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Alt 18.08.2015, 14:56   #5  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Diesmal zwei Zitate in deutscher Übersetzung und mit umfangreicheren Erläuterungen, weil die Comics, um die es geht, im deutschsprachigen Raum kaum bekannt sind. Die Zitate stammen aus:

Jean-Luc Godard: Godard/Kritiker. Ausgewählte Kritiken und Aufsätze über Film (1950-1970) (Reihe Hanser 83). Auswahl und Übersetzung aus dem Französischen von Frieda Grafe, München: Carl Hanser Verlag 1971 [Originalausgabe: Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard, Paris: Éditions Pierre Belfond 1968]

Zitat:
Stellen Sie sich Becassine vor und den blödesten Jungen, der Ihnen gerade einfällt, die sich gegenseitig klarzumachen versuchen, daß sie sich anbeten - was sie sehr schnell dahin bringt, sich zu hassen.
(aus: "Stutzer und Schnepfen. The Lieutenant Wore Skirts und Artists and Models von Frank Tashlin", in: Cahiers du Cinéma, Nr. 62, August/September 1956 - hier: Seite 34)

Ausgewählte Erläuterungen
(...) S. 34: Bécassine, Figur eines bekannten französischen Kinderbuches, ein etwas einfältiges bretonisches Dienstmädchen.
(Seite 190)
Bécassine gehört zu den frankobelgischen Comicstrips für ein weibliches Publikum. Die ersten Seiten von Émile-Joseph-Porphyre Pinchon erschienen am 2. Februar 1905 in der ersten Ausgabe von La Semaine de Suzette (édition Gautier-Languereau) und schildern die Abenteuer des gleichnamigen Dienstmädchens aus der Bretagne in Paris.
Damals gab es das Klischee des tumben Bretonen, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg von den maghrebinischen Immigranten abgelöst wurde:
Zitat:
Obwohl Bretonen schon seit dem Mittelalter und vor allem während der Revolutionszeit nach Paris kamen, beschränkt sich Moch auf die Zeit von 1870 bis zur Gegenwart, als eine massenhafte Migration bretonischer Arbeitskräfte in die Pariser Region einsetzte. Im 19. Jahrhundert führten hohe Geburtenraten in der Bretagne dazu, dass viele dem kargen Land entflohen und sich als Fabrikarbeiter oder Dienstboten im 14. Arrondissement von Paris oder im industriellen Vorort Saint-Denis verdingten, der auch aufgrund der starken sozialistischen Präsenz der »rote Gürtel« von Paris genannt oder als »französisches Manchester« bezeichnet wurde. (...)
In der öffentlichen Wahrnehmung waren Bretonen in erster Linie »Trampel vom Lande«, die nicht für das urbane Leben bestimmt waren. Bretoninnen, die vor allem als Dienstboten der Pariser Bourgeoisie arbeiteten, dienten als Projektionsfläche gesellschaftlich unterdrückter Fantasien, in denen Sexualität, Verschlagenheit und Frivolität miteinander verwoben wurden. (...) In Karikaturen späterer Jahre wurden Bretonen als sexuelle und religiöse Heuchler oder Alkoholiker oder – in der Cartoon-Figur der Bécassine – als naive, dümmliche Tölpel dargestellt, und in frühen Filmen der Produktionsfirmen Pathé und Gaumont zwischen 1908 und 1914 wird die Bretagne als rückständiges, von Krankheit, Aberglauben, Alkoholismus, Faulheit, Elend und Armut gebeuteltes Land gezeichnet. Erst im Zuge eines wachsenden Regionalismus in den 1930er Jahren veränderte sich das Image der Bretonen, die eine selbstbewusste Identität entwickelten und gegen die Stereotypisierung protestierten. So vollzog sich schließlich im Laufe der Jahre die Integration und Assimilation der einstigen »Parias«.
Seit 1913 erschienen Bécassines Abenteuer als Alben. Nach Pinchons Tod übernahm Jean Trubert die Serie. Obwohl keine neuen Abenteuer entstanden, blieb die Comicserie im Alltag präsent. Zweimal kam der Comic ins Kino, 1939 als Real-Spielfilm und 2001 als Animationsfilm. Zum 100jährigen Jubiläum spendierte die französische Post 2005 eine Briefmarke. Vor kurzem feierte die Serie ihr 110jähriges Jubiläum.

In dem zeithistorisch-autobiographischen Spionageroman Codename Caracalla (Alias Caracalla, Gallimard 2009) von Daniel Cordier, der im besetzten Frankreich Sekretär des legendären Résistance-Kämpfers Jean Moulin wird, gibt es ene Szene im Ausbildungscamp bei den Briten. Sobald der Name Bécassine fällt, geht einem Bretonen die Galle über. Bevor der Streit in eine Prügelei übergeht, schlichtet der Ausbilder die Kampfhähne.
Diese Szene findet sich auch in der zweiteiligen Verfilmung (Siècle Productions; France 3, Arte France, CNDP und TV5 Monde 2013, Regie: Alain Tasma), die vor einigen Monate bei arte wiederholt worden ist.

Geändert von Servalan (20.08.2015 um 14:31 Uhr)
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