Thema: Filmklassiker
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Alt 30.10.2022, 06:20   #114  
Peter L. Opmann
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Es wird Zeit, daß ich mich dem Werk von Alfred Hitchcock nähere – dem „Archipel Hitchcock“, wie Hans C. Blumenberg mal formulierte. Lange Zeit war mein Lieblings-Hitchcock „Berüchtigt“, und ich hätte ihn beinahe ausgewählt wegen der eigentümlichen Schurkenrolle von Claude Rains, der mir danach noch öfter als sanfter Bösewicht aufgefallen ist. Aber ich habe doch Zweifel, ob die Liebesgeschichte zwischen Cary Grant und Ingrid Bergman, das Drama mangelnden Vertrauens, nicht inzwischen etwas unzeitgemäß ist. Deshalb habe ich mich für „Die 39 Stufen“ (1935) entschieden, ein früher Suspense-Film von Hitch; manche sagen sogar, er habe mit diesem Film das Genre erfunden.

Vorab möchte ich bemerken, daß es meines Wissens keinen anderen Hollywood-Regisseur gibt, der so wie er zwar geschätzt, aber doch für einen reinen Filmhandwerker ohne höhere Ansprüche gehalten wurde, bis ihn ein paar französische Kinoenthusiasten - allen voran Francois Truffaut – zum Filmkünstler par excellence erhoben. Peter Bogdanovic versuchte ähnliches mit John Ford, John Carpenter mit Howard Hawks, Wim Wenders mit Nicholas Ray und Rainer Werner Faßbinder mit Douglas Sirk, aber daß sich das Image eines Regisseurs in der filminteressierten Öffentlichkeit so sehr änderte, hat es wohl nicht noch einmal gegeben.

Natürlich gibt es viele Hitchcock-Filme, die eine Betrachtung wert wären, aber ich mußte mich für einen entscheiden, und ich finde, sein Schaffen vor seiner Zeit in Hollywood wird etwas unterschätzt und zu wenig beachtet. „Die 39 Stufen“ ist eine ganz seltsame Mischung aus Thriller, Kriminalfilm, Romanze und Komödie, die ihm dann noch einige Male geglückt ist. Kennzeichnend ist auch das Drehbuch, das einige ziemlich unwahrscheinliche Ereignisse aneinanderreiht; es ist aber nicht schlampig geschrieben, sondern die Handlung ist so angelegt, daß immer maximale Spannung entsteht, und man muß als Zuschauer genau aufpassen, was daran unglaubwürdig ist. Hitchcocks bekanntester Film, der dem Rezept von „Die 39 Stufen“ folgt, ist wohl „Der unsichtbare Dritte“, den ich mir auch immer wieder mal mit großem Vergnügen ansehe.

Zur Handlung: Robert Donat lernt eine englische Spionin kennen, die schon bald ermordet wird, ihm aber noch verrät, daß sie gegen eine ausländische Geheimorganisation kämpft, deren Anführer ein Fingerglied fehlt. Donat wird zu Unrecht als Mörder verdächtigt und beschließt, selbst den Spionagering auffliegen zu lassen, auch um seine Unschuld zu beweisen. Er reist per Zug von London nach Schottland, wo er laut der Spionin einen Helfer finden kann. Als die Polizei die Waggons durchsucht, hilft ihm eine geheimnisvolle Schönheit (Madeleine Carroll), die ihn dann auch auf der weiteren Reise begleitet. Er trifft den vermeintlichen Verbündeten, einen honorigen Professor, entdeckt aber eben noch rechtzeitig, daß ihm ein Stück seines kleinen Fingers fehlt, er also der Kopf der Geheimorganisation ist, und kann fliehen.

Er gerät in eine Veranstaltung, wo er irrtümlich für den erwarteten Vortragsredner gehalten wird. Schlagfertig geht er tatsächlich auf die Bühne und gewinnt das Publikum für sich. Da taucht aber Madeleine Carroll mit Polizisten auf, die ihn verhaften. Sie hält ihn inzwischen auch für schuldig. Allerdings sind es keine echten Polizisten, sondern Mitglieder des Spionagerings. Donat und Carroll werden mit Handschellen aneinander gefesselt. Donat kann zwar erneut fliehen, aber er bleibt an Carroll gekettet. Er versucht, ihr klarzumachen, daß er mit der Verschwörung nichts zu tun hat, sondern nur zufällig hineingezogen worden ist. Nach einigen Verwicklungen kann er sie endlich davon überzeugen.

Nun sind Donat und Carroll zurück in London. Sie wissen, daß während einer Veranstaltung Geheimdokumente an den „Professor“ übergeben werden sollen, aber Donat rätselt, wie das vor sich gehen soll. Attraktion des Abends ist ein Gedächtniskünstler, und Donat wird endlich klar, daß der die brisanten Informationen auswendiggelernt hat. Es kommt zum Showdown, bei dem der Gedächtniskünstler erschossen, aber der „Professor“ festgenommen wird. Donat und Carroll sinken einander in die Arme.

Jemandem, der „Die 39 Stufen“ nicht kennt, kann ich nachfühlen, wenn er sagt: Wie soll ein so alter Film heute noch Spannung erzeugen? Doch ich würde sagen, durch die atemlose Abfolge von Bedrohungen, Enttarnungen und Verfolgungen wird dem Zuschauer kaum bewußt, daß er so alt ist. Teilweise ist er im Stil des Film noir gedreht. Natürlich fahren die Leute mit Oldtimern herum und sind nicht ganz zeitgemäß gekleidet (obwohl: Es ist England). Aber ich finde, Hitchcock abstrahiert so sehr von der Kulisse, daß das nicht stört. Die Mischung aus Spannung und Komik, die hervorragend gelungen ist, tut ein Übriges, daß der Film immer wieder seine Wirkung entfaltet.
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