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Alt 12.03.2024, 16:12   #193  
Servalan
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L’Année dernière à Marienbad | Letztes Jahr in Marienbad (Frankreich / Italien / Deutschland / Österreich 1961, Argos Films, Cinétel, Les Films Tamara, Precitel, Société Nouvelle des Films Cormoran, Cineriz, Como Film, Silver Films und Terra Film Produktion), Drehbuch: Alain Robbe-Grillet, Regie: Alain Resnais, 94 min, FSK: 16

Der Schwarzweißfilm ist ein ziemlicher Solitär, der mit dem klassischen Erzählkino bricht. Inspiriert von Stummfilmklassikern verfolgt das Publikum auf der Leinwand drei namenlose Figuren, eine Frau und zwei Männer, in einem Grand Hotel der gehobenen Gesellschaft bei ihren Konversationen. Fensterlose, verspiegelte Flure, Salons und Zimmer bilden neben einem barocken Park im Stile von Versailles den edlen Hintergrund für ein Melodram, das surrealistisch als experimenteller Avantgardefilm erzählt wird.
Seinen zweiten Spielfilm gestaltete Resnais zusammen mit Alain Robbe-Grillet, einem der Väter des Nouveau Roman, mit dem eine junge Generation nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich die Gattung Roman radikal erneuern wollten, weil sich die traditionellen Formen erschöpft hatten. Wichtiger als der Inhalt wurde die Erzählweise, die écriture, worauf die Literaturkritik heftig reagierte. International aufmerksam beobachtet, entbrannte ein heftiger Streit um den Roman, in dem ein privilegiertes Mittel gesehen wurde, wie sich die bürgerliche Gesellschaft ihrer selbst versicherte.
Dieser Ansatz setzt sich in Ausstattung und Requisite fort, unterstützt durch präzis elegante Bildkompositionen, die trotz höchster Aufmerksamkeit der Wahrnehmung des Publikums Streiche spielen. Sowohl akustisch wie auch visuell erschweren Spiegelungen und Staffelungen, Loops, Brüche und Variationen ein allzu leichtes Verständnis, denn zunächst rauben sie die Orientierung. Inmitten eines Labyrinths wird das Publikum immer wieder vor neue Rätsel gestellt, die lakonisch wie die Partien gelangweilter Spieler durchexerziert werden.
Bezeichnend finde ich, dass sich Robbe-Grillet und Resnais hinsichtlich der Interpretation gegenseitig widersprochen haben. Für Resnais sind sich der Mann und die Frau ein Jahr zuvor wirklich begegnet, während Robbe-Grillet meinte, der Mann suggeriere der Frau lediglich, sie wären einander begegnet.

Der Film wurde beim Internationalen Filmfestival in Cannes eingereicht, aber abgelehnt, weil Resnais zu den Unterzeichnern von Jean-Paul Sartres Manifest der 121 gehörte, das den laufenden Algerienkrieg kritisierte. Bei den 22. Internationalen Filmfestspielen von Venedig 1961 gewann der Film den Hauptpreis, den Goldenen Löwen. Der französische Verband der Filmkritiker würdigte das Werk mit dem Prix Méliès als besten französischen Film des Jahres. Frankreich reichte ihn 1962 als besten ausländischen Film bei den 34. Academy Awards ein, allerdings war er nicht unter den fünf Nominierten.
Der Film polarisierte die Kritik. Ein früher Fan war der Schauspieler und Surrealist Jacques Brunius, der das Werk als den besten jemals gemachten Film feierte. Die beiden US-Amerikaner Harry Medved und Randy Dreyfuss hingegen nahmen ihn in ihr Buch The Fifty Worst Films of All Time (and How They Got That Way) auf.
Über die Jahre eroberte sich das Meisterwerk seinen Platz in der Filmgeschichte.
Akira Kurosawa zählte ihn zu seinen Lieblingsfilmen, außerdem beeinflußte er international renommierte zeitgenössische Regisseure, darunter Ingmar Bergman, Federico Fellini, Stanley Kubrick und Terence Young. Und was damals ungewöhnlich war, prägt heute mit den Werken von Peter Greenaway, David Lynch und Christopher Nolan heranwachsende Generationen.
2009 erschienen DVD und Blu-Ray in den USA im Rahmen des Klassiklabels The Criterion Collection in den USA, die bis März 2013 vertrieben wurden. Im Juli 2018 lief eine restaurierte Fassung in der Klassiksektion des 75. Internationalen Filmfestivals von Venedig, die ab September von StudioCanal als DVD und Blu-Ray auf den Markt kam.

Geändert von Servalan (12.03.2024 um 17:01 Uhr)
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