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Alt 30.09.2021, 13:45   #48  
pteroman
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Zitat von Uhrviech Beitrag anzeigen
Ich habe diese Themen früher sehr gemocht und war 1973 sehr beeindruckt von Dänikens Film "Erinnerungen an die Zukunft", der allerdings im Potsdamer Thalia nach wenigen Tagen Spielzeit abgesetzt wurde.
Mit wachsendem Geschichtsinteresse und -Bewusstsein konnte ich aber bald nur noch darüber schmunzeln und die Flut der pseudowissenschaftlichen Bücher und TV-Dokumentationen in der Nachwendezeit führten dazu, dass ich bald komplett für diese "Erkenntnisse" dicht machte und eher an populärwissenschaftlichen Büchern von Hawkins & Co. interessiert war. Also von der irdischen Geschichte weg - hin zur kosmologischen ...

So sind die beiden erwähnten Arbeiten von Illig für mich bislang nicht mehr als Buchtitel gewesen. Na mal sehen, vielleicht raffe ich mich ja doch noch mal auf mir ein eigenes Urteil zu bilden - vor allem nach dem ich bei amazon.de diese Rezi von M. Thomaschuetz gelesen habe:

Illig ist längst widerlegt
Rezension aus Deutschland vom 5. August 2007
Heribert Illig stellt sich mit diesem neuen Machwerk wieder einmal in eine lange Reihe von Pseudo- und Parawissenschaftlern und wird vom wohlwollenden Amazon-Rezensenten Detsch nicht umsonst an anderer Stelle als der "neue Däniken" bezeichnet. Warum bleibt die Wissenschaft dann die Antworten schuldig (Zitat Rezensent Sarge weiter unten), ist etwa die "Widerlegung schwierig"? (Zitat Rezensent O. Weber)

Dass sich Historiker nicht mit Illigs Thesen beschäftigen wollen, liegt nicht daran, dass sie ihnen unangenehm und besonders schwierig wären oder dass das Standesdünkel sie davon abhielte, sich mit "Außenseitertheorien" zu beschäftigen, sondern daran, dass Illig eben wissenschaftlich nicht exakt arbeitet und sich damit selbst außerhalb der wissenschaftlich fundierten Diskussion stellt. Das Pro-Illig-Argument "Wenn Illig so leicht zu widerlegen ist, dann soll man es doch machen" schlägt nicht, denn selbst eine wissenschaftlich "einfache", aber doch exakte und somit von Illig nicht sofort wieder angreifbare Argumentation erfordert viel Arbeit und Zeitaufwand, die sich verständlicherweise kaum ein Historiker antut, da damit ja für die Wissenschaft und somit die akademische Reputation nichts zu gewinnen ist. Wenn man jede unwissenschaftliche (und Illig arbeitet eben methodisch unsauber und somit unwissenschaftlich) Meinung widerlegen möchte, kann man die eigene historische Forschung ad acta legen.

Dankenswerterweise haben sich doch einige Historiker die Mühe gemacht, Illig innerhalb der eigenen Wissenschaft zu widerlegen (hierzu gibt's im Internet einiges zu finden, weiters weisen andere Rezensenten darauf hin). Diese Argumente zählen aber natürlich für Vertreter Illigscher Thesen nichts, da Widerlegungen aus der historischen Wissenschaftsgemeinschaft mit den üblichen Verschwörungstheorien der Parawissenschaftler abgetan werden, was Illig immun gegen historische Kritik macht.

Daher ist es schön, dass man Illig auch naturwissenschaftlich widerlegen kann:

1. Die Dendrochronologie (Altersbestimmung durch Zählung der Jahresringe von Bäumen) belegt die klassische Geschichtsschreibung

2. Ebenso die C14-Methode der Altersbestimmung (die allerdings von der Genauigkeit ihrer Kalibrierung durch zweifelsfrei einordenbare historische Fundstücke abhängig ist, was ja für Illigs Anhänger auf Grund der weltumspannenden "Verschwörung" der Mediävisten nicht möglich ist...)

3. die Astronomie: Eines von Illigs Hauptargumenten ist ja die scheinbar widersprüchliche Gregorianische Kalenderreform. Dieses bricht bei näherer astronomischer Betrachtung in sich zusammen. Überhaupt bilden die genaue Zuordnungen astronomischer Ereignisse (und zwar weltweit, nicht nur in Europa) zu historischen Fakten eine exakt eichbare "Astronomische Uhr", die eben keinen Platz lässt für Illigs fehlende 300 Jahre (ausführlich in F. Krojer: "Die Präzision der Präzession. Illigs mittelalterliche Phantomzeit aus astronomischer Sicht." Leider ist dieses Buch bei Amazon nicht erhältlich - da Krojer, interessanterweise ebenfalls ein Amateurwissenschaftler, wissenschaftlich exakt vorgeht, ist sein Buch eben nicht so eingängig lesbar wie Illig und verkauft sich daher wohl nicht so gut...)

