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Alt 07.12.2020, 16:39   #881  
Peter L. Opmann
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Mein Gesamtfazit:

„Die Rächer“ war in der Frühzeit von Williams wohl meine Lieblingsserie. Heute sehe ich die Sache ziemlich anders. Damals habe ich einfach auf die Ansammlung von Helden geblickt, die schon von anderswo her, ihrer eigenen Serie nämlich, Star-Status hatten. Aber beim Wiederlesen habe ich festgestellt, daß das All-Star-Team kaum je richtig funktionierte. „Die Rächer“ bot auch die Gelegenheit zum Crossover. Ich mußte aber feststellen, daß es sich als mindestens ebenso schwierig erwies, die Einzelserien und diesen Kulminationspunkt richtig miteinander zu verschränken – was ja nach relativ kurzer Zeit dazu führte, daß sich Thor, Gigant und Wespe sowie der Eiserne weitgehend aus dem Team zurückzogen. Schließlich war in „Rächer“ auch nur recht wenig von der Soap-Opera enthalten, die bei vielen Marvelserien das Salz in der Suppe bildete.

Die frühen Ausgaben, namentlich # 4, 6, 8 und 10 (Williams), verstehen es in meinen Augen noch heute zu gefallen. Möglicherweise haben Stan Lee und seine Zeichner, vor allem Jack Kirby, sich anfangs selbst mehr von der Serie versprochen. Es war in gewissem Sinn die Findungsphase des Teams, die in sich eine Faszination ausstrahlt. Es fehlten aber überraschenderweise von Anfang an bedeutende Gegner (vielleicht von dem Zeitreisenden Kang abgesehen), und damit fehlte auch eine richtige Aufgabe für die Rächer. Irgendwie kämpfen sie schon immer wieder um das Weiterbestehen der Erde, aber das steht seltsamerweise nicht so im Vordergrund, daß es sich dem Leser richtig einprägt.

Es kam dann zu der grundlegenden Umbesetzung des Teams, und zugleich war für mehr als 30 Ausgaben Don Heck der Stammzeichner der Serie. Beides hat schon bei Erscheinen der Hefte mein Interesse für die Serie ziemlich gedämpft. Ich habe zwar zwischen # 14 und # 48 die Serie überhaupt nicht gelesen, aber ich hatte sicher hin und wieder mal am Kiosk ein Heft in der Hand, habe es aber wegen des Artworks von Heck und seltsamer Storys wieder zurückgelegt. Dann kam John Buscema; man kann nur darüber spekulieren, ob die Verantwortlichen sahen, daß die Serie einen besseren Zeichner brauchte. Aber Buscema betreute die Serie in der nach meiner Einschätzung klassisch guten Phase von etwa # 45 bis # 61. Kurz zurück zu Don Heck: Beim Wiederlesen habe ich gesehen, daß er mitunter auch ziemlich gute Arbeit abgeliefert hat (vor allem wenn er einen guten Inker hatte), aber die Qualität der Zeichnungen schwankt, und sein Stil ist eigentlich nie so aufgeräumt und immer das Wesentliche treffend wie bei Buscema. Naja, auch seine „Rächer“-Ausgaben aus den Jahren 1965 bis 67 wird man heute wohl als klassisch bezeichnen.

Etwa zur gleichen Zeit wie Buscema kam auch Roy Thomas, der einen zweifellos überarbeiteten Stan Lee ablöste. Und auch dadurch veränderte sich die Serie, wie ich gesehen habe. Thomas erzählt effektvoller, schafft es eher, den Leser mit einem ungewöhnlichen Einstieg zu verblüffen. Es sind weniger Storys von der Stange, wobei man an vielen logischen Fehlern und Kurzschlüssen merkt, daß er ebenso wie Lee ziemlich unter Zeitdruck stand. Ich muß aber auch sagen, daß Thomas keine herausragenden Ausgaben mehr schaffte wie die ganz frühen Rächer-Hefte – vielleicht von „Rächer“ # 55, dieser verzwickten Zeitreisegeschichte, abgesehen.

Thomas sorgte jedoch dafür, daß sich die Serie dem damaligen Zeitgeschehen annäherte – durch skrupellose Geschäftemacher, mit denen es die Rächer zu tun bekamen, sowie zaghafte Versuche, der Rassengleichheit oder der Frauenbewegung Geltung zu verschaffen. Thomas adaptierte aber auch Science Fiction-Elemente, die schon seit einer Weile in der Trivialkultur eine Rolle spielten. Mit seinen Fantasy-Storys war er vielleicht sogar der Zeit voraus. Manches deutet auf „Conan“ hin, was sich etwas später als sein wohl bester Beitrag zum Marvel-Universum erwies, und er hatte auch etwas übrig für Zauberei und exotische Parallelwelten – in der Literatur wurden solche Werke bald weit erfolgreicher als die SF.

Trotzdem: In den 100 Williams-Ausgaben lernt man die Rächer-Mitglieder kaum näher kennen, und es gibt bei kaum einem von ihnen eine charakterliche Entwicklung. Vielleicht war das Problem nicht zu lösen, so etwas mit den anderen Serien zu koordinieren. Und so bleibt in „Rächer“ oft nur die Action als Spannungsmoment übrig. Wiederholt haben wir festgestellt, daß oft Widersprüchliches über die Kräfte der Helden zu lesen ist. Die Scharlachhexe wird wohl mit der Zeit immer stärker, Vision ist mal quasi unbesiegbar, mal wird er gleich zu Beginn der Auseinandersetzung mattgesetzt. Thors Hammer hat plötzlich zusätzliche Fähigkeiten. Gigant und Falkenauge erweisen sich als problematische Figuren, weil sie schon von ihrer Anlage her bei den epischen Schlachten, die die Rächer schlagen, nicht recht mithalten können. Die Wespe verschwindet, was kaum mit der Frauenbewegung zu vereinbaren ist, nach ihrer Hochzeit fast ganz von der Bildfläche. Da wäre auch ein festes Konzept wünschenswert gewesen, aber das habe ich bei Marvel nun schon öfter festgestellt, daß Dinge verändert wurden, wie es eben die jeweilige Story gerade erforderte.

Bei aller Kritik: Etwas von der Begeisterung, die ich als Kind beim Lesen empfand, ist geblieben. „Die Rächer“ ist ein Stoff mit Potential, nur leider kaum je richtig ausgeschöpft. Aber beinahe hätte ich Lust, sofern das bei der deutschen Veröffentlichungsweise machbar ist, noch ein Stück weiterzulesen, um herauszufinden, ob das Potential später doch noch genutzt wurde.
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