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Alt 05.05.2017, 18:09   #31  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Benoît Peeters (Szenario) / François Schuiten (Zeichnungen): Les Cités obscures tome 3: La Tour (erstmals in der Zeitschrift (À SUIVRE) n° 96-102 (1983), erste Albenveröffentlichung Casterman Collection Les Romans (À suivre) 1987), deutsche Ausgaben: Der Turm - Die wahre Geschichte des Mannes, der ihn bereiste (Ehapa 1991 und 2000, Schreiber & Leser 2014)

Vor wenigen Tagen wurde François Schuiten als einer der besten Zeichner für die Will Eisner Awards 2017 nominiert. Mitte der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre erwarb sich der Sprößling einer weitläufigen Familie von Architekten ersten Ruhm in seinen Comics, die damals das klassische frankobelgische Format von 48 bzw. 56 vierfarbigen Seiten (kurz: 48cc) durchbrachen.
Er ist einer der Pioniere* längerer abgeschlossener Formen, häufig in schwarzweiß, für die sich heute der Begriff Graphic Novel eingebürgert hat. Die ersten Comicromane in der Zeitschrift entstanden, weil sich die klassischen Comicmagazine (wie Tintin, Spirou, Pilote) immer schlechter verkauften. Inhaltlich und künstlerisch anspruchsvolle Comics jenseits der klassischen Serien sollten ein älteres, erwachseneres Publikum bei der Stange halten und neue Schichten erschließen.

Schuiten kommt von der Graphik, der Bildenden Kunst. Deswegen überläßt er das Texten der Szenarios lieber Leuten, die es besser können: Nach seinem Bruder Luc Schuiten und Claude Renard, seinem Lehrer an der Kunsthichschule École supérieure des arts Saint-Luc, arbeitet er am liebsten mit Benoît Peeters zusammen.
Der Hergé-Fan zählt zu den renommiersten Comicexperten, nebenbei schreibt er Belletristik und fotografiert. Auch François Schuiten verfügt mit Illustrationsaufträgen und Konzepten für Filmbauten oder visuelle Filmkonzepte über ein einträgliches Spielbein.

Gemeinsam haben Schuiten und Peeters mit ihrer Crossmedia-Serie Les Cités obscures | Die geheimnisvollen Städte Comicgeschichte geschrieben und sich in der belgischen Kunstwelt etabliert. Dieses Projekt verfolgen sie seit 1983. Es begann 1983 mit Les Murailles de Samaris | Die Mauern von Samaris, einem Album über eine Welt, die sich als Trompe-l'œil aus verschiebbaren Kulissen entpuppt.
Mittlerweile besteht die Serie nicht nur aus einem Dutzend Comics (im engeren Sinne), das Universum der fiktiven Städtewelt hat sich in Atlanten, Nachschlagewerke, Filme und Musik-CDs ausgeweitet. Die Serie erscheint im Original bei Casterman, die Sonderbände usw. aber bei Schlirf-Book, Arboris, Les Impressions Nouvelles, Rêves de bulles und die CDs bei Hamonia Mundi.
Obwohl es sich um eine Serie handelt, sind die einzelnen Alben ohne weiteres Vorwissen verständlich, so daß die Reihenfolge keine Rolle spielt. Viele Zusammenhänge zwischen den Einzelwerken erschließen sich erst auf den zweiten Blick.

Der Turm stellt gewissermaßen die Quintessenz der Serie dar, in der Architektur und Malerei die grundlegenden Motive liefern. Der Band wird regelmäßig neu aufgelegt und ist mittlerweile in etliche Sprachen übersetzt worden. Das liegt an der immensen Verdichtung kunsthistorischer Motive.

Wir befinden uns im Jahr 400 (Jahr des Turmes). Giovanni Battista arbeitet seit Lebzeiten in einem riesigen Turm, der nie fertig wird. Jetzt macht er sich auf den Weg nach oben, um zu sehen, wie hoch der Turm schon geworden ist ...

Schuiten/Peeters erwecken hier die biblische Geschichte um den Turmbau zu Babel (Genesis Buch 11 bzw. Gen/Bereschit 6,9–11,32 der Torah) zum Leben, dabei ist der Comic mit Verweisen gespickt:
  • Pieter Brueghel der Ältere (1525/1530-1569): "Großer Turmbau zu Babel" (1563), befindet sich im Kunsthistorischen Museum, Wien
  • Giovanni Battista Piranesi (1720-1778): Carceri (1750)
  • Eugène Delacroix (1798-1863): "La Grèce sur les ruines de Missolonghi" (1826)
  • Horace Vernet 1789-1863): "La prise de Constantine – Prise de la ville" (1837) und "La prise de Constantine – L'ennemi repoussé des hauteurs de Coudiat-At" (1837)
  • Erastus Salisbury Field (1805-1900): "Historical Monument of the American Republic" (1867-1888)
* Diese Formen gab es schon vorher, aber seit dem Zweiten Weltkrieg wurden Comics fast ausschließlich für ein Publikum von Kindern und jungen Erwachsenen produziert. Dadurch bildete sich ein hartnäckiges Vorurteil, dem ein schlechter Ruf anhaftet. Comichistorische Forschungen können das Gegenteil beweisen, aber nicht alles dringt bis zum Feuilleton durch. Geschweige denn, bis zum allgemeinen Publikum.

Geändert von Servalan (09.05.2017 um 13:02 Uhr)
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