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Alt 31.10.2021, 15:46   #5035  
michidiers
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Sandman Deluxe Band 3 – Zeit des Nebels







von Neil Gaiman, Kelley Jones, Mike Dringenburg und anderen Künstlern


Zu Beginn der vorlegenden, -252- Seiten umfassenden Ausgabe erzählt der Autor Neil Gaiman vier Kurzgeschichten um den Sandman und der Welt der Träume. Vielleicht wollte Gaiman uns damit eine kleine Verschnaufpause gönnen, die wir Leser nach dem vorherigen Werk mit dem Titel „Das Puppenhaus“ und vor der langen Geschichte „Zeit des Nebels“ wohl brauchen. Aber wer gedacht hat, er könne sich entspannt zurücklehnen und die Storys herunterlesen, hat sich geschnitten. Es sind vier feine Kurzgeschichten mit allerlei Bezügen, Hinweisen und Verbindungen zu kulturellen und mythologischen Ereignissen, Personen und Werken.
Die Krönung ist sicher die dritte Story „Ein Sommernachtstraum“ um eine Freilichtaufführung des Schauspieltrosses von William Shakespeare in den Hügeln von Sussex am berühmten „Riesen von Wilmington“.





W.S. hat von keinem geringeren als dem Sandman ein Bühnenstück im Auftrag bekommen, welches er dort mit seiner Truppe einem äußerst ungewöhnlichen Publikum vorspielt.

Neben dieser Geschichte konnte mich auch die Story um einen ideenlosen Schriftsteller, der erst mit einer gefangenen Muse zu Ideenreichtum kommt, überzeugen. Eine dann folgende Katzenstory hatte wegen meiner Antipathie zu diesen Tieren leider keine Chance. Die vierte Geschichte der ehemaligen DC-Superheldin „Elementgirl“, die den Freitod sucht, jedoch nicht finden kann, beginnt hervorragend, konnte mich aber am Schluss nicht so ganz begeistern. Meine Meinung über die Verschiedenheit der Storys und meiner persönlicher Wertung möchte ich mit einem Zitat aus dem "Sommernachtstraum" abschießen:

„Das beste in dieser Art ist nur Schattenspiel,
und das schlechteste ist nichts schlechteres,
wenn die Einbildungskraft nachhilft!“

Es folgt die überlange Geschichte „Zeit des Nebels“, die von vielen als die beste aller Sandmanstorys gesehen wird:

Als Morpheus vor 10.000 Jahren von der schönen afrikanischen Prinzessin Nada abgewiesen wurde, verbannte er sie vor Wut in die Hölle. Als andere Mitglieder aus seiner Familie der Ewigen den Herrscher der Träume auf sein Fehlverhalten aufmerksam machen, tritt er eine Reise in die Hölle zu Luzifer an, um Nada aus ihrem Leiden zu befreien. Doch Luzifer erwartet Morpheus mit einer handfesten Überraschung. Er ist des Herrschens überdrüssig geworden, hat alle Dämonen und verlorene Seelen aus dem Ort der Verdammnis verwiesen, übergibt Morpheus den Schlüssel zur verlassenen Hölle und verschwindet. Alles nur eine Finte des Höllenfürsten?

Neben der sicher nicht uninteressanten Frage: „Was mache ich mit der Hölle, wenn der Teufel sie mir schenkt?“ klärt uns dieser Band auch darüber auf, wer so alles an Gottheiten und mythologischen Gestalten vor den Toren des Traumreiches stehen und Ansprüche an den Besitz der Hölle stellen. Ferner gibt es ein weiteres Problem. Wo sind all die verlorenen Seelen und Dämonen hin? Die ersten Auswirkungen davon spürt dabei ein altehrwürdiges, südenglisches Schulinternat, in dem es plötzlich zu spuken scheint.

Wenn man das liest, merkt man schnell, warum die Serie so beliebt ist. Das liegt an den einzigartigen Stoff, der hier verarbeitet wird. Die Reise durch den Band kratzt an tiefste psychologische Ängste des Lesers, befasst sich mit Mythen und Sagengestalten und behandelt religiöse Fragen. Eine ganze Reihe von Göttern und Gestalten treten auf. Die Charaktere werden dabei ohne Pathos und ohne viel göttliche Würde erzählerisch und zeichnerisch dargestellt. So ist z.B. die Darstellung des bei Marvel so edelmütigen Thor hier eine gänzlich andere. Thor ist hier ein abstoßender und penetranter, hässlicher Widerling, was vielleicht auch als eine kleine DC-Stichelei in Richtung Konkurrenzverlag verstanden werden könnte. Alles in allem ist die Darstellung der vielen Götter mit ihren Macken und Makeln überzeugend gut gelungen und ließ in mir eine gewisse geistige Nähe und Sympathie zu ihnen aufbauen.

Das alles ist eingebettet in einem guten Zusammenspiel von Text und Bild. Alles scheint wohl platziert, unaufdringlich und gleichzeitig bedeutungsschwer. Die Dialoge und Texterklärungen lassen sich wie poetische Gedichte lesen, sie scheinen fast zu schweben, so schön sind sie teilweise zu lesen. Man meint, dass alles ineinander greift und verschmilzt. Ein Lob geht von mit auch an die Übersetzerin Gerlinde Althoff.

Ich gebe zu: Das war viel salbungsvolles Gerede von mir, aber dieser Band hat es wirklich verdient. Dieser dritte Band ist der beste bisher.

Die vorliegende HC Deluxe-Ausgabe umfasst den Inhalt des Paperbacks 3 (Traumland) und 4 (Zeit des Nebels):


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