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Alt 31.05.2023, 13:50   #150  
Servalan
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Zu den großen Werken, die über den Weg vom Schreiben zum Veröffentlichen erzählen, gehört sicher Jack Londons autobiographischer Roman Martin Eden (in Fortsetzungen im The Pacific Monthly 1908/1909, Erstausgabe bei Macmillan 1909).
Gelesen habe ich ihn zwar nicht, aber 1979 habe ich den Adventsvierteiler im ZDF gesehen, der mich schwer beeindruckt hat, vor allem der Selbstmord ist mir im Gedächtnis geblieben. Und jetzt gerade habe ich mir die italienische Verfilmung von 2019 angeschaut, der bei den Filmfestspielen in Venedig seine Weltpremiere hatte und zurecht ziemlich gute Kritiken bekommen hat; irgendwo ist er dann auch in Listen unter den besten 10 oder 20 besten Filmen des Jahres gelandet.

Der Künstlerroman beschreibt nicht nur, wie aus einem jungen, freundlichen Mann mit groben Lücken in der Allgemeinbildung ein erfolgreicher Schriftsteller wird, vielmehr legt er die damit verbundene Entwicklung der Persönlichkeit offen. Am Beginn ist Martin Eden ein einfacher Seemann, der gerade erst das Lesen für sich entdeckt hat.
Durch einen Kontakt mit der Oberschicht kommt er in eine für ihn neue Welt, in der Bücher geschätzt werden. Weil er dazugehören möchte, begeistert er sich fürs Lesen und hegt Ambitionen, Schriftsteller zu werden. Gegen die Widerstände in seinen persönlichen Umfeld besorgt er sich eine Schreibmaschine und schreibt die ersten Manuskripte, die er an Verlage schickt. Doch lange Zeit kommen die eingesandten Stücke umgehend zurück zum Absender, und wenn er keine wohlmeinenden Förderer hätte, müßte er zum Geldverdienen arbeiten.
Nach einer langen Strecke wird endlich sein erstes Manuskript bei einer Zeitschrift angenommen, für das er eine stattliche Summe bekommt. Sein erster Erfolg motiviert ihn, weiter durchzuhalten, und eine geraume Weile später fragt tätsächlich bei ihn nach Manuskripten an. Obwohl er jetzt endlich sein ersehntes Ziel erreicht, stößt ihm die Heuchelei der Oberschicht auf, die ihn so lange zurückgewiesen hat. Er wird zynisch und reagiert heftig, wenn er persönlich gekränkt wird. Seine Bücher werden veröffentlicht, er tritt bei Lesungen vor sein Publikum und doch verspürt er einen Ekel, der ihm seinen Erfolg so sehr verleidet, daß er sein Leben unerträglich findet.

Literatur im allgemeinen und Belletristik im Besonderen ist hier ein Vergnügen der oberen Schichten, ein formidabler Luxus, den sich jemand leisten können muß, und da gehört der Mann von der Straße eben nicht dazu. Häufig ist die Literatur für das Publikum nur ein leichter Zeitvertreib, mit der es unterhalten werden will, also sollte sie leicht genießbar sein.
(Ver-)störende Elemente und traurige Atmosphären sind in der Hinsicht zunächst ein Hindernis; nachdem sich Martin Eden als Schriftsteller etabliert hat, sind jedoch auch diese Manuskripte plötzlich gefragt.
Ob ein Mauskript angenommen oder zurückgesandt wird, erscheint als Glücksspiel, weil es keine formellen Kritieren für eine gelungene Geschichte gibt. Vielmehr muß Martin Eden durch Versuch und Irrtum langwierig herausfinden, was auf positive Resonanz stößt und was nicht. Für jemanden aus der Unterschicht, aus breiten Masse der gewöhnlichen Bevölkerung, erscheint der Literaturbetrieb als Black Box. Wer hingegen in der Oberschicht aufwächst, lernt dort schon die informellen Maßstäbe, nach denen Literatur beurteilt wird. Die italienische Verfilmung mit ihrem postmodern-zeitlosen Ambiente vermittelt den Eindruck, daß sich an diesen Rahmenbedingungen in all den vergangenen Jahrzehnten wenig bis gar nichts geändert hat.

Geändert von Servalan (31.05.2023 um 14:13 Uhr)
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