Thema: Filmklassiker
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Alt 31.03.2023, 06:27   #1055  
Peter L. Opmann
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Wenden wir uns wie angekündigt den filmischen Erinnerungen von Martin Scorsese zu. Im Original heißt die Doku „A Personal Journey with Martin Scorsese through American Movies“; sie ist 225 Minuten lang. 1995 (im Jahr ihrer Entstehung) lief sie anläßlich von 100 Jahre Kino (1895 – 1995) unter dem Titel „Mythos Hollywood“ an zwei Abenden auf Arte, wo ich sie aufgezeichnet habe. Hauptthema ist, wie sich ein Regisseur in Hollywood behaupten kann – ein Thema, das Scorsese offenbar selbst stark beschäftigt. Die Kinogenres nehmen zwar breiten Raum ein (und zwar speziell Western, Gangsterfilme und Musicals), sind da aber ein Unterpunkt. Scorsese will zeigen: Die Regeln des Geschäfts sind von der Filmindustrie vorgegeben, aber begabte Regisseure konnten innerhalb dieser Grenzen immer ihren persönlichen Ausdruck finden.

Es gibt eine kurze Einführung von Michael Strauven. Er berichtet, daß Scorsese als Kind häufig krank war, in seinem Zimmer bleiben mußte und sich da mit Filmszenen, an die er sich erinnerte, auseinandersetzte. Er ging oft mit seinem Vater ins Kino und kannte bald die Namen vieler Regisseure, Produzenten und Studios. Und Strauven betont: „Er hat nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz voller Filme.“

Dann beginnt der eigentliche Film, wiederum mit einer Einführung, die nun Scorsese gibt. Ein Buch bedeutete für ihn den ersten Zugang zum Kino: „A Pictorial History of the Movies“ von Deems Taylor. Der erste Film, der einen nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterließ, war King Vidors „Duel in the Sun“ (1946). In dem war er als Vierjähriger ausnahmsweise mit seiner Mutter, die ihn wohl als Vorwand benutzte, um ihn sehen zu können, denn dieser Western wurde von der Kirche entschieden verurteilt. Produzent war David O. Selznick, der damit „Gone with the Wind“ übertreffen wollte. Vidor wurde am Ende als Regisseur von William Dieterle abgelöst, denn es war der Produzent, der seinen Willen durchsetzte.

Scorsese illustriert dies mit einem Ausschnitt aus Vincente Minnellis „The Bad and the Beautiful“ (1952; deutsch: „Stadt der Illusionen“), in dem sich Kirk Douglas als Filmproduzent mit dem Regisseur Ivan Triesault streitet. Er nennt wichtige Filme aus den 1950er Jahren, die Einfluß auf ihn ausübten: „The Searchers“, „The Girl can’t help it“, „East of Eden“, „Blackboard Jungle“, „Bigger than Life“ und „Vertigo“ (jeweils nur Standbilder). Aber er interessierte sich auch für unbekannte Filme: „The naked Kiss“ (1964) von Sam Fuller, „Murder by Contract“ (1958) von Irving Lerner, „The Red House“ (1947) von Delmer Daves oder „The Phenix City Story“ (1955) von Phil Karlson. Er nennt weitere Regisseure, die in Vergessenheit geraten sind: Alan Dwan, Ida Lupino, André de Toth, Joseph H. Lewis. Die Einführung endet mit einem Ausschnitt aus „Sullivan’s Travels“ (1941) von Preston Sturges.

Das erste Kapitel des Films heißt „Das Dilemma des Regisseurs“. Laut Scorsese ist Filmen zwar Teamarbeit; man muß sich einigen. Aber die Vorstellung des Geldgebers, was das Publikum sehen will, ist entscheidend. Das wird durch einen Interviewausschnitt von Gregory Peck bekräftigt. King Vidor mußte bei „Duel in the Sun“ gehen, weil er nicht das lieferte, was Selznick wollte, aber er schaffte es laut Scorsese dennoch, immer „einen Film für die Studios und einen für sich“ zu machen. Aus Vidors Werk nennt er: „Der Champ“, „Stella Dallas“, „Hallelujah“, „Der letzte Alarm“, „Der Mensch der Masse“ und „Die große Parade“. Die großen Studios MGM, Warner, Paramount, RKO und Fox stellten in den 1930er bis 50er Jahren jeweils 50 Filme pro Jahr her. Jedes hatte einen eigenen Stil, was Peck und Billy Wilder näher ausführen.

Manche wie Erich von Stroheim oder Buster Keaton scheiterten am Studiosystem. Andere kamen damit klar: Clarence Brown bei MGM, Henry King bei Fox, Raoul Walsh bei Warner. Michael Curtiz drehte in knapp 30 Jahren 85 Filme für Warner. Vincente Minnelli gab zu, daß er die Reibung, die durch das Korsett des Studios entstand, brauchte, um kreativ zu sein. Frank Capra, Cecil B. DeMille und Alfred Hitchcock überlebten laut Scorsese in Nischen und schafften es, ihren Namen zum Markenzeichen zu machen. Am Ende sagt Capra in einem Interview: „Nur einer soll den Film machen – und das war für mich der Regisseur. Ich konnte Kunst nicht als Komitee akzeptieren.“

Das nächste Kapitel: „Der Regisseur als Geschichtenerzähler“. Laut Scorsese ist ein Hollywoodregisseur nicht daran interessiert, die Wirklichkeit aufzudecken, sondern Fiktionen zu schaffen. Er ist Entertainer. In Genres wurden schon früh die Begrenzungen dieser Geschichten festgelegt, und sie halfen, Filme wie am Fließband produzieren zu können. Mit einem Ausschnitt aus „The Musketeers of Pig Alley“ (1912) wird gezeigt, wie David W. Griffith schon vor dem Ersten Weltkrieg die Grundzüge jedes Genres entwarf. Und dann vergleicht Scorsese zwei Filme von Raoul Walsh, die beinahe dieselbe Geschichte erzählen, einmal als Krimi und einmal als Western: „High Sierra“ (1941) und „Colorado Territory“ (1949).

Der Film steigt nun in die Genres ein und beginnt mit dem Western. Wiederum vergleicht Scorsese, wie mit ähnlichen oder gleichen Handlungsmustern sehr unterschiedliche Aussagen gemacht werden. Zunächst verdeutlicht er die Desillusionierung von John Ford durch Ausschnitte aus „Stagecoach“ (1939), „She Wore a Yellow Ribbon“ (1949) und „The Searchers“ (1956). Ford wechselt von einer simplen Schwarzweiß-Moral zur Feier altmodischer Werte und schließlich zu einem bitteren Blick auf die USA. Drastischer fällt dieser Blick bei Anthony Mann (Szenen aus „The Furies“,1950, und „The naked Spur“ ,1953) und Budd Boetticher aus („The Tall T“, 1957). Arthur Penns Debüt „The Left-handed Gun“ (1958) behandelt nach Ansicht von Scorsese eher die Unruhe der Jugend dieser Zeit als ein Westernthema. Keinerlei Werte sind schließlich bei Clint Eastwoods „Unforgiven“ (1992) übrig. Eastwood sagt am Ende, es sei immer sehr aufregend, wenn man denkt, ein Genre sei alt und verbraucht, und dann ein Film mit einem neuen Standpunkt an die Dinge herangeht.

Mehr dazu morgen.
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