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Alt 21.03.2018, 19:22   #79  
Servalan
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As I Was Moving Ahead Occasionally I Saw Brief Glimpses of Beauty (USA 2000), Drehbuch, Produktion, Kamera, Schnitt und Regie: Jonas Mekas, 288 min, FSK: Nicht geprüft

Unter den bekannten Stummfilmen dürfte Menschen am Sonntag (siehe # 76) derjenige sein, der einem Home Movie am nächsten kommt. In den ersten Jahrzehnten war die Filmerei ein kostspieliges Hobby für begüterte Leute, die zudem auf Personal angewiesen war, das sich vor der Kamera filmen ließ.
Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich die allmählich wachsende Mittelschicht eine 16mm-Kamera leisten, und Ethnologen oder andere Forscher nutzten leichtere Kameras wie Arriflex und Bolex für ihre Studien. Das Super-8-Format bot dann praktisch jedem mit einem geregelten Einkommen die Gelegenheit, sich als Amateurfilmer zu bewähren.
Meist wurde das eigene Familienleben stolz auf Zelluloid gebannt. Aber zwischen den Aufnahmen und dem fertigen Film liegt der zeitfressende Prozeß des Sichtens und Schneidens. Als Allround-Hardcore-Heimwerker mußte mein Vater das natürlich auch ausprobieren. Er las sich brav das nötige Fachwissen an (eine Broschüre von Jean Pütz, soweit ich mich erinnere), deren Empfehlungen er sklavisch folgte. Bei besonderen Familienfeiern und im Urlaub wurde dann die Kamera gezückt.
Amateurfilme aus vergangenen Jahrzehnten sind heute ein beliebtes Sammelgebiet. Die Szene entstand auf Flohmärkten und präsentiert schon seit einer geraumen Weile Nostalgikern auf Filmabenden in Kneipen oder in Kulturzentren ihre geborgenen Schätze.

Francis Ford Coppolas Trilogie um Mario Puzos The Godfather | Der Pate verdankt einen Teil seines Ruhms auch dem Umstand, daß sowohl seine Eltern als auch seine Frau Eleanor und seine Kinder, vor allem Sofia Coppola, deutliche Spuren darin hinterlassen haben. Im Audiokommentar nennt er die Trilogie offen und ehrlich seinen Home Movie.
Der ultimative, definitive Home Movie stammt jedoch vom Paten des amerikanischen Avantgardekinos, dem litauischstämmigen Jonas Mekas (Jahrgang 1922). 1944 flüchtete Mekas mit seinem Bruder Adolfas vor den Nationalsozialisten aus Litauen. Sie wurden jedoch gefangen und landeten in einem Arbeitslager in Elmshorn. Nach weiteren Verwicklungen landeten sie in Displaced-Persons-Lagern in Wiesbaden und in Kassel. Von 1946 bis 1948 studierte er an der Universität Mainz Philosophie. Ende 1949 emigrierten beide Brüder in die USA, nach Williamsburg, Brooklyn, New York.
Dort entdeckte er das Medium Film für sich. Bekannte aus der Szene förderte er, indem er ihre Aufführungen in Galerien und Independentkinos kuratierte. 1954 gründeten die Brüder Mekas das Fachjournal Film Culture, seit 1958 rezensierte er Filme für das Magazin Village Voice. 1962 gründete er die Film-Makers' Cooperative mit, die seit 1964 ihre feste Adresse in der Filmmakers' Cinematheque hatten, aus der sich die Anthology Film Archives entwickelten.

Nicht nur wegen seines Wohnsitzes im Big Apple erinnert Jonas Mekas an das filmische Pendant zu Art Spiegelman. Über Jahrzehnte experimentierte er mit Tagebuchfilmen. Am 4. November 2000 feierte seine Mega-Kompilation As I Was Moving Ahead Occasionally I Saw Brief Glimpses of Beauty auf dem London Film Festival seine Premiere, der mit einer Laufzeit von knapp fünf Stunden zu längsten Experimentalfilmen gehört. Zwar bleibt seine Familie immer im Fokus, der besondere Reiz besteht darin, über einen Zeitraum von 30 Jahren mitzuerleben, wie sich New York City verändert und immer wieder neu erfindet.

Geändert von Servalan (10.12.2021 um 17:40 Uhr)
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