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Alt 04.04.2023, 16:39   #161  
Servalan
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Freaks | The Monster Story | Forbidden Love | Nature's Mistakes (USA 1932, Metro-Goldwyn-Mayer), Drehbuch: Willis Goldbeck und Leon Gordon nach der Kurzgeschichte "Spurs" (1923) von Tod Robbins, Regie: Tod Browning, 64 min, FSK: 16

Bis weit in die Neuzeit reicht die Zeit der Sklaverei, in der Menschen andere Menschen besitzen können; die offizielle Abschaffung ist noch gar nicht so lange her. Deswegen gibt es eine lange Tradition, in der Menschen ausgestellt oder gesammelt werden. Die beginnt bei den Kunst- und Wunderkammern, geht weiter über Ausstellungen bei Jahrmärkten wie der britischen Bartholomew's Fair und reicht bis zu Abteilungen bei Weltausstellungen und kolonialistischen Völkerschauen, die beispielsweise auch von Carl Hagenbeck betrieben wurden. Teilweise haben Betroffene sich selbst für diesen Weg bei Shows entschieden, weil er ihnen zumindest ein eingeschränktes selbstständiges Leben ermöglichte. Diese Freakshows waren auf Jahrmärkten und bei Zirkussen keinesfalls die Hauptattraktion, sondern eher ein Beiwerk, das meist in einer Gasse an der Seite untergebracht war - deshalb wurde der Begriff Sideshow üblich. Ähnlich wie bei der Pornographie spricht der Forscher Robert Bogdan von einem guilty pleasure, einem schambesetzten Vergnügen, das einem peinlich sein kann.

Dieser Filmklassiker ist mit dem Namen seines Regisseurs und Produzenten Tod Browning (1880 - 1962) verbunden, dessen Biographie stark im Showgeschäft der gesellschaftlichen Außenseiter verankert ist. Browning begann seine Karriere im Vaudeville und Zirkus, wo er mal als Ansager arbeitete, mal als Clown unter der Zirkuskuppel. Dort entdeckte ihn der Filmpionier David Wark Griffith und engagierte ihn als Schauspieler bei seinen Stummfilmen. Später war Browning Regieassistent bei Griffith, ab 1917 führte er bei seinen eigenen Filmen Regie. Zunächst für die Universal Studios, dann für Metro-Goldwyn-Mayer drehte Browning außer Melodramen häufig Horrorfilme; 1931 führt er bei Dracula Regie, dem ersten Tonfilm des Genres.
Freaks wird künstlerisch sein Opus Magnum und ist heute der Film, der am stärksten mit seinem Namen assoziiert wird. Danach drehte Browning zwar noch bis 1939 vier weitere Filme, aber de facto beendete das verheerende Ergebnis an der Kinokasse seine Karriere. Die ursprüngliche Laufzeit des Films in den Previews war 90 Minuten, doch aus denen rannte das Publikum raus oder bekundete seinen Unwillen, weshalb die Produzenten den Film rabiat um eine knappe halbe Stunde kürzten und ein alternatives, versöhnlicheres Ende anbrachten. Bei seinem ersten Start verschwand der Film rasch in der Versenkung, in Großbritannien war bis in die 1960er seine Aufführung verboten; erst in den 1960ern wurde er in europäischen Programmkinos wiederentdeckt, baute sich einen Ruf als Kultfilm auf und gelangte dann auch in den USA in die Mitternachtsvorstellungen.

An dem Film zeigt sich die Ambivalenz des Themas. Browning produzierte den Film und hatte gegenüber den Sideshowdarstellern keine Vorurteile oder Berührungsängste, während es Berichte gibt, daß diese von anderen Darstellern oder der Crew hinter der Kamera geschnitten wurden. Ein starkes Signal der bestehenden Diskriminierung sind zeitgenössische Plakate, auf denen die Namen der Sideshowdarsteller komplett ignoriert wurden. Obwohl der Film selbst Sympathien für die Freaks aufbaut, bleibt er kontrovers, was sich in den neuen Titeln des Re-Release in den 1960ern spiegelt.
Trotz CGI, Motion Capture und den Diversity Richtlinien gibt es bis heute kein Remake, so daß Freaks filmhistorisch ein Solitär bleibt, der keineswegs an Relevanz eingebüßt hat. Insofern transzendiert er über seine Schockeffekte hinaus das Horrorgenre und dokumentiert die Bedingungen des Menschseins an sich.
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