufer der Musikvideos und experimenteller Musikfilme wie Yellow Submarine (1968) und Aria (Großbritannien 1987, Regie: Nicholas Roeg, Charles Sturridge, Jean-Luc Godard, Julien Temple, Bruce Beresford, Robert Altman und Franc Roddam).
Trotz des Musikclipbooms mit diesen Kanälen kam die Fortsetzung Fantasia 2000 (USA 1999, nur 75 min!) erst im Dezember 1999 in die Kinos.

Disney verbindet in Fantasia Realfilm und Animationsfilm zu einem Konzertfilm, den der Dirigent Leopold Stokowski vor seinem Orchester im Schattenriß als einzig erkennbare Person zwischen den einzelnen Episoden verbindet.
Im Gegensatz zu den Cartoonserien im Vorprogramm nutzt Disney das Anthologieformat, in dem sich die Vielfalt der Kompositionen in den visuellen Konzepten als bewußter Bruch spiegelt.
Disneys Maskottchen und Logo Micky Maus bekommt seinen Starauftritt in einer Verfilmung von Johann Wolfgang von Goethes Gedicht "Der Zauberlehrling" (1797, erstmals 1827 veröffentlicht) nach Paul Dukas (1897). Der Stilwechsel kann sich jedoch auch ins andere Extrem bewegen und wandelt sich dann zum abstrakten Film eines Ruttmann oder Oskar Fischinger, womit er auf der Höhe der Bildenden Kunst seiner Zeit gewesen ist.

Wer Disney überhaupt nicht ausstehen kann, sollte sich in diesem Fall überwinden.

Geändert von Servalan (24.03.2024 um 12:09 Uhr)
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