4. "Ockham's Razor": Dieses in den Naturwissenschaften angewandte Denkprinzip fordert die Akzeptanz der Theorie zur Erklärung von Fakten, die die geringsten Voraussetzungen erfordert. Hier scheitert Illig kläglich: Damit er Recht hat, braucht es eine ganz Europa umspannende Fälschungsaktion, die, ausgehend von einem oströmischen Kaiser, tausende Eingeweihte erfordert, die lückenlos zusammenarbeiten, ohne dass jemals etwas davon ans Licht kommt (bis Illig natürlich). Nicht schlecht fürs "finstere" Mittelalter. Da wird's doch wohl eine einfachere Erklärung für ein paar architekturgeschichtliche Besonderheiten und geringe Fundzahlen aus der fraglichen Epoche geben, der man dann gemäß Ockhams Rasiermesser den Vorrang geben sollte.

Trotzdem werden sich Illigs Bücher weiterhin gut verkaufen, steht er doch in einer Reihe mit den in unserer wissenschaftskritischen Zeit von vielen herbeigesehnten Verkündern eines Paradigemwechsels in der Medizin, Physik, Biologie, Psychologie und nun also auch der Geschichtswissenschaft...
Wie gesagt, ich bin kein Fachmann und lass mich nicht auch nicht als Apologet der Thesen Illigs vereinnahmen. Seine Kalenderkritik (der eigentliche Auslöser) ist wohl mit anderen Thesen zu kontern. Hab ich auch gelesen. Andererseits weiß man auch, dass der Wissenschaftsbetrieb in Teilen großes Beharrungsvermögen aufweist. Da sind "Umstürzler" die genuinen Widersacher der Bewahrer der reinen Lehre. Kennt man.

Dass es allerdings bei der Dendrologie im besagten Zeitraum große Lücken gibt, ist ein Fakt. Man zog zum Lückenfüllen einfach halbwegs passende Jahresringmuster übereinander, nicht passende (aus Illigs Sicht nicht passen könnende) Belege wurden als nicht datierbar bezeichnet.

Die C14-Methode ist zudem auf solch "nahe" historische Funde aufgrund ihrer Ungenauigkeit eh schwer anwendbar. Bei einem 1000jährigen Dokument zu ungenau. Die hilft uns eher bei Neanterthalern oder Pterodaktylen. Und die bereits (nach Illig falsch) eingeordneten Dokumente bzw. Fundstücke dienen dann als Referenz für weitere, die dann zwangläufig auch "falsch" eingeordnet werden (= Zirkelreferenz). Das gleiche soll mit der ägyptischen Geschichtsschreibung geschehen sein. Kann ich nicht beurteilen.

Im Übrigen hat Illig diverse (angebl.) karolingische Dokumente überprüft und zig Fälschungen herausgefiltert, was auch von seinen Gegnern anerkannt wurde. Damit wurde die ursprüngliche Referenzdatenlage immer dünner.

Zu Ockham's Razorblade ist alles gesagt. Dass es als wissenschaftliche Methode gelten soll, war mir neu. Ist nur eine Denkhilfe für logische denken Wollende. Man kann es allerdings auch für Illig verwenden, auch ohne Rabulistik.
Und dass es für eine mittelalterliche Täuschung Tausender Eingeweihter in ganz Europa bedurft hätte, ist eine Legende seiner Gegner. Es geht im wesentlichen um Schenkungen und Privilegien, die sich eine kleine Gruppe um das Jahr 1000 durch gefälschte Dokumente im Nachhinein selbst zugemessen hat. Sobald die Fälscher tot waren, wurden diese "Dokumente" geschichtlich anerkannte Artefakte.

Aber ich höre jetzt auf, Illig hin, Illig her, in meinen Augen hat er mit VT nix zu tun, eher mit frischem Wind in einigen Forschungsrichtungen, in denen ja schließlich sonst auch mit jedem neuen Fund neue Erkenntnisse gewonnen werden. Soll sich jeder selbst ein Bild machen.
Ich bin einfach der Meinung, dass in der Mediävistik noch nicht alles so gut erforscht ist, wie man es dann komprimiert in den Geschichtsbüchern lesen kann. Und wenn dann jemand wie H. I. (im übrigen selbst Akademiker) den Betrieb mal ein bisschen durchlüftet, kann das nicht schaden ...
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