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Alt 24.03.2010, 10:27   #949  
michidiers
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MAUS

von Art Spiegelman

Inhalt (aus dem Vorwort): „Maus“ änderte über Nacht die Geschichte des Comics, aus Kult wurde Kunst. Erzählt wird die authentische Lebensgeschichte des polnischen Juden Wladek Spiegelman. In Queens/New York schildert er in den 70er Jahren seinem Sohn und Autor/Zeichner Art Spielgelman die Vorkommnisse der Jahre 1935 – 1946: Polen, Ausschwitz, Dachau, Stockholm und New York. Er erzählt von seiner Rettung und dem Fluch, ein Überlebender des Holocaust zu sein.

Art Spiegelman hat die gesamte Geschichte seines Vaters aufgezeichnet und auf fast 300 Comicseiten festgehalten. Die Figuren werden dabei nicht als Menschen dargestellt, sondern als Tiere. Besser gesagt: Menschlichen Körpern wurden tierische Köpfe verpasst. So wird der Kopf der Juden als Maus dargestellt, die deutschen haben Katzenköpfe, die Polen Schweineköpfe, die Amerikaner Hundeköpfe usw. Das verzerrt die direkte Wahrnehmung des Lesers von Täter und Opfer. Es bietet dafür dem Leser die Möglichkeit zur Typisierung über diese symbolschwangere Darstellung der Charaktere. Im Grunde genommen funktioniert es wie eine Karikatur oder Fabel. Oder ganz einfach ausgedrückt: Wie Micky Maus.

Die zeichnerische Darstellung ist dabei oftmals auf das Nötigste beschränkt. Meist sind auf den Gesichtern der Mäuse nur Augen und Augenbrauen dargestellt, welche die Empfindungen auf einfachste, aber dafür punktgenau darstellen: Angst, Freude, Wut, Empörung, Ratlosigkeit etc. ist formidabel mit nur einfachsten Änderungen der Stiche für die Augen und Augenbrauen dargestellt. Andererseits werden aber auch zur besseren Anschauung Landkarten, Skizzen und Konstruktionszeichnungen vom Lager, Einrichtungen und geheimen Verstecken gezeigt.

So vielschichtig dies schon ist, so ist auch die Erzählung selber komplex. Aufgrund der Tatsache, dass der Vater seinem Sohn die Geschichte erzählt, hat die Handlung immer zwei Ebenen. Die erste ist die Vergangenheit mit den apokalyptischen Erlebnissen Wladeks. Die zweite ist die Gegenwart, in der Wladek seinem Sohn die Geschichte erzählt und die dem Leser die heutigen Auswirkungen dieser Erlebnisse auf Wladek darstellt. Wladek ist durch die Zeiten der dauernden Todesängste, Hungers, Entbehrungen geprägt. Er wurde zu einem Dickkopf, Eigenbrötler, Geizkragen und neurotischen Sammler von Gegenständen, die man irgendwie und irgendwann vielleicht nochmals gebrauchen könnte. Das bringt Wladek einen dauernden Konflikt mit seiner jüdischen Frau Marla und auch mit seinem ebenfalls psychisch kriselnden Sohn Art.

Eine weitere wichtige Rolle ist neben diesen obigen zwei Ebenen auch die Tatsache, dass der Leser im Grunde genommen den Entstehungsprozess des Comics vom Anfang bis zum Ende miterleben kann und von der Arbeit und vom Zusammenleben von Art Spiegelmann und seiner zum Judentum übergetretenen französischen Freundin Francoise erfährt. Also ist hier sogar noch eine Dritte Handlungsebene im Comic versteckt, welche noch über die beiden vorgenannten Ebenen steht.

Oft habe ich mich während der Lektüre gefragt, welche Gedanken Spiegelman wohl hatte, dieses Werk in dieser Form zu schaffen und was er damit beabsichtigte. Vieles erklärte sich dabei auch von selbst, wenn man nur aufmerksam liest. So reden Art und seine Freundin Francoise auf einer Autofahrt miteinander:

Art: „ ..ich wünschte, ich wäre mit meinen Eltern in Ausschwitz gewesen, um wirklich zu wissen, was sie durchgemacht haben. Ich fühle mich dem Versuch nicht gewachsen, eine Wirklichkeit zu rekonstruieren, die schlimmer war, als meine schlimmsten Träume. Und das dann auch noch als Comic Strip!... Es gibt so viel, was ich nicht verstehen oder bebildern kann. Die Wirklichkeit ist zu komplex für Comics. Man muss so viel weglassen oder verdrehen.
Francoise: „Du musst nur ehrlich bleiben, Liebling.“
Art: Verstehst Du, was ich meine? Im wirklichen Leben hättest Du mich nie so lange reden lassen, ohne mich zu unterbrechen!

Wie man sieht, verschwimmen hier die Realität und erzählerische Darstellung auf einzigartige Weise und erklären dabei den Leser auch noch nebenbei, wie der Comic funktioniert und auf den Leser wirken kann. Wer diesen Comic nicht liest, hat selber Schuld und verpasst das nach meiner Auffassung wohl beste Comicwerk, welches bisher geschrieben worden ist. Es lässt niemanden unberührt und lässt bei dem einen oder anderen sicher auch die Sicht der (Comic-)Dinge ändern.

Kommt Zeit, kommt Rat: Vor etwa 15-20 (?) Jahren habe ich Maus bereits einmal gelesen, kurz nachdem es erstmals in Deutschland erschienen ist. Ich versuche schon die ganze Zeit, meine damaligen Gedanken zu diesem Werk nachzuvollziehen. Fakt ist, dass mein damaliges Verständnis für dieses Werk noch nicht das war, welches ich heute dafür habe. Die Wahrnehmung dafür hat sich nach so vielen Jahren, so glaube ich, erheblich verschärft und man liest doch mit ganz anderen Augen, als es früher der Fall gewesen ist.
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