Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 31.05.2016, 17:24   #49  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
Benutzerbild von Servalan
 
Ort: Südskandinavien
Beiträge: 10.324
Blog-Einträge: 3
Standard Massimo Bontempelli: 522. Racconto di una giornata (1932)

Deutsche Ausgabe: 522. Ein Tag aus dem Leben eines Automobils (S. Fischer 1996), 123 Seiten.
https://de.wikipedia.org/wiki/Massimo_Bontempelli
https://it.wikipedia.org/wiki/Massimo_Bontempelli
http://www.britannica.com/biography/Massimo-Bontempelli
https://de.wikipedia.org/wiki/Magischer_Realismus (Magischer Realismus)
https://de.wikipedia.org/wiki/Futurismus (Futurismus)

Bei meinem eigenen Lektüreplan habe ich auf Abwechslung geachtet, weil ich mich schnell gelangweilt habe und Neues zu entdecken meine Sinne geschärft hat. Aus diesem Grund stelle ich diesmal einen Autoren und ein Werk vor, das im deutschsprachigen Raum wohl weitgehend unbekannt sein dürfte.

Trotz dieses Makels habe ich es ausgewählt, weil es für mich viele Dinge auf den Punkt bringt: Zum einen verknüpft sich in ihm die künstlerische Avantgarde des italienischen Futurismus mit dem Magischen Realismus, der mehrere Jahrzehnte zum Markenzeichen für Literatur aus Lateinamerika geworden ist.
Andererseits knüpft er mit seinem belebten Gegenstand an alte Mythen, Märchen und Sagen an, und diese Tradition setzt sich in der modernen Fantasy und Science Fiction in lebendigen Raumschiffen oder den baumähnlichen Baumhirten der Ents fort.
Außerdem werden solche Ansätze gern in Waldorfschulen oder bei Creative Writing-Kursen genutzt, tote Dinge zum Leben erweckt werden sollen. Allerdings kann das leicht schiefgehen, und dann wird es peinlich ...

Massimo Bontempelli (1878-1960) verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Lehrer und Journalist. 1921 und 1922 verbrachte er einige Monate in Paris, wo er die französische Avantgarde kennenlernte. Er brannte vor Leidenschaft und wollte in Italien etwas Vergleichbares auf die Beine stellen. Dadurch vernetzte er sich mit Künstlern und Literaten, die später bedeutender wurden als er: Alberto Savinio, Giorgio de Chirico, Luigi Pirandelli, Curzio Malaparte.
Der Futurismus wird heute mit spitzen Fingern angefaßt, weil er sich für Krieg und Faschismus begeisterte. Auch Bontempelli gehört zu den begeisterten Anhängern des Duce Bebito Mussolini, der durch seine Verbindungen zunächst an einflußreiche Posten gelangt. Weil er von der orthodoxen Parteilinie abweicht, fällt er in Ungnade und wird 1939 aus der Partei ausgeschlossen. Später wird er nach Venedig verbannt.

Die Futuristen feiern die modernsten Maschinen, begeistern sich für den Rausch der Geschwindigkeit und lieben heiß gewordenen Stahl. Was damals hochmodern war, steht heute als Oldtimer aus der Guten Alten Zeit im Museum. Durch diese Distanz bekommt der futuristische Aufbruch und Ausbruch einen Beigeschmack des Niedlichen, dem auch Bontempelli nicht entrinnt - manches liest sich unfreiwillig komisch.

Heldin des schmalen Romans ist das Fiat-Modell 522, das auf der ersten Seite vom Fließband läuft und so geboren wird. Gekauft wird der naive Wagen (Ähnlichkeiten mit Edmond Calvos Comicheldin Rosalie sind unverkennbar) von dem jungen, sportlichen Bruno, der mit ihr quer durch die Lande brettert. Bei der Höchstgeschwindigkeit von 90 Stundenkilometern schießt 522 über den Asphalt - aber noch gibt es überall Pferde. Und natürlich ist die blecherne 522 eifersüchtig auf Brunos hübsche Beifahrerinnen.
Im 13. und letzten Kapitel landet 522 schließlich im Graben.
Servalan ist offline   Mit Zitat antworten