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Alt 08.04.2017, 17:43   #118  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Fassbinders Berlin Alexanderplatz stellt so ziemlich alles auf den Kopf, was mit Verfilmungen zu tun hat - und einiges mehr, das mit dem Film an sich zu tun hat. Wer es bösartig ausrücken will, könnte sagen, Döblins Roman wird zum Reader's Digest des Stoffes degradiert; gutwillig könnte es heißen, Fassbinder nutzt Döblin auf dieselbe Weise wie Joyce's Ulysses das ehrwürdige Epos von Homer.
Zu dem Prestigeprojekt gab es natürlich einen Bericht über die Dreharbeiten, sonst hätte ich es selbst nicht geglaubt. Die Szenen, die in Freienwalde spielen, wurden in einem echten Wald gefilmt. Aber die Waldszenen in der Serie wirken künstlich wie vergessene Kulissen aus einer Wagner-Oper. Extremst künstlich ...

Die Serie widersetzt sich dem Binge-Watching. Nach spätestens drei oder vier Folgen habe ich eine Pause gebraucht, weil ich das Gesehene sacken lassen mußte.
Zum Glück hatte ich mehrere Seminare über die Filme, die Kunst und die Literatur der Weimarer Republik hinter mir, das erleichterte mir den Zugang.
Fassbinder versteht sich aufs Erzählen, er kennt sich mit der Technik aus, und er nutzt die Stärken, um die Schwächen zu kaschieren. Wedels Der König von St Pauli nutzt ja ähnliche Motive, aber bei Wedel wirkt das alles billig und plump.
Obwohl die Serie mit Ton und in Farbe gedreht wurde, vermittelte sie ein Déjà-Vu mit der Bilderwelt dieser Epoche: Vom Stoff her, ist die Geschichte des Franz Biberkopf in etwa die männliche Variante von G.W. Pabsts Die freudlose Gasse.
Die Krimiszenen von Einbrüchen und Berliner Ringverein erinnerten mich an die Genreklassiker von Fritz Lang (M - Eine Stadt sucht einen Mörder, Die Spinnen oder die Mabuse-Filme), andererseits an das expressionistische Kino, das in den USA unter anderem in den Horrorfilm mündete.
Die Döblin-Verfilmung im engeren Sinne (ohne den Epilog) wirkte auf mich wie optischen Vorlagen für die modernen Gemälde von Dix, Grosz und Beckmann oder Montagen von Heartfield.

Im Bonusmaterial wird gesagt, weil der Etat überzogen wurde, hat Fassbinder Kosten eingespart, indem er die Kulissen auf das Notwendigste reduzierte und sich mit technischen Tricks behalf. Für meinen Geschmack paßt das zu gut mit Franz Biberkopfs Entwicklung zusammen:
Solange er anständig bleiben will, solange wird möglichst in realen Kulissen mit hohem Aufwand gedreht. Nachdem er aber seinen Arm verloren hat, nachdem er zynisch in Suff und Selbstmitleid versinkt, werden auch die Kulissen irrealer und künstlicher.
Fassbinders fast zweistündigen Epilog sehe ich wie eine Mischung aus Pasolini, Mario Bava und Dario Argento. Die Musik von Elvis Presley über Janis Joplin bis zu Kraftwerk sind auf der Höhe der Zeit und eine Klasse für sich.
Die einzigen Minuspunkte erhalten die beiden Engel von mir: Aus heutiger Sicht wirken die wie Cosplayer aus einem Fantasy-Rom oder Gäste einer SM-Fete.

Geändert von Servalan (17.10.2020 um 14:53 Uhr)
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