Thema: Filmklassiker
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Alt 24.11.2022, 06:50   #292  
Peter L. Opmann
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Bei dem nächsten Film trete ich vielleicht in das eine oder andere Fettnäpfchen. Ich rede von „Cyrano de Bergerac“ (1990) von Jean-Paul Rappeneau. Leider bin ich nicht frankophon und habe wenig Ahnung von französischen Traditionen. Von Frankreichs großer Zeit halte ich nicht allzu viel; die angloamerikanische Kultur mag ich viel lieber als die Verschnörkelungen des französischen Barock und Rokoko. Bezeichnenderweise sind alle Dialoge in Rappeneaus „Cyrano“ (wie im Stück) gereimt. Ich war trotzdem hingerissen und mag den Film noch immer. Es kann nur sein, daß ich diesem Thema durch meine Unkenntnis gar nicht gerecht werde.

Ich will mal den Stoff ein bißchen einordnen – Romanisten mögen mich korrigieren, falls ich falsch liege. Cyrano de Bergerac ist eine historische Gestalt, ein französischer Gelehrter und Dichter des 17. Jahrhunderts, auch ein früher Science-Fiction-Autor, der sich Begegnungen mit Mondbewohnern ausdachte und in einem umfangreichen Roman beschrieb. Er hat jedoch mindestens eine zweite Existenz als Bühnenheld von Edmond Rostand. Sein „Cyrano de Bergerac“ wurde zu einem französischen Nationaldrama. Rostand machte Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Denker einen eher romantischen Helden und gab den Franzosen den Glauben an ihre glanzvollste Epoche zurück. Sein ungeheuer erfolgreiches Stück (das gemeinhin als Komödie klassifiziert wird) wurde mehrmals verfilmt; man sollte wohl zumindest noch die Version von 1950 mit Jose Ferrer in der Titelrolle kennen (ich muß da allerdings passen). In dem Film, auf den ich mich beziehe, spielt Gerard Depardieu den Cyrano. Es dürfte weitere namhafte Mitwirkende geben, aber die kenne ich alle nicht.

Cyrano ist ein Edelmann, der mit Esprit überall ungeschminkt sagt und vertritt, was er denkt, und sich dank seines überragenden Mutes und seiner Fechtkünste stets behauptet. Gleich zu Beginn bricht er im Alleingang eine Theateraufführung ab, weil er die zu schlecht findet. Allerdings hat er doch vor etwas unüberwindliche Angst: und zwar seiner Cousine Roxanne seine Liebe zu gestehen. Er besitzt nämlich eine übergroße Nase (die sonst niemand ungestraft erwähnen darf) und fürchtet, sie könnte ihn für zu häßlich halten und deshalb abweisen. Das ist allerdings nicht das Problem – Roxanne liebt vielmehr einen jungen Gardisten namens Christian, der es freilich außer mit seinem guten Aussehen mit keiner der überragenden Fähigkeiten Cyranos aufnehmen kann. Cyrano gibt sich dennoch sofort geschlagen und willigt sogar ein, Christian bei seinem Liebeswerben um Roxanne zu unterstützen. Wenn Christian unter dem Balkon von Roxanne auftaucht und ihr ein Liebesgedicht vorträgt, dann stammen die Verse aus der Feder von Cyrano. Und Roxanne ist verzückt; sie merkt, aus diesen Zeilen spricht wahre Liebe!

Allerdings muß Christian in den Krieg ziehen. Roxanne bittet ihren Cousin, ihn zu begleiten und zu beschützen. Cyrano tut sein Möglichstes (nicht für Christian, sondern für Roxanne), aber trotzdem fällt Christian in einer Schlacht. Aber das bringt Cyrano keinen Schritt weiter. Er will auch jetzt die Liebe zwischen Roxanne und Christian nicht zerstören und wagt es weiter nicht, sich ihr zu offenbaren. Roxanne ihrerseits glaubt, nie wieder einen Mann wie Christian zu treffen, und geht ins Kloster. Allerdings besucht er sie dort häufig und führt mit ihr angeregte Gespräche. Die Jahre vergehen. Als er sie wieder einmal aufsuchen will, wird er auf dem Weg überfallen und schwer verwundet. Trotzdem läßt er sich nichts anmerken und hält trotz Verspätung die Verabredung mit Roxanne ein. Er entschuldigt sich, er habe einen unerwarteten Besucher gehabt, ihm aber gesagt, er möge eine Stunde später wiederkommen – er meint den Tod. Er bittet Roxanne, Christians letzten Brief lesen zu dürfen, den er angeblich tödlich verwundet an sie gerichtet hat und den sie immer noch bei sich trägt. Cyrano liest ihn laut vor, auch als es schon ganz dunkel geworden ist. Da wird ihr endlich klar, daß all die Worte, die sie Christian zugeschrieben hat, von ihm stammen. Aber es ist zu spät – Cyrano stirbt.

Die Überlänge des Films läßt darauf schließen, daß Rappeneau das Theaterstück nicht zusammengekürzt, sondern eher ausgebaut hat. Er entwirft ein großes Panorama des Paris um 1600/1650 – soweit ich das beurteilen kann, in stimmiger Weise. Und bezeichnend für Frankreichs große Ära bestimmt die Form hier alles und triumphiert letztlich über den Inhalt. Wenn sich Roxanne Christians Liebesschwüre anhört, verlangt sie immer wieder: „Verzieren Sie es.“ So etwas sagt mir überhaupt nicht zu – mit der Ausnahme dieses Films. Das Drama ist überaus gelungen ins Filmische übersetzt worden. Abgesehen von der Sprache in Alexandrinerversen erinnert nichts an eine Bühne – die Schauplätze werden prächtig mitinszeniert, und es mangelt nicht an raumgreifender Action (in der Art der drei Musketiere). Allerdings wird das Pathos – ohnehin für eine Komödie untypisch – an manchen Stellen arg übertrieben, besonders zum Schluß. Ich mußte bei der letzten Begegnung von Cyrano und Roxanne an den Ausgang des Films „Zeit der Unschuld“ (oben bereits besprochen) denken. Der ist vielleicht wirkungsvoller, indem es eben nicht noch einmal zu einer Begegnung der beiden verhinderten Liebenden kommt (wird auch nicht als Komödie bezeichnet). Aber Rostand mag es in seinem Stück so vorgesehen haben…

Geändert von Peter L. Opmann (24.11.2022 um 10:50 Uhr)
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